14 Bergedorf DONNERSTAG 27. AUGUST 2015 „Zwölf kleine Worte“ ASTROART-LITERATURWETTBEWERB Autor Marc Anton Jahn belegt Platz 2 – Sonnabend lesen alle fünf Preisträger im Schloss Wir Deutschen werden immer mehr zu Einzelgängern, sprechen viel zu wenig miteinander. Könnte das vielleicht daran liegen, dass eine geheime Macht uns daran hindert? Vielleicht ist unser Redekontingent in Wirklichkeit sogar rationiert? Diesen Gedanken treibt Marc Anton Jahn in der Kurzgeschichte „Zwölf kleine Worte“ auf die Spitze, macht sich auf die Suche nach jener verborgenen Macht. Sein Werk belegt den zweiten Platz des AstroArt-Literaturwettbewerbs 2015, den der Hauptsponsor Hamburger Volksbank mit insgesamt 1600 Euro dotiert hat. Live vortragen wird Jahn sein Werk am Sonnabend ab 18 Uhr im Schloss. Vorgestellt von der Jury, lesen dann alle fünf Preisträger ihre prämierten Werke im großen Saal. Zudem wird Schloss-Schreiberin Susan Schröder aus Berlin in ihr Amt eingeführt. Der Eintritt ist frei. ls sie den Hörer abnahm, achtete er darauf, nichts zu sagen. Heute war der Dreizehnte, und an ungeraden Tagen war sie dran, etwas zu sagen. Es war dunkel, und er wollte ans Fenster, aber die Telefonschnur war zu kurz. Er stand ein paar Schritte davor und sah die Lichter der vorbeifahrenden Autos durch die Jalousie, die Autos nur, wenn sie in die Straße einbogen. Aber er hörte sie noch eine Weile, als die Lichter längst verschwunden waren. Er presste den Hörer gegen das Ohr, spürte die Tasten auf seiner Wange, kleine kalte Quadrate, und er schaute auf den Gehweg und die Häuser A gegenüber, die krank waren. Ihre weiße Farbe warf Blasen, die aufplatzten, wenn man mit dem Ellbogen dagegenstieß. Er dachte an das eine Mal, als sie gleichzeitig angefangen hatten zu reden. Dass sie ihre Sätze noch mal von vorne beginnen mussten, dachte er, dass die verbliebenen Worte nicht ausreichten, ihr Kontingent nach dem ersten Komma aufgebraucht war und dass sie hätten schweigen müssen. Aber sie hatten weitergeredet. Und er dachte an das Mikrofon über ihm und die Lautsprecherstimme, die sie mit einer Verwarnung davonkommen ließ. Heute ist doch der Dreizehnte, dachte er und versuchte, die kleine elektrische Tafel der Apotheke ein paar Meter weiter die Straße rauf zu erkennen, in der winzige rote Lämpchen leuchteten und das Datum anzeigten, die Uhrzeit und die Temperatur, immer im Wechsel. Er lehnte sich nach vorne, aber die Tafel konnte er nicht erkennen, ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen. * Er wartete. Eine Minute. Zwei, drei. Er starrte auf die Tasten. Die Drei musste er mehrmals drücken, um ihre Nummer zu wählen. Die Ziffer war kaum noch zu erkennen. Hatte sie vergessen, dass heute der Dreizehnte war? Er klopfte mit dem Fingernagel auf den Hörer und zog an der Schnur. Als die Ringel aus der Schnur verschwunden waren und sie immer noch nichts sagte, wusste er, dass sie alle Worte aufgebraucht hatte. Da ANZEIGE GUTSCHEINE STADTFEST BERGEDORF | KINDERMEILE Waffel am Stiel powered by gültig am 29. + 30.08.2015 auf der Kindermeile für 1,00 statt 2,00 Kuhmelken powered by gültig am 29. + 30.08.2015 auf der Kindermeile für 1,00 statt 2,00 Kinder Karussell für 1,00 € statt 2,00€ powered by gültig am 29. + 30.08.2015 auf der Kindermeile wollte er ihr sagen, dass er sich alle aufgehoben hatte, für sie. Dass er seinen Job verloren hatte, wollte er ihr sagen, aber er sagte nichts. Lauschte leise dem Atmen am anderen Ende der Leitung, und er war sich sicher, dass sie mitzählen würde, sobald er anfing zu reden. * Du bist, hatte seine Chefin gesagt und gefeuert nur noch auf eine Tafel kritzeln können, die sie an einer Kette um den Hals trug. Sie war so sauer, sie hätte fast vergessen, dass sie für heute nur noch zwei Wörter übrig hatte. Wenn jeder so eine Einstellung hätte, würde es bald kein Radio mehr geben, schrieb sie noch. Dann musste er gehen. Das Foto von ihm und seiner Freundin nahm er vom Schreibtisch. Das Notizbuch mit den Nachrichten, in dem sein Satz gelb angemarkert war, und die kleine Lampe, die er gekauft hatte, weil er immer nachts auf Sendung gehen musste, ließ er zurück. Als er an den Arbeitskuben seiner Kollegen vorbeiging, zählte er die Mikrofone, die über jedem einzelnen angebracht waren. Fünfzehn, sechzehn, er zählte siebzehn. Und er fragte sich, ob seine Freundin schon am Schlafen war oder noch vor dem Radio saß und wartete, dass er seinen Teil der Nachrichten aufsagte. Der jeden Tag, außer montags, zwei Drittel seines Kontingents verbrauchte. * Er hatte gar nicht vorgehabt, gefeuert zu werden. Wenige Stunden zuvor hatten sie noch Schere, Stein, Papier gespielt, wer beim Italiener anrufen musste, um Pizza zu bestellen. Der, der den Satz nach ihm hatte, hatte verloren, aber er bestach eine Kollegin, die alleinstehend war, mit fünfzig, nein, sie wolle hundert Euro, schrieb sie auf ein Stück Papier, das sie aus ihrer Hosentasche zog und auseinanderfaltete und auf dem schon andere Sachen standen, die durchgestrichen waren, dafür, dass sie die Pizzas bestelle. Und er hatte gelacht und zugesehen, wie der Kollege die Scheine in ihre Hände zählte. Aber als sein Kontingent um Mitternacht aufgeladen war, eine halbe Stunde, bevor er auf Sendung gehen musste, wollte er es nicht mehr für Nachrichten verschwenden. Er wollte seine Worte aufsparen und seiner Freundin eine Freude machen. * Er hatte sich alles auf einen kleinen Zettel geschrieben, der hinter ihm auf der Kommode lag, auf der auch das Telefon stand. Als er sich umdrehte, fuhr ein Auto vorbei und warf seinen Schatten an die Wand. Da hing das Foto von ihm und seiner Freundin, das auch bei ihr an der Wand hing. Das Foto wirkte klein, weil sie so groß waren darauf. Man konnte den Hintergrund nicht erkennen, und er musste einen Moment nachdenken, wo es aufgenommen worden war. Dann erinnerte er sich und fand, dass auf dem Foto nicht mal ausreichend Platz war, die Arme auszustrecken. Mit dem Finger strich er den Staub vom Rahmen, dann nahm er das Foto heraus und streichelte ihre Wange, als wäre auch Staub darauf. Er starrte den Zettel an, er wollte es Marc Anton Jahn hat es aus Ostwestfalen nach Berlin verschlagen. Der 33-Jährige veröffentlichte bereits verschiedene Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften. Sie trugen ihm eine ganze Reihe von Auszeichnungen ein, darunter das Stipendium des Klagenfurter Literaturkurses und das Hörspielstipendium der Film- und Medienstiftung NRW. Jahn studierte literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut und Drehbuch/Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. ihr ganz besonders schön sagen. Er lauschte ihrem Atem, der immer schneller ging, und er lauschte seinem Atem, der immer schneller ging. Wieder ein Auto, und wieder sah er seinen Schatten an der Wand, der immer größer wurde, je schneller er atmete. Dann sagte er: „Hi“, und dann war es wieder still, bis auf einen kleinen Schrei auf der anderen Seite der Leitung. Oder war es das gewesen? Wolowitz, drei Jahre wegen Wörterüberziehung, die Regierung greift. Das war der Satzteil, den seine Chefin für ihn gelb angemarkert hatte. An Wolowitz’ Vornamen konnte er sich schon nicht mehr erinnern, obwohl er ihn sich angeschaut hatte, während das Licht der kleinen Lampe auf seinem Schreibtisch das Gelb des Textmarkers noch kräftiger zum Leuchten brachte. Und was der Kollege nach ihm sagen musste, wie der Satz weiterging, konnte er nur noch erahnen. Er erinnerte sich aber noch ganz genau an den Satz der Kollegin, die die Pizzas bestellt hatte. Weil sie Überworte machte, um sich etwas dazuzuverdienen. Es war Werbung für einen Kurs an der staatlichen Abendschule: Lernen Sie richtig stottern und machen Sie Ihrer Liebsten eine Freude. * Wenn ein Auto vorbeifuhr, leuchteten die Sommersprossen seiner Freundin auf dem Foto auf wie Taxis, die einen zu ihren Sehenswürdigkeiten brachten, ihrer Nase, den Wangen, das Dekolleté. Hi sagte heute niemand mehr, wo jeder nur zwölf Worte zur Verfügung hatte, zwölf kleine Worte pro Tag. Stattdessen gab man sich wortlos die Hand zur Begrüßung, oder man nickte sich zu, wenn man sich auf der Straße sah. Und wenn man sich nicht sah, klopfte man mit dem Fingernagel auf den Hörer. Im Restaurant zeigte man auf das Gericht in der Karte, und man hatte immer etwas zum Schreiben dabei. Aber Hi sagen war etwas Besonderes, war wie ein unglaublich kostbarer Ohrring, nach dem man ständig griff, um zu sehen, ob er noch da war. * „Bist du noch da“, fragte er, und sie klopfte mit dem Fingernagel auf den Hörer. Da sagte er ein drittel Mal: Ich liebe dich, und schaute an die Decke. Das Mikrofon, der Lautsprecher. Dann klingelte es, aber das war in der Wohnung über ihm. Da wohnte ein alter Mann, den er nicht kannte. Die Schnur war verheddert, er begann sie zu entwirren und hatte Lust, sich von einem vorbeifahrenden Auto blenden zu lassen. Aber er sah keins, und er hörte auch keins. An der Straßenecke war ein kleines Café, in dem er noch nie gewesen war, dessen Namen er nicht kannte und nicht lesen konnte, ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen. Vor dem Café standen Tische und Stühle, die aneinandergekettet waren. * Sechs blieben ihm noch. Manchmal dachten sie sich Wörter aus, die es gar nicht gab, und er dachte an das längste Wort, dass ihr jemals eingefallen war. Dann versuchte er, sich ein noch längeres Wort auszudenken. Aber wie viele er sich auch ausdachte, alle waren kürzer als das längste Wort des Staates. Das Wörterüberwachungsaufgabenübertragungsstrafvollzugsgesetz regelte disziplinarische Maßnahmen wie den chemischen Maulkorb bei wiederholter Wörterüberziehung. „Denke an dich“, sagte er dann und stotterte dabei so viel und so gut er konnte. Damit alles, was er sagte, länger dauerte. Er hörte Regen gegen ein Fenster klopfen, aber das musste bei ihr sein. Und kein Licht, das ihn blenden wollte, als er am Fenster stand. Ein paar Schritte davon entfernt, die Schnur ganz gerade. Das Schluchzen am anderen Ende der Leitung. „Was ist los“, fragte er, obwohl er wusste, was los war. Weil sie alle Wörter aufgebraucht hatte. Und jetzt hatte auch er alle Worte aufgebraucht. Zwölf kleine Worte, und er sagte: „Lass uns zusammenziehen, wenn ich aus dem Knast komme.“ * Dann kam ein schriller Ton aus dem Lautsprecher über ihm, und er hörte nichts mehr, hörte nicht, ob sie Ja sagte, nicht, ob sie aufgelegt hatte. Er ließ den Hörer fallen und hielt sich die Ohren zu, dass es wehtat. Oder war das der Ton? Sekunden später bogen Autos um die Straßenecke und blieben vor seiner Wohnung stehen. Er konnte ihre Motoren nicht hören. Die Lichter, und er sah nichts mehr.
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