Oliver Mörchel Beim Üben des Doppel-Rs Die von Menschen übervollen Gassen, Straßen und Plätze der Stadt erlauben mir, völlig unbemerkt, so beim Schlendern, meine Zunge in der Mundhöhle deutlich hörbar ein wenig flattern zu lassen wie ein Windfähnchen. Auf diese Weise übe ich, aus dem für mich einfacheren Brrrrrrr ein bloßes und reines Gaumen-Rrrrrrrr zu machen, ohne dass es sich nach einem zu deutschen Hals-Rrrrrrrr anhört. Und gerade als mir dieses rassige Rrrrrrrr durch Gaumen und Zunge hindurchflattert, werde ich unversehens an jenes unliebsame Geräusch aus früheren Trainingsstunden erinnert, das nur bei demjenigen entstand, dessen schlittschuhläuferische Fähigkeiten mangelhaft und das Bremsen auf dem Eis holprig war. Meist früher als die anderen im Stadion, hatte ich die Eisfläche still wie einen gefrorenen Dorfteich vorgefunden. Ich hatte in voller Panzerung auf der Gummiauslage vor der verriegelten Bandentür gestanden und durch das Gitter meines Helmes hindurch das spiegelblanke Weiß in schwarz eingerahmten Parzellen gesehen. Bevor du dich auf deine Schlenz- und Schlagschusstechnik konzentrierst, lern eislaufen!, wird der Trainer wieder sagen, hatte ich gedacht. Neben der Tür war bereits jener Behälter postiert worden, in dem die schweren schwarzen Pucks bereitlagen, die nur wenig später durch die Luft schwirrten und anstatt im Tornetz, meist mit einem krachenden Knall in der Bande einschlugen. Bedächtig stehe ich vor der zerklüfteten Außenseite des Kolosseums und schaue durch einen Rundbogen auf die verwitterten Steintribünen im hr2-Literaturpreis, Oliver Mörchel Seite 1 von 5 Innern. Mir ist, als könne ich das von alltäglicher Langeweile geplagte Publikum sehen; ja fast höre ich, wie es oben auf den Rängen wie entfesselt johlt, sodass es unten die wilden Tiere aufpeitscht und die Gladiatoren vor Entsetzen lähmt. Und es jubelt und jauchzt, als endlich, nach Stunden, die Blutrunst verebbt und der Imperator dem ausgezehrten Kämpfer mit einem Handzeichen die Begnadigung gewährt. Das dürfen Sie nicht verpassen, heute Abend, in der Live-Übertragung, aus dem Kolosseum: die Gladiators vs. die Tigers! Sicher hätte das Kolosseum ein großartiges Eishockeystadion abgegeben. Da hebt der Referee die Hand: Spielverweis! Ist das schon die sichere Niederlage der Gladiators? Keine Ahnung, wie ich eigentlich zu diesem barbarischen Sport gekommen bin. Alles fing doch ganz harmlos an bei einer Runde Eislaufen mit der Familie am Sonntagnachmittag. Brrrrrrr. In manche Sachen rutscht man einfach so rein. Wie in eine neue Sprache. Aber lernt man die auch so schnell wie das Schlittschuhlaufen? Wie lange hab ich denn gebraucht, bis ich auf dem Eis in beide Richtungen sicher übersetzen konnte? Tradurre. Das du vor den Rs erleichtert die Betonung ungemein. Es ist sozusagen die Bande, an die sich meine unsichere Zunge etwas anlehnen kann, um sich dann zu jenem Doppel-R abzustoßen, das so unverwechselbar klingt. Eine Bande hilft beim Eislaufenlernen sogar ganz beträchtlich, denn an ihr entlang kann man sich vorsichtig über das noch unvertraute Terrain ziehen. Trarre. In trarre, aber, gibt es nichts, woran sich die Zunge anlehnen oder abstoßen, nichts, woran sie sich entlangziehen könnte. Öffnet sich nämlich der Mund nur für einen klitzekleinen Moment, um das a hervorzubringen, ist es aus mit dem Doppel-R, und trarre klingt wie trare, ein sinnloses Wort. Das a stellt für meine Zunge nun mal eine zu hr2-Literaturpreis, Oliver Mörchel Seite 2 von 5 hohe Hürde dar (Brrrrrrr, Pferdchen, ganz ruhig, ist schon gut!). Wegen trarre hab ich schließlich ein Problem am, oder besser, im Hals, das sich nicht mal durch starkes Nuscheln lösen ließe. Ja, ich befürchte bereits, dass mich jedermann an meinem trarre erkennen können wird wie an einem Kainszeichen! Guardate, il marchio di Caino!, höre ich schon und sehe alle Finger anklagend auf mich gerichtet. Um Gottes Willen, erschlagt mich nicht!, will ich rufen und flehentlich: Ich weiß, un brutto errore, aber ich kann daran arbeiten! Doch was habe ich nicht schon geübt und geschnalzt, um nur wenigstens das Einfach-R aus meinem Hals an den Gaumen hochzuwürgen (Tre tigri contro tre tigri!). Etwas aus der Ferne betrachtet, vom Palatinhügel aus, wirkt jetzt das Kolosseum wie ein gigantischer Ameisenhaufen, wie ein Erdnest mit Rundbögen, und die Ameisen, die um ihn herumkrabbeln, vollkommen vom Auftrag beherrscht: Da rein!!! Plötzlich aber wird meine Betrachtung unterbrochen, da ich bemerke, dass mir eine Ameise in die Hose gekrabbelt sein muss. Manchmal denke ich, in meinem Kopf herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Arrivederci! Einmal – wir befanden uns im entscheidenden Spiel der Saison – nahmen wir zum Zwecke des Reihenwechsels auf der Auswechselbank Platz, während uns der Trainer mit lauter Stimme allerlei taktische Kniffe einzuschärfen versuchte. Und in diesem Moment, als wir da so saßen, unsere Helme abzogen, auf den gummierten Boden rotzten und aus taktischen Gründen angeschrien wurden –, da wurde, als der Letzte meiner Reihe vom Eis herunterkam und die Bandentür krachend hinter sich zuzog, meine Aufmerksamkeit von jenem eisernen Riegel an der Tür angezogen und, sozusagen, blockiert. Vor meinen Augen tauchten die verschiedensten Eisenriegel auf, ohne dass ich sie einem Ort hätte zuordnen können (im Fernsehen gibt es doch dieses Spiel, bei dem man von einem Bild nur hr2-Literaturpreis, Oliver Mörchel Seite 3 von 5 einen kleinen Ausschnitt sieht und der Zuschauer in der Leitung dann raten darf, was es ist; hätten sie mich in diesem Augenblick auf der Auswechselbank angerufen und gefragt, ich hätte nur in den Hörer gebrüllt: ein Eisenriegel, ein Eisenriegel!). Jedenfalls verloren wir das Spiel knapp und unser Trainer analysierte hinterher in der Kabine sehr treffend, es habe uns an Konzentration gefehlt. Barra di ferro! Irgendwann hatte sich das Eishockeyspielen für mich erledigt. Ich, ein Gladiator? Während andere bei einer Schlägerei auf dem Eis Handschuhe und Helm abwarfen und mit Schaum vorm Mund brüllten: Na komm doch ran, du Arschgesicht!, war mein Adrenalinspiegel gerade mal so hoch angestiegen, dass es zu einer klammheimlichen Flucht in die Kabine reichte. Ich hätte bereits im zarten Knabenalter, beim allerersten Zerren und Zurren an den Schnürsenkeln meiner Schlittschuhe, bemerken können, dass mir dieser Sport zu aufreibend war. Orribile! Ich erinnere mich noch genau, als ich eines Tages meine containerartige Eishockeytasche, Schläger und Ersatzschläger zum Training geschleppt hatte und, wie immer als Erster, stellvertretend für meine ganze Mannschaft vom Hallenwart empfangen wurde mit den Worten: Was seid ihr nur alle für Assis!, so, wie wir beim vorigen Mal überall herumgerotzt hätten. Diese Probleme lösten sich jedoch irgendwann von selbst, als mein Verein aufgelöst wurde. Nicht mal für Geld würde ich noch einmal in ein solches Kostüm steigen, dachte ich. Ein paar Meter vor mir steht nun ein von oben bis unten silbern angemalter Typ reglos auf einem Sockel. Aus der Menge der umstehenden Leute tritt ein Kind zu ihm heran und wirft ein Geldstück in den vor ihm platzierten Hut. Daraufhin verbeugt sich der Silbermann einmal kurz vornehm und erstarrt erneut zur silbernen Salzsäule. Das Kind strahlt. Etwas weiter beobachte ich, wie ein Gladiator in billiger hr2-Literaturpreis, Oliver Mörchel Seite 4 von 5 Goldrüstung einer Frau seinen Arm umlegt und, indem er etwas mit seinem Holzschwert herumfuchtelt, ihrem Mann bedeutet, ein Foto machen zu sollen. Der jedoch nimmt nicht einmal die Kappe seiner Spiegelreflexkamera ab und entwindet seine Frau dem unechten Krieger, der sich wiederum völlig schamlos schon dem nächsten Touristenpärchen nähert. Mittlerweile habe ich den Tiber erreicht. Ich habe mir ein paar Ansichtskarten gekauft, die ich jetzt auf einer Bank am Fluss schreiben will. Von hier schaue ich über den breiten Strom auf den gegenüberliegenden Hügel, den Gianicolo, von dem aus jeden Tag, 12 Uhr, seit 1847, eine alte Kanone gezündet wird. Liebe Mutti, seit 1847 vergeht hier in Rom kein Tag, an dem die Kanonen nicht donnern. Aber sei unbesorgt, es geht mir gut! Assurdo! Liebe Mutti, das italienische Doppel-R kann ich schon ganz gut aussprechen, hör doch: Rrrrrrrr. Schließlich lasse ich das Kartenschreiben sein und stecke alles in mein azzurro-farbenes Vokabelheftchen, das ich immer dabei habe. Ich blättere es über meinem Schoß auf und sehe, dass das Erste, was ich darin notiert habe, lautet: tutto scorre. Alles fließt. So schaue ich über das Heftchen hinweg auf das Wasser und murmele noch einmal tutto scorre, wobei meine Zunge ein wenig flattert wie ein Windfähnchen. hr2-Literaturpreis, Oliver Mörchel Seite 5 von 5
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