Reformierte Kirchgemeinde Hasle bei Burgdorf Predigt am Sonntag, dem 21. Februar 2016: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst“ Bibeltext: Lukas 23,42 Pfr. Hannes Müri „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Liebe Gemeinde! Ich habe kürzlich einen alten Mann besucht – er wohnt nicht in unserer Kirchgemeinde –, der grosse Angst vor dem Sterben hat. Ein Grund dafür ist, dass ihn sein Gewissen plagt und er meint, er sei „der schlechteste Mensch, den es gibt“. Das zu glauben, fällt mir schwer... Aber wenn jemand Dinge getan hat in seinem Leben, die ihn dann drücken, rede ich ihm das nicht aus; ich sage ihm nicht, Gott werde dann schon beide Augen zudrücken. Sondern ich ermuntere ihn, Gott konkret um Vergebung zu bitten und darauf zu vertrauen, dass Jesus am Kreuz auch seine Last getragen hat. Dann kann ich diesem Menschen Vergebung zusprechen. Hier aber konnte ein Mensch nicht glauben, dass Gott ihn noch annimmt. Ich habe von der Bibel her zu argumentieren versucht. Und eine der Stellen, die ich zu Rate gezogen habe, ist die Szene aus der Passionsgeschichte im Lukasevangelium: Jesus wird gekreuzigt, und links und rechts von ihm werden zwei Verbrecher ebenfalls gekreuzigt. Eine furchtbare Begebenheit... Aber darin wird eine wichtige Aussage gemacht, nämlich die: Gott ist nicht einer, der eine Waage in der Hand hält und unsere Sünden gegen unsere guten Taten aufwiegt. Und wenn dann die Schale mit den Sünden schwerer ist, geht es mit uns nach unten, wenn die Schale mit den guten Taten schwerer ist, nach oben... Gott ist kein Krämer! [Ich projiziere ein Gemälde des holländischen Künstlers Rien Poortvliet, das die Begebenheit illustriert, die in Lukas 23,39-43 geschildert wird.1 Siehe nächste Seite!] Vor uns haben wir eine Darstellung der Szene von den drei Kreuzen auf Golgatha, wie sie sich der holländische Maler Rien Poortvliet vorgestellt hat. Es ist nicht ein einheitliches Bild, sondern vielmehr eine Art Collage von verschiedenen Ansichten. Es dominieren die eigentümlichen Porträts der beiden Männer, die links und rechts von Jesus gekreuzigt worden sind. Wenn wir sie anschauen, nehmen wir die Position von Jesus ein, der in der Mitte hängt. Am unteren Bildrand sind fast schematisch die drei Kreuze zu sehen, die ausserhalb der Stadtmauer von Jerusalem aufgerichtet worden sind. Das im Lukasevangelium geschilderte Gespräch der drei Gekreuzigten hat für mich etwas Surreales an sich. Es ist, als ob die spottende Volksmenge unter dem Kreuz ausgeblendet würde. Man hört den Lärm nur noch von weit her, um darauf zu lauschen, was die Männer keuchend sagen. Dass Gekreuzigte noch miteinander oder mit Zeugen ihrer Qualen sprachen, berichten die jüdischen Quellen öfter. Aber ich habe eine Art Scheu davor, Ohren- und Augenzeuge dieser Vorgänge zu sein. 1 Rien Poortvliet / Friedrich Meisinger, Er war einer von uns, Kawohl-Bildband RKW 558 (ISBN 388087-558-8) Etwas in mir sträubt sich gegen den Voyeurismus. Wäre es nicht besser, wegzugehen und in der Ferne zu warten, bis all dieses Schreckliche vorüber ist? Andererseits vernehme ich aus den Gesprächsfetzen der drei Männer etwas ganz Grundlegendes für mein Verständnis der guten Nachricht von Jesus Christus. Da hängen sie an Kreuzen, die drei Männer. Ein Unschuldiger in der Mitte – Jesus. Zwei Schuldige – links und rechts. Einer der beiden Todesgenossen ruft etwas zu Jesus hinüber, wütend und verbissen: „Du willst der Messias sein? Hilf dir doch selbst und uns!“ In diesen Worten schwingt die ganze Enttäuschung eines jüdischen Freiheitskämpfers mit, der sich nicht vorstellen kann, dass der Messias, der kommende Befreier und Friedenskönig, den schändlichen Tod am Kreuz sterben kann. Das ist unmöglich, und deshalb ist der Mann in der Mitte ein Lügner, ein Hochstapler. Seiner Frustration macht der zum Mörder gewordene Zelot wütend Luft. Vielleicht will er sich selbst von seinen Schmerzen ablenken. Jesus bleibt still. Dem Gesicht oben links kann ich nicht in die Augen schauen. Sie liegen im Schatten. Auf ihnen liegt nur Dunkelheit; und wahrscheinlich sehen sie auch nur noch Dunkelheit und keinen Funken Hoffnung. Der Mann – wenn er mich denn überhaupt anschaut – schaut von oben herab. Schon das verleiht ihm etwas Überhebliches, aber auch Kühnheit und ungebrochenen Stolz. Er ist allein stark genug und will in der Stunde seines bitteren Todes nicht noch Schwäche zeigen. Er stirbt schliesslich für eine gerechte Sache, die er mit Mord und Totschlag erzwingen wollte. Der Mann auf der anderen Seite von Jesus antwortet. Am Kreuz in der Mitte vorbei geht ihr keuchendes Schreien. Rätselhaft bleibt uns dieser zweite Mann. Wir wissen nicht, was in ihm vorgeht. Wir wissen nichts von ihm als die wenigen Worte der Zurechtweisung und der Bitte: „Hast nicht einmal du Furcht vor Gott, da dich doch die gleiche Strafe getroffen hat? Uns beide mit Recht, aber dieser hat nichts Unrechtes getan!“ Das stille Leiden des Mannes in der Mitte mag ihn angerührt haben. Ob er ihn schon vorher gesehen und gehört hat? Der Mann unten rechts blickt Jesus an. Ich kann ihm in die Augen schauen, sehe darin das Weisse. In diesem Blick liegt letzte Konzentration, auch etwas Fragendes und Unsicheres. Die Stirn ist wohl vor lauter Schmerzen gerunzelt; aber ich deute die Falten auch als Zeichen der Sorge und der Ernsthaftigkeit. Dieses Gesicht hat nichts Stolzes mehr an sich, fast eher etwas Unterwürfiges. Der Mann anerkennt, dass neben ihm einer hängt, der nicht im Unrecht ist, sondern Gottes Willen an sich geschehen lässt. In der Mitte, auf gleicher Höhe, ist er an einem Kreuz angenagelt wie die beiden Rebellen – aber er ist gross. Hinter dem Gesicht dieses Verbrechers ist der Himmel sichtbar. „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ So sagt der zweite Aufrührer, so ist es bezeugt. Hat er plötzlich die Wahrheit erkannt, die den zwölf Jüngern in den drei Jahren des gemeinsamen Lebens mit Jesus verschlossen geblieben ist? Ein Wunder, wenn der Geist Gottes so einbricht und kräftig und schnell wie ein Blitz Zusammenhänge erhellt. Wie man es auch erklären mag, auf jeden Fall wendet sich der Verurteilte aus einem guten Herzen Jesus zu. Seine Hoffnung ist die, dass der Messias sich in einer noch fernen Zukunft an ihn erinnern wird, wenn er dann endlich sein Reich aufrichten wird. Und nun antwortet Jesus, und diese Antwort ist so ungewöhnlich wie das ganze Geschehen dieses Tages: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ Das heisst: Heute, in wenigen Stunden, wirst du mit mir im Totenreich auf der Seite sein, wo die Gerechten mit Freude auf den Tag der Auferstehung warten! Der Mann, dem das zugesagt wird, ist kein Jünger, kein Prophet, kein Mann der rechtgläubigen Kirche. Er ist ein Verbrecher, der zu Recht verurteilt worden ist und dafür einen schrecklichen Tod sterben muss. Wo bleiben da „Verdienst und Würdigkeit“...? Ich erinnere mich gut an jene Lateinstunde, wo wir diesen Kreuzigungstext aus der lateinischen Bibel übersetzten und dann unvermutet darüber ins Diskutieren gerieten. Mir wurde dabei klar, dass Gott nicht Gutes und Böses in einem Menschenleben gegeneinander abwägt, sondern dass ihn die ehrlichen Worte eines Menschen bewegen, der auf ein missratenes Leben zurückblicken muss: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Ja, das tut er: Er erinnert sich, und zwar „heute noch“! Woran er aber nicht mehr denkt, ist an alles Böse, Verbogene und Kaputte im Leben dieses Menschen. Kann man Gnade besser erklären? An dieser Stelle beginnt eine völlige Umwertung aller Werte: Der Letzte wird der Erste. Das macht mir Mut, weil ich merke: Auch in all meiner Unvollkommenheit nimmt Gott mich in Jesus Christus an. AMEN
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