Au revoir Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich Ihnen allen hier

Au revoir
Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich Ihnen allen hier eingestehen, dass ich Marthe nicht
wirklich gut gekannt habe. Im weitesten Sinn könnte man sagen, sie war so etwas wie eine
Grossmutter für mich, aber eben im weitesten und nicht im engsten Sinne. Wieso das so
war? Nun ja, das mag zum einen daran liegen, dass wir uns nur einmal im Jahr in der Regel
zu Weihnachten oder so sahen und zum anderen hatten wir, ich möchte es mal eine gewisse
sprachlich Hürde nennen. Uns trennte buchstäblich der Röstigraben. Ich spreche aus Prinzip
kein Französisch, und Marthe kein Deutsch. Das machte es uns nicht gerade leicht. Denn wir
alle wissen, die gemeinsame Sprache ist der Schlüssel zum Herzen der Menschen.
Und ich erinnere mich noch genau es war wie könnte es anders sein an einem
Weihnachtsfest, konkret am letzten Weihnachtsfest, sie kam wie immer schick gekleidet.
Und sie trug eine wundervolle Brosche mit passender Kette. Sie glitzerte und funkelte
schöner als jeder Weihnachtsbaum (und das meine ich jetzt in keinster Weise
despektierlich). Ich meine es so wie es ein Kind meint, wenn es zum ersten Mal vor einem
Weihnachtsbaum steht und aus dem Staunen nicht mehr rauskommt. Und hätte ich damals
Französisch gesprochen, oder Marthe Deutsch, dann hätte ich ihr sehr gerne gesagt, dass
diese Brosche wie ein Regenbogen war. Ein Regenbogen zum Anstecken. Und ich hätte sie
sehr gerne nach ihrem Geheimnis gefragt: „Wie fängt man einen Regenbogen ein?“ Aber
eben, ich sprach kein Französisch, sie kein Deutsch. Dennoch Weihnachten ist ja im
Allgemeinen für Wunder bekannt. Und ich möchte es jetzt mal als kleines bis mittleres
Wunder bezeichnen, dass es mir doch gelang in meiner verstaubten Französischschublade
die Worte „c’est jolie!“ zu finden. Kein Regenbogen ich weiss, aber hey immerhin genügten
© Murielle Kälin, Kohliweidstrasse 24, 4656 Starrkirch-Wil
diese Worte um Marthe strahlen zu lassen, als stünde sie zum ersten Mal vor einem
Weihnachtsbaum.
Wie bereits erwähnt, ich kannte Marthe nicht wirklich gut. Das einzige, was mir nebst dem
ich nenne es jetzt einfach mal das Regenbogen-Broschen-Weihnachtswunder in Erinnerung
geblieben ist, war Marthes Sammelleidenschaft. Sie sammelte Puppen. Ich vergessen nie
den Tag, als sie mir zum ersten Mal ihr Puppenzimmer gezeigt hat. Voller Freude öffnete sie
eine Türe hinter der mich gefühlte 3000 Paar Glasaugen anstarrten. Und ich möchte auch
hier ganz ehrlich sein. Ich kann mit Puppen überhaupt nichts anfangen. Und ich finde
Spielzeug mit dem niemand spielt unheimlich. Doch Marthe strahlte beim Betreten des
Zimmers übers ganze Gesicht. Wie Alice im Wunderland war dies ihr Weg in eine andere
Welt. Dies war ihr Reich, in dem sie sorgfältig ihre Kindlichkeit aufbewahrte.
Und Marthe sammelte nicht nur Puppen. Genevieve ihre Tochter erzählte mir kürzlich
folgende Geschichte. Vor vielen Jahren fand sie eine kleine Eichel, die ihr sprichwörtlich vor
die Füsse gefallen war. Diese Eichel war wunderschön und Genevieve brachte sie ihrer
Mutter als Geschenk mit. Wie gesagt, das war vor vielen, vielen Jahren. Und jetzt kam die
Eichel doch tatsächlich bei Aufräumarbeiten wieder zum Vorschein. Marthe hatte sie all die
Jahre über aufbewahrt. Und das war nicht das einzige. Sie bewahrte alles auf. Man könnte
jetzt sagen: „Wow, was will man denn mit all dem Krimskrams?“ Aber für Marthe war es
eben kein Krimskrams. Für sie waren es kostbare Erinnerungen, perfekte Momente. Ja, ganz
ehrlich, ich glaube Marthe sammelte perfekte Momente ein Leben lang. Ist das nicht
wundervoll?
Und dennoch stellt sich die Frage, wieso ich heute hier vorne stehe, um über eine Person zu
sprechen, die ich kaum kannte. Ich glaube ich stehe heute hier, weil ich es zu Marthes
Lebzeiten verpasst haben Französisch zu lernen. Ich stehe heute hier, weil ich mal stark
davon ausgehe, dass es im Himmel keinen Röstigraben gibt und sie mich daher jetzt
verstehen kann. Ich stehe heute hier, damit ich ihr danken kann. Danke Marthe, dass du
wusstest, wie man einen Regenbogen einfängt. Danke, dass du uns gezeigt hast, dass es
immer einen Weg ins Wunderland gibt. Danke, dass du uns gezeigt hast, dass das Kostbarste
auf der Welt in den kleinen perfekten Momenten liegt. Und danke für das tolle Geschenk,
welches du mir hinterlassen hast. Du hast mir nämlich ein paar wundervollen Menschen
© Murielle Kälin, Kohliweidstrasse 24, 4656 Starrkirch-Wil
geschenkt, welche es ohne dich nicht gäbe. Speziell deine wunderbare Tochter, die ich sehr
liebe. Danke, dass du mir diese Liebe hinterlassen hast. Und wahrhaftige Dankbarkeit zeigt
sich, indem man über einen Graben springt. In meinem Fall über einen Röstigraben. Also
Marthe jetzt schnall dich mal fest auf deiner Wolke an und geniesse es. Ich habe wirklich
sehr lange dafür geübt. Los geht’s, ich spreche jetzt nämlich Französisch:
Ca c’est pur toi!
Merci et on se reverra au paradies.
Au revoir Marthe
© Murielle Kälin, Kohliweidstrasse 24, 4656 Starrkirch-Wil