Sozialistisches Straßentheater. Berlin (West) Wirtschaftskonjunktur 1968/69 Mitarbeiter Hans Christoph Buch (Schriftsteller), Dieter Esche (Schauspieler), Sigrid Landgrebe (Schauspielerin), Andrea Loebell (Medizinalassistentin), Lila Marakas (Studentin), Olaf Munzberg (Gerichtsreferendar und Student), Ingrid Oppermann (Schauspielerin), Stefan Ostertag (Schauspieler), Heide Otto (Lehrerin), Hermann Pfütze (Student), Robert Reilly (Schauspieler und Sozialarbeiter), Claudia Schilinski (Schau Spielerin), Barbara Schneider (Schauspielerin), Michael Schneider (Student, z.Z. Fließbandarbeiter), Christine Theissen (Hausfrau), Jutta Treichel (Töpferin) Die Szene stellt ein Karussell dar. In der Mitte der Bühne, auf einem Stuhl, der Staat, er steht mit einem Fuß auf dem Rücken des Arbeiters, der vor dem Stuhl kniet. Im Kreis um diese beiden der Ami, zwei Unternehmer, die Gewerkschaften und die Parteien (jeweils ein Darsteller). Links an der Rampe sitzend der Chor, hinter dem Chor stehend der Agitator. Im Hintergrund der Bühne ist eine Vergrößerung eines bekannten Photos zu sehen, das die Erschießung eines Vietkong durch den Chef der Saigoner Polizei zeigt. - Sobald der Agitator zu sprechen beginnt, dreht sich das Karussell. Der Arbeiter führt pantomimisch Kurbelbewegungen aus. AGITATOR Hier zeigen wir Euch das Karussell der Wirtschaftskonjunktur, die die Richtlinien der großen Politik bestimmt. 1945 war es kaputt, doch mit amerikanischem Öl wurde es wieder angekurbelt. Inzwischen läuft es, wie Ihr seht, auf Hochtouren. Alle laufen mit: voran die amerikanischen Konzernbosse, denen ein Drittel aller Anlagen in der Bundesrepublik gehört, gleich dahinter die alten Nazis und die neuen Profithengste, die bestens zusammenarbeiten; es folgen die Gewerkschaften, die im Wohlstandswirbel der 50er Jahre ihre letzten Vorbehalte gegen die Profitjäger über Bord geworfen haben; und natürlich auch die Sozialdemokraten, die schon vor einem halben Jahrhundert aufgehört haben, Sand im Getriebe des Kapitals zu sein. Die Achse des Karussells ist, wie Ihr seht, der deutsche Arbeiter. Er hält es in Gang - die anderen bestimmen das Tempo. Er sorgt dafür, daß das Karussell funktioniert - die anderen sorgen dafür, daß er funktioniert. Mit ihm geht es rasant - ohne ihn steht es still. Das Karussell stoppt für einen Moment; wenn es sich wieder dreht, werden Wohlstandsparolen ausgerufen. Das Vergnügen ist groß, der Wohlstandswirbel scheint kein Ende zu nehmen. Doch Anfang der 60er Jahre beginnt das Karussell zu stocken. Das Karussell verlangsamt sich und bleibt schließlich stehen. 1. UNTERNEHMER Verflucht, unsere Zuwachsraten gehen von 8% auf 4% zurück. 2. UNTERNEHMER Verflucht, wir bleiben auf unserer Kohle 1. UNTERNEHMER Verflucht, wir bleiben auf unseren Autos 2. UNTERNEHMER Verflucht, wir bleiben auf unseren Textilien beide zusammen; sitzen! Alle im Karussell Mitlaufenden gehen in die Knie. AGITATOR Die Absatzkrise! - Seht, wie den Unternehmern das Lachen vergeht. Seht, wie ihnen die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft über den Kopf wachsen: sie produzieren einfach ins Blaue hinein, für einen unbekannten Markt, ohne daß wir, die Käufer, nach unseren Bedürfnissen überhaupt gefragt werden. Sie produzieren nur, was ihnen den Höchstprofit abwirft, egal, ob es uns, den Verbrauchern, nützt oder nicht. Sie halten die Löhne so niedrig wie möglich und bewirken gerade damit, daß zuwenig gekauft wird. Sie wälzen ihre erhöhten Lohnkosten skrupellos auf die Preise ab und bewirken gerade damit, daß sie auf ihren Produkten sitzen bleiben. So reiten sie uns periodisch in die Krise hinein, die vor allem die Arbeiter wieder ausbaden müssen. Sie setzen den Arbeiter so lange an die Maschine, bis der Absatz stockt und er entlassen wird. Sie investieren so wenig in seine Bildung und Ausbildung, daß er nach seiner Entlassung in keinem anderen Beruf mehr arbeiten kann. Sie schreien nach besseren Fachkräften und setzen gleichzeitig Hunderttausende auf die Straße. DIE BEIDEN UNTERNEHMER treten aus dem Kreis heraus, gehen zur Rampe: Hauptsache, Profite! Was kümmert uns die Bildungslücke! Hauptsache, wir profitieren! Wir haben nichts zu verlieren! GEWERKSCHAFTLER geht ebenfalls zur Rampe, stellt sich zwischen die beiden Unternehmer, Empört: Halt, halt! Ich protestiere! Im Namen der Gewerkschaft, ich protestiere! 1. UNTERNEHMER Aber, aber, lieber Tarifpartner! Nicht so stürmisch! Er streicht dem Gewerkschaftler beschwichtigend über's Haar. 2. UNTERNEHMER In der Krise heißt es fest zusammenhalten! Klopft dem Gewerkschaftler auf die Schulter. GEWERKSCHAFTLER verlegen: Aber ich muß doch mein Gesicht wahren. Sonst verliere ich womöglich die Kontrolle über die Arbeiterschaft. AGITATOR Die »konzertierte Aktion«! 1. UNTERNEHMER Lieber Tarifpartner, die Krise überwinden wir nur, wenn einer sich auf den anderen verlassen kann. 2. UNTERNEHMER Aus der Talsohle kommen wir nur heraus, wenn wir uns zu einer gemeinsamen, zu einer »konzertierten Aktion« entschließen. Die beiden Unternehmer reichen sich die Hände. 1. UNTERNEHMER Das bedeutet erstens, lieber Tarifpartner, daß wir uns in akuten politischen Fragen - und da haben wir vor allem die entlassenen oder von Entlassung bedrohten Arbeiter im Auge - eine gewisse Zurückhaltung auferlegen. Er bindet dem Gewerkschaftler einen Maulkorb um. 2. UNTERNEHMER Das bedeutet zweitens, lieber Tarifpartner, daß wir die Löhne im Zaum halten, um eine »stabilitätswidrige Lohnentwicklung« von vornherein zu unterbinden. Er nimmt die Gewerkschaft an die Leine, die mit dem Schild »Lohnleitlinie« versehen ist; die Gewerkschaft kriecht mittlerweile auf allen vieren, zerrt anfangs noch ein bißchen, läßt aber bald nach. 1. UNTERNEHMER Einverstanden? Na komm, gib Pfötchen! Wenn du schön brav bist, gibt es bald wieder eine kleine Lohnerhöhung. Die Gewerkschaft gibt Pfötchen und wird von den beiden Unternehmern gestreichelt. AGITATOR während das Bild erstarrt: »Konzertierte Aktion« heißt: daß die Lohnforderungen der Arbeiter sich nur noch Im Rahmen des Finanz- und Investitionsplans der Unternehmer bewegen dürfen. »Konzertierte Aktion« heißt: daß die Gewerkschaften selbst die Hand dafür ins Feuer legen, daß die Unternehmer langfristig sichere Profite einstreichen. »Konzertierte Aktion« heißt: daß die Unternehmer die paar lumpigen Prozent Lohnerhöhung, mit denen sie die Arbeiter abspeisen, nun mit Zustimmung der Gewerkschaft auf die Preise abwälzen. »Konzertierte Aktion« heißt: daß die Protestaktionen der Arbeiter gegen einen einmal angekündigten Entlassungsplan, z.B. gegen die Stillegung der Zechen an der Ruhr oder gegen die Verlagerung der AEG-Turbine aus Westberlin, konzertiert, d.h. von Gewerkschaft und Unternehmern gemeinsam abgewiegelt werden. »Konzertierte Aktion« heißt: daß der sogenannte Sozialpartner zum Schoßhündchen des Kapitals heruntergekommen ist. CHOR Soziale Partnerschaft, gesellschaftliche Harmonie, von Euren Bossen bekommt Ihr das nie! Sie verlagern die Betriebe nach ihrem Belieben, der Entlassungsplan wird von ihnen geschrieben. Befreit Euch von diesem Gängelband! Nehmt die Betriebe selbst in die Hand! AGITATOR Die »mittelfristige Finanzplanung«! Das Karussell dreht sich wieder; die beiden Unternehmer und der Gewerkschaftler reihen sich ein. STAAT marktschreierisch: Subvention, Subvention, Subvention! Zu den Unternehmern. Auf unsere Finanzpläne könnt Ihr Euch verlassen! Das Karussell steht still; die Unternehmer drängen sich an den Staat. Der Steuerzahler, er klopft dem vor ihm knienden Arbeiter auf den Rücken. Besonders der Kleinverdiener, der Kleinverbraucher und der Kleinsparer müssen eben mal ein Opfer bringen. Unternehmer klatschen Beifall. Dem bürden wir die Tabaksteuer, die Mineralölsteuer, die Getränkesteuer und die Mehrwertsteuer auf. Beifall. Dem ziehen wir immer höhere Sozialversicherungsgebühren aus der Tasche. Er zieht dem Arbeiter Geldscheine aus der Tasche. Dem streichen wir die Rente, das Kindergeld, die Kriegsopfer- und Mutterschaftsbeihilfe. Dem knöpfen wir ab, was ihr zum Investieren braucht. Den schröpfen wir so lange, bis ihr euch saniert habt. Beifall. CHOR Seht, wie die Herren uns verschachern, das ist das alte Lied: nichts als Profitemachen, egal, was dann geschieht. Ihr Profit in Gefahr, der Staat zahlt in bar. Die Subventionen fließen, wir müssen's büßen! AGITATOR während das Karussell sich wieder dreht: Begreift den Schwindel der großen Koalition: auf dem Rücken der Lohnabhängigen hat sie die Konjunktur wieder angekurbelt. Seit 1967 stiegen die Unternehmereinkommen doppelt so schnell wie die Löhne, stieg die Lohnsteuer um das 15fache gegenüber der Einkommensteuer. Das nennt die Regierung: »Soziale Symmetrie«! Das Karussell steht still. DIE BEIDEN UNTERNEHMER Subvention! Subvention! Subvention! Unser Geschäft mit der Bonner Koalition! 1. UNTERNEHMER Die Kohle von den Amis ist zwar billiger ... 2. UNTERNEHMER das Öl ist rentabler . . . 1.UNTERNEHMER aber solange mich der Staat subventioniert . . . 2. UNTERNEHMER wirft selbst die Ruhrkohle noch was ab für mich. STAAT Während das Karussell sich wieder dreht. Eine Hand wäscht die andere! Wo es kriselt, da steige ich ein, damit Ihr nicht aussteigt! Wenn Ihr alle da, wo es kriselt, den Laden dicht macht, haben wir Chaos! Wenn Ihr gleich alle unrentablen Zechen schließt, werden wir mit den Arbeitslosen nicht mehr fertig! Das Ruhrgebiet ist ein heißes Pflaster! Das Karussell stoppt. STAAT UND UNTERNEHMER Subvention! Subvention! Subvention! Wendung zum Publikum, mit Abwehrgeste. Bloß keine Revolution! AGITATOR Der staatliche Rüstungs- und Verteidigungshaushalt! STAAT während alle im Karussell Mitlaufenden sich an den Händen fassen und immer schneller laufen. Rüstungsaufträge! Rüstungsaufträge! Ich verschaffe Euch fette Rüstungsaufträge. Wir und unsere Bundeswehr-Generäle brauchen noch mehr Panzer und Bomben. Flick, Thyssen, Krupp, Henschel - wo seid Ihr? Das Karussell stoppt. Der Ami und die beiden Unternehmer stellen sich rechts vom Staat auf, die Parteien und die Gewerkschaften links. BEIDE UNTERNEHMER Während die Parteien und die Gewerkschaften sich die Ohren zuhalten. Hier! Hier! 1. UNTERNEHMER Auch wir sitzen dick im Vietnam-Geschäft: wir liefern Bomben, chemische und biologische Waffen für 600 Millionen Mark an unsere amerikanischen Freunde. Die Unternehmer und der Ami schießen mit Maschinenpistolen auf das Vietkong-Photo im Hintergrund; die Parteien und die Gewerkschaften halten sich die Augen zu. STAAT Wir und unsere griechischen Freunde, die Obristen, brauchen noch mehr U-Boote und Raketen. Howaldt, Messerschmitt-Bölkow-Blohm - wo seid Ihr? BEIDE UNTERNEHMER Hier! Hier! Parteien und Gewerkschaften halten sich die Ohren zu. 2. UNTERNEHMER Die griechische Militärdiktatur ist einer unserer besten Kunden. Wir bauen für Pattakos U-Boote. Wir möbeln für ihn die alten Schiffe der Bundesmarine wieder auf. Wir verhandeln mit Pattakos über den Bau von Schiffsraketen. Unternehmer und Ami schießen erneut auf das Photo; Parteien und Gewerkschaften halten sich wieder die Augen zu. STAAT Während er den Unternehmern Geldscheine gibt. Greift zu, greift zu! Ein Drittel des Staatshaushaltes werfe ich Euch in den Rachen. Dazu 4 Milliarden jährlich für den Aufund Ausbau der Notstandsmaschinerie. Dazu 2,5 Milliarden für die sogenannte Verteidigungsforschung. Greift zu, solange ich noch zahlen kann! Denn schon stecke ich bis über beide Ohren in Schulden. BEIDE UNTERNEHMER Gehen zur Rampe. Panzer, Bomben und Raketenbasen heizen an die Konjunktur. Staatshaushalte abzugrasen, das ist unsere beste Kur. AGITATOR Während die beiden Unternehmer auf der Stelle marschieren. Im staatlichen Rüstungs- und Verteidigungshaushalt haben unsere Herren Kapitalisten den idealen Esel gefunden, der so viele DM scheißt, wie es Steuerzahler gibt. Der Staat allerdings kann die Milliardenausgaben für Rüstung und den Aufbau der Notstandsmaschinerie aus Steuereinnahmen allein nicht mehr decken. Ein Haushaltsdefizit jagt das andere. Der Staat ist auf Jahre hinaus verschuldet. Die Staatsschulden aber werden durch inflationistische Preiserhöhungen der Arbeiterklasse aufgebürdet. Das nennt die Bonner Regierung »Finanzausgleich«. Ich frage Euch: wer hat da wen finanziert? CHOR Inflation! Inflation! Inflation! Unser Preis für die Bonner Koalition!
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