Was bringt die Zungen zum Schwingen?

Was bringt die Zungen zum Schwingen?
Alfred Förtsch
9. Februar 2016
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Einleitung
Eine Bluesharp klingt schon, wenn man sanft und ohne
Kraftanstrengung durch das Instrument ein- oder ausatmet.
Aber wie ist es möglich, dass sanftes Anblasen
Metallzungen zum Schwingen bringt und dass sie diesen
Schwingungszustand beibehalten?
Figur 1: Zunge (Ziehzunge D in Kanal #4 einer C-Harp)
Energiebilanz
Ohne Reibung und Luftwiderstand würde eine einmal
angeregte Schwingung bis in alle Ewigkeiten anhalten. In
diesem fiktiven Idealfall wäre überhaupt keine
Energiezufuhr und keine Krafteinwirkung von außen nötig.
Im Inneren einer schwingenden Zunge wechselt ein Großteil
der Energie einfach ihre Erscheinungsform:
Bewegungsenergie (kinetische Energie) verwandelt sich in
Spannenergie und umgekehrt. Nur ein kleiner Teil der
Gesamtenergie wird in Wärme umgewandelt, was sich als
leichte Dämpfung der Schwingung äußert. Um lang
anhaltende Töne zu spielen müssen ausschließlich diese
Energieverluste kompensiert werden. Die Zunge muss also
nicht irgendwie „hin- und hergezogen“ werden, sie schwingt
nahezu von alleine!
Ähnlich verhält es sich, wenn die Zunge anfängt zu
schwingen. Zunächst muss der Spieler wieder
Dämpfungsverluste kompensieren. Damit sich die
Schwingung aber aufschaukeln kann, müssen zusätzlich
während jeder Schwingungsperiode kleine Energieportionen
zugeführt werden. Diese Energiehäppchen werden vom
schwingenden System angespart und ergeben schließlich die
Gesamtenergie der mit voller Amplitude schwingenden
Zunge.
verstärkt und laut spielen will. Im Innneren des Instruments
ist Feedback ein hilfreicher Freund!
Druck und Volumenstrom
Wie kommt diese Rückkopplung zustande? Wer durch das
Instrument ein- oder ausatmet verändert zum einen den
statischen Druck in der Kanzelle, zum anderen wird ein
Luftstrom durch die Spalten zwischen Zungen und
Stimmplatte gepresst. Druck und Luftstrom hängen über eine
Bernoulligleichung miteinander zusammen. Der
Druckunterschied zwischen beiden Zungenseiten wirkt
beschleunigend, wobei der Zusammenhang zwischen
Druckkraft, Reibungskraft und Beschleunigung durch
Newtons Bewegungsgesetz beschrieben wird. Die vom
Druckunterschied manipulierte Zungenbewegung verändert
Form und Größe der Luftspalte zwischen Zunge und
Stimmplatte. Dadurch wird der Volumenstrom (Luftstrom)
beeinflusst, und dieser wiederum wirkt auf den
Druckunterschied zwischen beiden Zungenseiten ein: Der
für eine Rückkopplung erforderliche Kreis hat sich
geschlossen!
Grenzen einfacher, intuitiver Vorstellungen
Gibt es für diesen Feedbackprozess eine einfache, intuitive
Erklärung? Ja und nein, die Antwort hängt davon ab, was
man sich unter „intuitiv“ vorstellt. Spielt man beispielsweise
einen normalen Blaston, so leuchtet es ein, dass sich die zum
Kanzelleninneren hin gebogene Blaszunge zunächst ein
winziges Stück Richtung Stimmplatte bewegt. Dadurch
verengt sich der Schlitz zwischen Zunge und Platte, der
Luftstrom hat mehr Widerstand und der Blasdruck nimmt
zu. Das Ergebnis ist zumindest in den ersten Augenblicken
eine postive Rückkopplung.
Wenn aber – wie gerade stillschweigend unterstellt – die
Wechselwirkung zwischen Druck und Luftschlitz nur von
der Geometrie abhängt, wird die Zunge auf ihrem Rückweg
die selben Kräfte verspüren, die dann allerdings die
Bewegung abbremsen. Über eine Schwingungsperiode
integriert ist der Energieübertrag an die Zunge folglich
gleich Null. Nebenbei bemerkt: Bei Overblows schwingt
praktisch ausschließlich die Ziehzunge. Messungen haben
gezeigt, dass sich die Blaszunge in Richtung
Kanzelleninneres bewegt, wenn dort der Druck ansteigt, was
wiederum gegen jede Intuition geht!
Rückkopplung
Wie kann eine Kraft, die immer von derselben Seite auf die
Zunge einwirkt, eine Hin- und Herbewegung bewirken? Die
Antwort heißt Rückkopplung (Feedback). Rückkopplung
ist der natürliche Feind eines jeden Harpspielers, der
Was die Zunge wirklich fühlt
Ab jetzt betrachten wir (der Einfachheit halber) nur noch
Zungen im eingeschwungenen Zustand. Wie man weiß,
schwingen Bluesharpzungen dann nahezu sinusförmig [4].
Mit Hilfe von etwas Mathematik erlaubt diese Beobachtung
eine vergleichsweise einfache, intuitive Erklärung des
Rückkopplungsvorgangs.
Literatur
Gemessene Druckkurven [4] schauen recht kompliziert aus –
aber eine schwingende Zunge wird sie nicht so sehen wie
wir. Neben einem konstanten Druckanteil, der den
Schwingungsnullpunkt der Zunge leicht verschiebt, fühlt die
Zunge nahezu ausschließlich die erste Harmonische der
Fourierzerlegung der Druckschwankungen. Der Grund
hierfür ist, dass die Zunge modelliert werden kann als
linearer, schwach gedämpfter Einpunktoszillator.
Rückkopplung mit Energieübertrag an die Zunge setzt ein,
wenn die Druckschwankungen eine passende
Phasenverschiebung relativ zur Zungenbewegung haben.
Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten, die jeweils zu
normalen Tönen, zu Bends oder zu Overbends passen.
[2] Ricot, D., Caussé, R., Misdariis, N. : Aerodynamic
excitation and sound production of blown-closed free
reeds without acoustic coupling. The example of the
accordion reed. The Journal of the Acoustical Society
of America 117(4) (2005), 2279-2290
Erklärungen für Phasenverschiebungen
Wie kommen diese Phasenverschiebungen zustande? Für
eine Akkordeonzunge genügt die Trägheit der Luft, um die
oben erwähnte geometrische Symmetrie aufzuheben [1] [2].
Akkordeon und Bluesharp sind eng verwandt: Hält man eine
Bluesharp aus dem Fenster eines fahrenden Autos, so
funktioniert sie wie ein Akkordeon, und dieser
Rückkopplungsprozess sollte sich in Analogie erklären
lassen. Abgesehen davon müssen für die Bluesharp eigene
Erklärungen gefunden werden. Beispielsweise kann man im
Mund des Spielers sehr hohe Druckschwankungen messen,
die wohl auch einen entscheidenden Einfluss auf den
Volumenstrom haben. Außerdem können bei der Bluesharp
beide Zungen in einer Kanzelle gleichzeitig schwingen und
tun es in der Regel auch.
Rückkopplung für Bends und Overbends lässt sich in einem
einfachen Resonatormodell herleiten [3], wobei der Mundund Rachenraum des Spielers den Resonator darstellt. Taugt
dieses Modell auch für normale Blas- und Ziehtöne? Die
Spielerfahrung zeigt, dass sich normale Töne mit nahezu
jeder entspannten Mundstellung spielen lassen. Andernfalls
wäre das Instrument wohl auch unverkäuflich. Ein
entspannter Mund- und Rachenraum zeigt allerdings keine
scharf definierten Resonanzen, so dass das Resonatormodell
ins Leere läuft.
Laurent Millot kann alle auf der Bluesharp vorkommenden
Töne mit einem einzigen System gekoppelter Gleichungen
simulieren [5] [6]. Wenige Gleichungen modellieren den
Weg des Volumenstrom durch Rachen, Mund, Kanzelle und
Luftschlitze hinaus in die Umgebung. Millots Modell
unterscheidet sich grundsätzlich vom erwähnten
Akkordeonmodell (er verwendet nur eine stationäre
Bernoulligleichung ohne Berücksichtigung von
Trägheitseffekten) und vom Resonatormodell (keine lineare
Akustik, keine stehenden Wellen). Stattdessen kommt der
Mund- und Rachenraum über die Massenerhaltung für den
Volumenstrom ins Spiel.
[1] Hilaire, A. O. S., Wilson, T. A., Beavers, G. S.:
Aerodynamic excitation of the harmonium reed. Journal
of Fluid Mechanics 49(04) (1971), 803-816
[3] Johnston, R. B.: Pitch control in harmonica playing.
Acoustics Australia 15(3) (1987), 69-75
[4] Millot, L.: « Etude des instabilités des valves :
Applications à l’harmonica diatonique », thèse de
doctorat, Paris (1999)
[5] Millot, L., Baumann, C.: A proposal for a minimal
model of free reeds. Acta acustica united with acustica
93(1) (2007), 122-144
[6] Millot, L.: Chromatical playing on diatonic harmonica:
from physical modelling to sound synthesis. 162th
meeting of the Acoustical Society of America San
Diego (2011)