1 Probe im Winter. Ein Protokoll. Handlungsort: Audimax der Universität Regensburg, PT-Cafete der Universität Regensburg Zeit: Gegenwart, irgendwann im Wintersemester 2015/2016 Dramatis personae: Der Dirigent – Universitätsmusikdirektor Graham Buckland, kurz UMD Der Konzertmeister – Peter Davidoff Die Studentischen Hilfskräfte des Orchesters, kurz SHKs – Orchestermägde Johanna Glücklich, Frida Lobbecks, Orchesterknecht Hänsel Horn, allesamt zuständig für Probenaufbau und Notenmaterial Die Hörner – Ein redseliger Haufen, darunter Johanna Glücklich und Hänsel Horn Die Flöten – Vier grazile, stilbewusste Damen Die Bässe – Eine muntere Herrenrunde mit Quotendame, Altersschnitt Ü40, darunter der dienstälteste Bassknecht Stefan Limbach Allerhand Streicher 17.45 Uhr, PT-Cafete der Universität Regensburg Die studentischen Hilfskräfte, von Mitmusikern auch liebevoll als Orchesterknechte und Orchestermägde bezeichnet, treffen sich in der PT-Cafete. Glühwein fließt. 18.00 Uhr Der Ruf zum allmählichen Aufbruch wird laut. Da gesellen sich zwei ehemalige SHKs - ein Horn älteren Semesters und eine Bratsche älteren Aussehens – hinzu. Ein wenig mehr Glühwein fließt. 18.15 Uhr Gemächlich erhebt sich die muntere Runde. Man tritt den Weg zum Audimax an. Glühwein wird mitgenommen. 2 18.30 Uhr, Audimax der Universität Regensburg Erste Bemühungen um den Bühnenaufbau. Die Mägde wuseln. Orchesterknecht Hänsel Horn strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. 18.35 Uhr Zwei Flöten betreten anmutigen Schrittes das Audimax und nehmen ihre angestammten Plätze in den Zuschauerrängen ein. 18.42 Uhr Die Arbeiten nehmen Fahrt auf. Podeste, Stühle, Notenständer werden auf die Bühne getragen. Das Flötenregister ist nun vollständig und demonstriert seine uneingeschränkte Solidarität und Anteilnahme mit den SHKs durch anerkennendes Lächeln und huldvolles Winken aus den Publikumsreihen. 18.50 Uhr Ein Großteil des Orchesters findet sich ein. Nasale Kratzgeräusche der Streicher, fröhliches Gicksen und Quietschen der Bläser. Der UMD betritt den Saal. 19.00 Uhr Die Probe sollte nun beginnen. Ein Rudel Hörner steht am Bühnenrand und diskutiert im legeren Plauderton über die Stimmverteilung im Register. 19.10 Uhr Der UMD nimmt seine Position ein und hebt den Taktstock. Das Rudel der Hörner beratschlagt noch immer. 19.15 Uhr Die Hörner sind sich in einem Punkt einig geworden: Niemand möchte sich auf die Position des ersten Horns vordrängen. Wahllos, in einer Umkehrung des Reise-nach-Jerusalem-Prinzips, nimmt jeder einen Platz ein, sobald die Musik erklingt. 3 19.20 Uhr Die Probe gewinnt endlich an Fahrt. 19.30 Uhr Der UMD bemerkt, dass sein Schlüssel fehlt. 19.31 Uhr Der UMD steht kurz davor, die Bundespolizei und den KGB zu alarmieren. 19.32 Uhr Entwarnung. Der Schlüssel konnte ausfindig gemacht werden. 19.40 Uhr Eine erste Geige unbekannter Identität platzt mit Verspätung in die Probe und verlangt nach Noten. 19.41 Uhr Auch das dritte Bratschenpult bemerkt plötzlich lautstark, dass ihm Notenmaterial fehlt. Magd Johanna blickt erstmals in der Probe von ihrem Smartphone auf. 19.46 Uhr Hänsel Horn bemerkt, dass ja soeben nach Noten gerufen wurde. 19.48 Uhr Ein leises, doch crescendierendes Schnarchgeräusch ist aus der Ecke der Posaune zu vernehmen. Derzeit keine Verwendung für das tiefe Blech. 19.55 Uhr Unruhe macht sich zwischen Bass- und Hornregister breit. Getuschel und Gemurmel. Freundschaftliche Diffamierungen und Witzeleien über geriatrische Gebrechen werden ausgetauscht. 4 20.02 Uhr Frida Lobbecks sprintet im Hoppelschritt über die Bühne. Schon wieder wurde nach Notenmaterial verlangt. 20.05 Uhr Die Flöten debattieren über modische Belange. 20.10 Uhr PAUSE. Traditioneller Gang zur PT-Cafete. Pflege intraorchestraler sozialer Kontakte. In der Gerüchteküche wird kräftig gerührt. 20.21 Uhr Die zweite Probenhälfte beginnt. 20.29 Uhr Die ersten Nachrichten in der Orchester-Whatsapp-Gruppe blinken auf. 20.36 Uhr Cellist Bernd S. teilt dem Hornregister hilfreiche, taktische Anmerkungen zum weiteren musikalischen Vorgehen mit. 20.40 Uhr Bassveteran Stefan Limbach verpasst zum erneuten Male seinen Einsatz, da er sich rege an der orchestralen Whatsapp-Kommunikation beteiligt. 20.49 Uhr Zähe Minuten. Musikalischer Unmut macht sich breit. Die Hörner rechnen aus, wie viele Proben noch bis zum Konzert verbleiben. Die Zahl rangiert im nullstelligen Bereich. 21.01 Uhr Der UMD äußert den Wunsch, ab Takt 32 zu beginnen. 5 21.02 Uhr Der UMD bemerkt, dass er eigentlich Takt 23 meinte. 21.03. Uhr Der englische Muttersprachler UMD kündigt an, die deutsche Sprache von Grund auf zu revolutionieren. 12.15 Uhr Eine zweite Geige verlässt den Raum. Niemand bemerkt es. 21.21 Uhr Der Konzertmeister Peter Davidoff zelebriert mit Nonchalance eine halsbrecherische Solopassage. Nebenbei zwinkert er mit wissender Miene dem Register der tiefen Holzbläser zu. Natürlich ist ihm nicht entgangen, dass die Intonation der Fagotte innerhalb der letzten Sechzehntelnote des vergangenen Taktes um 0.04 Herz gefallen ist. Unbekümmert erwidern die Fagotte das Lächeln. 21.23 Uhr Das dezente, crescendierende Schnarchgeräusch bricht abrupt ab. Die Posaune ist für den vierten Satz geweckt worden. 21.24 Uhr und 2 Sekunden UMD kündigt einen letzten, kompletten Durchlauf des finalen Satzes an. Er winkt mit großer Geste den Einsatz zum Schlussspurt. 21.24 Uhr und 20 Sekunden Die Cellisten hinken heillos hinterher. UMD winkt ab. 21.24 Uhr und 30 Sekunden Letzter Anlauf zum finalen Satz. 21.30 Uhr Erstaunen macht sich breit. Es klingt ja alles plötzlich ziemlich gut. 6 21.39 Uhr Während der Rest des Orchesters nun in einhelliger Harmonie wohlige Schwingungen verströmt, hat auch die Oboe nach langen Erwägungen endlich das richtige Blatt für den weiteren Verlauf der Probe gefunden. 21.40 Uhr Ende der Probe. 21.41-21.50 Uhr Bühnenabbau. Angeregtes Geplauder. Mit Erstaunen wird festgestellt, dass die Probe doch überraschend effektiv war. Mit dem wohligen Gefühl der arbeitsamen Erschöpfung bewegt sich der harte Kern des Orchesters in Richtung Stammtischlokal. Anmerkung der Protokollantin: Ähnlichkeiten mit konkreten, realen Personen sind selbstverständlich rein zufälliger Natur. Oder wurden durch namentliche Änderungen und sorgfältige Anonymisierung unkenntlich gemacht. Oder wurden auch einfach gewollt so dargestellt. Zudem kann dieser Text Spuren von Ironie und Elemente hyperbolischer Überspitzung enthalten.
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