Tagung „BfArM im Dialog: Gemeinsam Gesundheit gestalten Strategie BfArM 2025“; 15.-16. September 2015, Bonn Zusatznutzen bei Medizinprodukten: längst überfällig? PD Dr.med. Stefan Sauerland, MPH Ressortleiter Nichtmedikamentöse Verfahren Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Im Mediapark 8, 50670 Köln Mail: [email protected] Die drei Probleme mit neuen Medizinprodukten 1. Klinische Sicherheit, Wirksamkeit und (Zusatz-) Nutzen sind für ein CE-Zertifikat nicht notwendig. Neue Produkte können unwirksam oder gar schädlich sein. 2. Zentrale Informationen bleiben unveröffentlicht. Ärzte und Patienten sind schlecht oder gar falsch informiert. 3. Daten zum (Zusatz-)Nutzen sind für die Vergütung im Krankenhaus bislang nicht erforderlich. Viele Patienten/innen erhalten das neue Medizinprodukt, teilweise aufgrund ökonomischer Fehlanreize. Der Nutzen der „Innovation“ ist langfristig unklar. . Beispiel 1: Intrakranielle Stents bei Gefäßstenose 2005 (?): Fallserie (n= 45) und Marktzugang in EU und USA (humanitarian device exemption) 2008-2011: Ca. 3500 Stents werden in D eingesetzt. 2011: RCT zeigt mehr Schlaganfälle/Todesfälle nach Stenting: 14,7% vs. 5,8%. 2013-2015: G-BA und IQWiG bewerten die Behandlungsmethode Bose A, Hartmann M, Henkes H, et al.: Stroke 2007; 38: 1531-7. Chimowitz MI, et al., N Engl J Med 2011; 365: 993-1003. Beispiel 2: Antikörperbeschichtete Koronarstents 2005: Fallserie (n= 63 ?) und Marktzugang in EU 2009: Ca. 900 Stents werden in Deutschland eingesetzt. 2011: RCT zeigt mehr Herzinfarkte nach Stenting: 4,3 % vs. 1,6 %. 2011: G-BA und IQWiG starten Nutzenbewertung 2013: Ausschluss der Kostenerstattung bei Patienten mit hohem Restenose-Risiko Duckers HJ, et al., EuroIntervention. 2007; 3: 350-8. Klomp M, et al.: JACC Cardiovasc Interv 2011; 4: 896-904. Beispiel 3: Magnetischer Ösophagussphinkter 2010: Fallserie (n= 44) und Marktzugang in EU 2012: Fallserie (n= 100) und Marktzugang in USA 2012: NUB-Status 1, Zusatzentgelt (ca. 3000 € extra) 2014: Neue DRG abrechenbar 2020 (?): RCT zeigt…? Bonavina L, et al., Ann Surg 2010; 252: 857-62. Ganz RA, et al., N Engl J Med 2013; 368: 719-27. Beispiel 4: Elektrodenloser Herzschrittmacher 2013: Fallserie (n= 33) und Marktzugang in EU 2014: Korrektive Maßnahmen des Herstellers nach Herzbeuteltamponaden 2014: Ca. 40 deutsche Kliniken beantragen Zusatzentgelt 2015: Kein Zusatzentgelt 2020 (?): RCT zeigt…? Reddy VY, et al., Circulation 2014; 129: 1466-71. Reddy VY, et al., N Engl J Med 2015; in press (DOI: 10.1056/NEJMoa1507192) Beispiel 5: Renale Denervation bei Hypertonus 2009 (?): Fallserie (n= 50) und Marktzugang in EU 2011: ICD-Code neu eingeführt 2012: Bereits 5 Produkte sind CE-gekennzeichnet 2014: Verblindeter RCT findet keine relevante Blutdrucksenkung (2 mm Hg) 2015: G-BA stellt Bewertung vorerst ein. Krum H, et al., Lancet 2009; 373: 1275-81. Bhatt DL, et al., SYMPLICITY HTN-3, N Engl J Med 2014; 370: 1393-401. G-BA (2015) https://www.g-ba.de/informationen/beschluesse/2315/ Beispiel 6: Metall-auf-Metall-Hüftendoprothesen 2003: Marktzugang der ASR-Prothesen in EU, vermutlich ohne eigene klinische Daten 2007: Australisches Register zeigt 2-fach erhöhte Revisionsraten 2008: In Frankreich wird die Kostenübernahme verweigert. 2010: Der Hersteller ruft ca. 93000 Prothesen weltweit zurück. 2012: Britisches Register zeigt 3-fach erhöhte Revisionsraten (6% vs. 2%) Haute Autorité de Santé (2008) http://www.has-sante.fr/portail/upload/docs/application/pdf/2008-07/cepp_1738_asr.pdf Smith AJ, et al., Lancet 2012; 379: 1199-204. Smith AJ, et al., Lancet 2012; 380: 1759-66. Beispiel 7: Hypoglossus-Stimulation bei Schlafapnoe 2010: Fallserie (n= 21) und Marktzugang in EU 2014: RCT (n= 126) positiv und Marktzugang in USA Eastwood PR, et al., Sleep 2011; 34: 1479-86. Strollo PJ Jr, STAR Trial Group, N Engl J Med 2014; 370: 139-49. Quintessenz aus den Beispielen (1) Kleine Fallserien reichen in Europa für den Marktzugang neuer Medizinprodukte der Klassen IIb und III aus. Nur wenn ein Marktzugang in den USA angestrebt wird, werden Studien der Evidenzstufe 1 durchgeführt. Ein relevanter Anteil der Hochrisiko-Medizinprodukte erweist sich dann als schädlich oder nutzlos. European Council (2015) http://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2015/06/19-medical-devices-council-ready-talk-with-ep/ FDA (2012) https://www.gkvspitzenverband.de/media/dokumente/presse/pressekonferenzen_gespraeche/2012_2/121107_medizinprodukte/8___FDA_EU_Devices_Report.pdf Quintessenz aus den Beispielen (2) Länder, die eine regelhafte Bewertung neuer Produkte etabliert haben, schützen Patienten vor Schäden, schützen das Gesundheitssystem vor Fehlinvestitionen, verzögern neue Methoden um etwa 3 Jahre. Deutschland braucht eine frühe (Nutzen-)Bewertung neuer risikoreicher Medizinprodukte(methoden), um klinische Sicherheit und Effektivität zu garantieren um Methoden mit Potenzial rasch zu evaluieren. . Ablauf Einreichung beim GBA; dort Prüfung ob Methode a) besondere Invasivität u. b) neues theoretischwissenschaftliches Konzept aufweist Unterlagen gemäß §137h (zusammengestellt von Krankenhaus im Benehmen mit MP-Hersteller) GBA-Bescheid an Krankenhaus, dass keine §137hBewertung notwendig Nein Frist #1 Behandlungsmethode entspricht §137h-Kriterien? 2 Wochen Ja Ggf. weitere Unterlagen zur Methode (eingereicht von Krankenhäusern oder MP-Herstellern) Frist #2 Öffentliche Ankündigung der Bewertung Beginn der frühen Nutzenbewertung Beauftragung IQWiG Beratungen im GBA IQWiG-Bericht (binnen 6 Wochen) Bewertungsentscheidung und Beschluss 1 Monat Frist #3 3 Monate + Ablauf Bewertungsentscheidung und Beschluss - ? Nutzen der Methode ist als hinreichend belegt anzusehen Methode bietet Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative Frist #4 Nein Richtlinie zu Qualitätsanforderungen erforderlich? Ja Richtlinie zu Qualitätsanforderungen 3 Monate Richtlinie zur Erprobung Durchführung der Erprobungsstudie (i.d.R. innerhalb von 2 Jahren) Frist #5 3 Monate Richtlinie nach §137c Prozessende Methode bietet kein Potenzial, insbesondere weil schädlich oder unwirksam Richtlinie nach §137c zum Ausschluss der Methode (unverzüglich) Frühe Bewertung risikoreicher MP-Methoden: Positive Aspekte des §137h SGB V Die oft unkritische, breite Anwendung neuer riskanter Methoden wird eingegrenzt. Neue Methoden werden nicht blockiert sondern auf eine Zwischenstufe („in Erprobung“) gehoben. Innovation wird an Evaluation gekoppelt. Informationen zu neuen Methoden werden transparent gemacht und aktiv den (Studien-)Patienten vermittelt. Jeder Patient entscheidet selbst, ob er die erprobte „alte“ oder die neue Methode wünscht. . Frühe Bewertung risikoreicher MP-Methoden: Negative Aspekte des §137h SGB V Drei regulatorische Lücken: Medizinprodukte, die preislich im Rahmen bleiben Weniger invasive, aber dennoch riskante Produkte Invasive Methoden ohne maßgebliches Medizinprodukt Enge zeitliche Fristen und Kulmination zum Jahresende Wesentliche Aspekte noch unklar. . Fazit Medizinprodukte und neue Untersuchungs-/Behandlungsmethoden sollten vor (breiter) klinischer Anwendung hinsichtlich ihres patienten-relevanten Nutzens bewertet werden. Der neue §137h SGB V ist ein wichtiger Schritt hin zu einem klinisch angemessenen und wissenschaftlich sinnvollen Umgang mit neuen invasiven Medizinprodukten. . Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Im Mediapark 8 D-50670 Cologne Germany Tel.: 0221/3 56 85-359 Fax: 0221/3 56 85-1 [email protected] www.iqwig.de 17
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