Ernährung: Wie viel Staat darf`s denn sein?

Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II
www.zeit.de/schulangebote
Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für
die Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag
im Monat. Sie beleuchten ein aktuelles Thema aus der
ZEIT, ergänzt durch passende Arbeitsanregungen zur
praktischen Umsetzung im Unterricht.
In Zusammenarbeit mit:
www.dak.de
Thema im Monat Juli 2015:
Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
Zuckersteuer, Ampelkennzeichnung, Werbeverbot für Kinderlebensmittel: Ist das noch Verbraucherschutz oder schon Gesundheitsdiktatur? Staatliche Maßnahmen der Ernährungspolitik sind stark umstritten. Im Fokus steht dabei meist die Rolle des Staates zwischen Fürsorgepflicht und bürgerlicher Freiheit.
Aber wie kann die Politik für die Gesundheit der Bevölkerung sorgen, ohne sich in private Ernährungsangewohnheiten einzumischen? Und wieweit darf eine Solidargemeinschaft, die die Folgen eines riskanten Lebensstils trägt, die Privatangelegenheiten Einzelner kontrollieren?
In dieser Unterrichtseinheit recherchieren und erörtern Ihre Schüler staatliche Maßnahmen zur Adipositas-Prävention, überprüfen Lebensmittel nach dem Ampelverfahren und positionieren sich anhand von
Pro- und Kontra-Kommentaren zu staatlichen Eingriffen in das Ernährungs- und Gesundheitsverhalten
der Bürger.
Inhalt
2Einleitung: Thema und Lernziele
3 Arbeitsblatt 1: Deutsche gegen Zuckersteuer
7 Arbeitsblatt 2: Muss der Staat uns vor uns selbst schützen?
10 Internetseiten zum Thema
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
2
Einleitung: Thema und Lernziele
Die Deutschen werden immer dicker, Diabeteserkrankungen nehmen zu. Schuld daran sind zu viel Zucker und Fett im Essen. Oder vielmehr diejenigen, die übermäßig viel Zucker und Fett in Fertigprodukte mischen. Und noch viel mehr jene, die diese Produkte als Leckereien für Fitness-Kids vermarkten. Oder muss man das Problem an der anderen Seite anpacken, bei den Konsumenten, die trotz
allgegenwärtiger Aufklärung über gesundes Essen jede Menge Fertigprodukte kaufen? Immer wieder
kommen Forderungen auf, der Staat möge zum Schutz der Bürger und im Rahmen seiner Fürsorgepflicht für die öffentliche Gesundheit eingreifen. Entsprechende Vorschläge gibt es viele: eine Zucker-,
Fett- oder Fast-Food-Steuer, ein Werbeverbot für Kinderlebensmittel, die Ampelkennzeichnung, ein Verbot von XXL-Limobechern, den Veggie-Day, und, und, und. Die öffentliche Diskussion hierüber mündet
schnell in einer demokratietheoretischen Grundsatzdebatte über bürgerliche Freiheit, Staatsanmaßung
oder notwendiger Regulierung. Dabei können beide Parteien durchaus mit überzeugenden Argumenten
aufwarten. Befürworter einer Zuckersteuer verweisen auf die Manipulierbarkeit der Verbraucher – vor
allem der Kinder –, deren Gesundheit vor allzu dreist präsentierter Quengelware oder dem eigenen Fehlverhalten geschützt werden müsse. Kritiker betonen die Autonomie jedes Bürgers, ohne staatliche Bevormundung über seine ganz privaten Ernährungsgewohnheiten zu entscheiden. Im Hintergrund steht, wie so
oft, das Solidarprinzip unserer Gesellschaft: Wenn die Gemeinschaft für die riskanten Lebensgewohnheiten Einzelner geradestehen muss, darf sie dann nicht versuchen, das Risiko, das sie trägt, zu minimieren?
Betrachtet man die Einstellung der Bevölkerung zu solchen Vorschlägen, so zeigt sich bezüglich der Ampelkennzeichnung ein deutliches Meinungsbild: 85 Prozent sind dafür. Das hat eine Umfrage der DAK-Gesundheit zu Maßnahmen gegen Übergewicht und Adipositas ergeben. Doch die Ampelkennzeichnung wurde in
Deutschland nach massiven Widerstand aus der Lebensmittelindustrie nicht eingeführt. Die Zuckersteuer
hingegen lehnt eine Mehrheit von 65 Prozent der Befragten ab. Bei der Frage, ob sich der Staat generell um
die Ernährungsgewohnheiten der Bürger kümmern sollte, hielten sich Zustimmung und Ablehnung laut DAKUmfrage in etwa die Waage.
Eine völlig neue Perspektive eröffnet sich, wenn man anstelle der Konsumenten die Produzenten in den Fokus
staatlicher Maßnahmen stellt und dabei strukturelle Defizite angeht. Ein Beispiel hierfür ist der Fleischkonsum:
Nur die industrielle Tierhaltung ermöglicht die Vermarktung von tierischen Lebensmitteln zu Dumpingpreisen – mit allen negativen Folgen für Klimaschutz oder Welternährung. Ein staatliches Engagement zugunsten
artgerechter Tierhaltung könnte den Fleischkonsum durch die Preisbildung regeln – ganz ohne Veggie-Day.
Arbeitsblatt 1 stellt eine Umfrage der DAK-Gesundheit zu Maßnahmen gegen Übergewicht vor. Die Schüler
analysieren Lebensmittelkennzeichnungen, überprüfen Fertignahrung nach dem Ampelverfahren und recherchieren Vorschläge zu staatlichen Maßnahmen der Ernährungssteuerung.
Arbeitsblatt 2 präsentiert jeweils eine Pro- und eine Kontra-Meinung zur Frage, ob der Staat uns davor schützen sollte, zu viele ungesunde Lebensmittel zu essen. Indem die Schüler die Argumente weiterführen, positionieren sie sich zur Debatte und erörtern das Spannungsfeld von bürgerlicher Freiheit und Fürsorgestaat.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
3
Arbeitsblatt 1
Deutsche gegen Zuckersteuer
Um Übergewicht vorzubeugen, wünschen sich die meisten Bürger eine bessere Kennzeichnung von Lebensmitteln.
5
10
15
20
25
30
Im Kampf gegen Übergewicht und Adipositas lehnt die große Mehrheit der Deutschen eine Zuckersteuer
ab. Nur 30 Prozent der Bevölkerung befürworten die von SPD-Politikern geplante volle Besteuerung von
Süßwaren, um zu verhindern, dass künftig noch mehr Menschen fettleibig werden. Das zeigt eine aktuelle
und repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der DAK-Gesundheit. Die meisten Bürger wünschen sich
demnach eine bessere Kennzeichnung von Lebensmitteln auf der Verpackung.
Nach der DAK-Umfrage sehen 85 Prozent der Befragten die sogenannte Ampelkennzeichnung als geeignete Maßnahme gegen das zunehmende krankhafte Übergewicht der Bevölkerung. Bei der »Ampel«
wäre auf den Verpackungen der Gehalt an gesundheitsrelevanten Nährstoffen durch Farbsymbole leicht
verständlich zu erkennen. Eine Mehrheit von 65 Prozent befürwortet auch ein Werbeverbot für Kinderlebensmittel, bei denen Kinder durch kleine Geschenke oder eine besondere Aufmachung angelockt werden sollen.
»Beim Thema Übergewicht und Adipositas setzen wir auf Aufklärung«, erklärt Herbert Rebscher, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. »Es geht um breite und verständliche Information über Gesundheitsgefahren
von Zucker und die Motivation zur gesunden Ernährung. Eine Zuckersteuer wäre eine indirekte Bestrafung
der Bevölkerung. Zudem ist eine Zuckersteuer ungerecht, da sie einkommensschwächere Haushalte besonders stark belastet. Denn mit steigendem Einkommen sinkt der Anteil für Konsumausgaben.«
Laut DAK-Umfrage ist die Ablehnung der Zuckersteuer im Bundesvergleich in Bayern mit 76 Prozent am
größten. Auch die Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen sieht die Pläne für eine volle Besteuerung von
Süßwaren besonders kritisch, während es in der Gruppe der über 60-Jährigen die meisten Befürworter
gibt. Bislang unterliegen Süßwaren und Süßgetränke einem ermäßigten Steuersatz. SPD-Politiker hatten
eine volle Besteuerung von 19 Prozent ins Gespräch gebracht, um damit auf die steigende Zahl von Menschen mit starkem Übergewicht zu reagieren. 2013 mussten bundesweit mehr als 18.000 Patienten wegen
Adipositas oder sonstiger Überernährung im Krankenhaus behandelt werden. Im Vergleich zum Jahr 2005
bedeutet dies einen Anstieg um 154 Prozent.
In der Bevölkerung gibt es keine klare Haltung, ob sich die Politik um die Ernährungsgewohnheiten der
Bürger kümmern sollte. In der Umfrage der DAK-Gesundheit sind 49 Prozent der Meinung, dass dies zu
den Aufgaben der Politik gehöre. 43 Prozent finden dagegen, die Politik solle sich aus diesem Bereich
heraushalten.
Quelle: Meinungsumfrage der DAK-Gesundheit durch das Forsa-Institut, Mai 2015,
https://www.dak.de/dak/bundesweite_themen/Zuckersteuer-1616676.html
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
4
Aufgaben
1. Einstieg: Fragebogen
Beantworten Sie den Fragebogen zum Nahrungsmitteleinkauf und zur Lebensmittelkennzeichnung,
und werten Sie die Ergebnisse Ihrer Lerngruppe aus. Vergleichen Sie Ihren Befund bei den Fragen
f und g mit den Ergebnissen der DAK-Umfrage.
a. Ich achte beim Lebensmitteleinkauf auf die Kennzeichnung der Inhalte.
q Meistens q Manchmal q Nie b. Bei der Lebensmittelkennzeichnung interessiere ich mich hauptsächlich für ...
(Mehrfachnennungen möglich)
q die Zusatzstoffe
q das Mindesthaltbarkeitsdatum
q Nährwertangaben: Zucker, Fett, Eiweiß
q Stoffe, gegen die ich allergisch bin
q Nachhaltigkeitssiegel (Bio, Fairtrade etc.)
q die Kalorien
q Zusammensetzung allgemein q tierische Inhaltsstoffe
q Etwas anderes:
c. Ich achte auf eine gesundheitsbewusste Ernährung.
q Meistens q Manchmal q Nie q Ich nehme es mir vor, aber …
d. Ich verstehe die Angaben auf den Lebensmittelverpackungen.
q Weitgehend ja q Nur zum Teil q Kaum q Gar nicht
e. Die Informationen auf den Lebensmittelverpackungen sind ... (Mehrfachnennungen möglich)
q ausreichend q unverständlich q irreführend q nicht verbraucherfreundlich
q unvollständig
q zu ausführlich q hilfreich
q verbraucherfreundlich
Kommentar:
f. Welche der folgenden Maßnahmen halten Sie im Kampf gegen Übergewicht und Adipositas für
geeignet? (Mehrfachnennungen möglich)
q Ampelkennzeichnung
q Werbeverbot für Kinderlebensmittel
q Volle Besteuerung von Süßwaren
q Etwas anderes:
g. Die Ernährungsgewohnheiten der Bürger gehören zu den Aufgaben der Politik.
q Ja
q Nein
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
5
2. Die Lebensmittelkennzeichnung verstehen und bewerten
a. Tragen Sie im Plenum zusammen, welche Angaben in Ihren Augen bei der Lebensmittelkennzeichnung wichtig sind, und erstellen Sie hieraus eine Liste mit Ihren Forderungen.
b. Untersuchen Sie in Gruppenarbeit die Kennzeichnung eines beliebigen Lebensmittels, das der
Kennzeichnungspflicht unterliegt. Versuchen Sie zunächst die Kennzeichnung ohne Hilfen zu
entziffern. Ziehen Sie anschließend entsprechende »Übersetzungshilfen« heran.
Linktipps:
• Foodwatch: Kennzeichnung und Siegel,
https://www.foodwatch.org/de/informieren/kennzeichnung-siegel
• Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Lebensmittel-Kennzeichnung,
http://www.bmel.de/DE/Ernaehrung/Kennzeichnung/kennzeichnung_node.html
c. Vergleichen Sie Ihre Arbeitsergebnisse mit der Forderungsliste aus Aufgabe a, und ziehen Sie ein
begründetes Fazit: Stellt die aktuelle Lebensmittelkennzeichnung Ihrer Ansicht nach eine gelungene Verbraucherinformation dar?
3. Die Inhaltsstoffe von Lebensmitteln nach dem Ampel-Verfahren überprüfen
a. Wählen Sie ein Fertigprodukt speziell für Kinder aus oder eines, das als besonders gesund beworben wird. Schätzen Sie, wie die Ampelkennzeichnung des Produktes hinsichtlich Fett, Zucker
und Salz ausfallen könnte.
b. Überprüfen Sie anschließend Ihre Einschätzung. Folgende Adressen helfen dabei:
Online: das ist drin, http://das-ist-drin.de/glossar/specials/ampel
Per App: Lebensmittelampel.com,
http://www.lebensmittelampel.com/foodcheck-die-lebensmittelampel-als-app/
Per Barcode-Scan: barcoo, http://www.barcoo.com/lebensmittelampel-beschreibung
c. Erörtern Sie: Ist die Ampelkennzeichnung in Ihren Augen ein geeignetes Informationsmittel für
ein bewusstes Ernährungsverhalten? Welche Vorteile, welche Nachteile bietet es?
4. Anhand eines Zitates einen eigenen Standpunkt beziehen und diesen erörtern
Diskutieren Sie folgendes Zitat, und ziehen Sie daraus Schlüsse für die Rolle des Staates beziehungsweise der Verbraucher in Ernährungsfragen:
»Fertiggerichte, Backmischungen, Light-Produkte sind ein großes Tummelfeld für Zusatzstoffe aller
Art. Je näher ich wieder zurückkomme zum Selberkochen, desto weniger Zusatzstoffe enthalten die
Lebensmittel auch. […] Die Frage ist nicht: Brauchen wir Lebensmittelzusatzstoffe, sondern brauchen
wir die Lebensmittel? […] Und da kann jeder für sich sagen: Nein, will ich nicht, ich möchte Nudeln
pur, ich mache meine Soße selbst. […] Wenn wir die Entscheidung abgeben und sagen, jemand anders soll sich kümmern und mir das Essen machen, dann macht er es nach seinen Regeln, und dann
sind Zusatzstoffe im Spiel.«
Laura Gross, Bundesverband Die Verbraucherinitiative, WDR 5 Leonardo – Wissenschaft und mehr, 22.6.2015,
http://www.wdr5.de/sendungen/leonardo/Lebensmittelzusatzstoffe100.pdf
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
6
5. Staatliche Maßnahmen zur Ernährungssteuerung recherchieren
Informieren Sie sich in Gruppenarbeit über folgende Vorschläge zu staatlichen Regulierungsmaßnahmen. Erstellen Sie eine Präsentation und ein prägnantes Handout als Informationsgrundlage, das die
wichtigsten Aspekte hierzu beantortet (Ziele, Umsetzung, Argumente für und wider, aktueller Stand
der Debatte).
Gruppenthemen:
a. Zucker- bzw. Fettsteuer auf Lebensmittel allgemein oder nur auf Fertigprodukte/Fast-Food
• Bayerischer Rundfunk: Zucker-Fettsteuer – Abzocke oder sinnvolle Disziplinierungsmaßnahme?
http://www.ardmediathek.de/tv/Gesundheit/Die-Sendung-vom-29-Juli/Bayerisches-Fernsehen/Video?documentId=22658068&bcastId=17986474
• n-tv: SPD erwägt »Zuckersteuer« auf Süßwaren
http://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/SPD-erwaegt-Zuckersteuer-auf-Suesswarenarticle15019686.html (ab 2:09)
b. Verbot der Werbung für Nahrungsmittel und Produkte, die als ungesund eingestuft werden,
insbesondere solche, die sich an Kinder richtet
• ZEIT ONLINE: Süße Geschäfte
http://www.zeit.de/2013/20/kinder-marketing-werbung
• WDR, Quarks & Co: Zucker – 7 Dinge, die Sie wissen sollten
http://www1.wdr.de/mediathek/video/startseite-video102.html
> »Marketing für Kinder – Vorsicht, nachgestellt!«
• Foodwatch: Ärzte-Allianz fordert Verbot von Kinder-Marketing
https://www.foodwatch.org/de/informieren/gentechnik/
c. Ampelkennzeichnung für Nahrungsmittel
• Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung: Ampelkennzeichnung – Pro und Kontra
https://www.aid.de/downloads/ampelkennzeichnung.pdf
• Foodwatch: Nährwert-Ampel – Damit Lebensmittel Farbe bekennen
https://www.foodwatch.org/de/informieren/ampelkennzeichnung/2-minuten-info/
d. Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln
• Verband Lebensmittel ohne Gentechnik
http://www.ohnegentechnik.org
• Foodwatch: Thema Gentechnik
https://www.foodwatch.org/de/informieren/gentechnik/mehr-zum-thema/
> »Das Ohne-Gentechnik-Siegel«
• Informationsdienst Gentechnik: Debatte um Nulltoleranz bei Lebensmitteln
http://www.keine-gentechnik.de/dossiers/null-toleranz.html
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
7
Arbeitsblatt 2
Muss der Staat uns vor uns selbst schützen?
Schokolade, XXL-Cola, Gummibärchen: Viele Produkte sind offensichtlich ungesund. Sollte
der Staat uns davor schützen, zu viel davon zu konsumieren? Eine Debatte.
Kolumne Streitfall
Alle zwei Wochen ringen ZEIT-Korrespondent Mark Schieritz und ZEIT-ONLINE-Redakteur Philip Faigle um die richtige Antwort auf eine aktuelle ökonomische Frage.
5
Text A: »Der Staat ist gefragt« (Mark Schieritz)
Philip, die Bundesregierung sagt dem Schokoriegel den Kampf an. Künftig sollen Supermärkte nach dem
Willen von Union und SPD mindestens eine Kasse ohne Süßigkeiten einrichten, die Sozialdemokraten sprechen sich jetzt sogar für höhere Mehrwertsteuern auf Kekse, Gummibärchen und Bonbons aus. Dürfen die
das?
Sie dürfen. Der Mensch ist verführbar – und deshalb ist der Staat gefragt.
10
15
20
25
30
Die Regale an der Ladenkasse gehören zu den profitabelsten Zonen eines Supermarkts. Wer wartend in
der Schlange steht, der greift gerne noch einmal zu, vor allem wenn er quengelnde Kinder bei sich hat.
Das wissen die Lebensmittelkonzerne, und deshalb platzieren sie dort alles, was schön bunt ist und viel
Zucker enthält.
Und wenn schon, könnte man einwenden. Niemand wird dazu gezwungen, der Verlockung nachzugeben.
Doch so einfach ist es nicht. Der mündige und allwissende Konsument ist eine Fiktion der ökonomischen
Lehrbücher. In der Realität sind Menschen anfällig für Überredungskünste aller Art. Deshalb muss der
Staat die Verbraucher in die Lage versetzen, das zu kaufen, was sie eigentlich kaufen wollen – indem er
den subtilen Psychotechniken der Süßwarenindustrie etwas entgegensetzt und die Gummibärchen per
Dekret dahin verbannt, wo ihr natürlicher Platz ist: in die hinteren Reihen. Ein Verbot der Quengelkassen
ist deshalb kein Großangriff auf die individuelle Freiheit, sondern schafft erst die Voraussetzungen für souveräne Kaufentscheidungen.
Es ist auffällig, dass Liberale hierzulande sehr schnell dabei sind, die Begrenzung staatlicher Macht zu fordern, aber weniger Probleme mit unternehmerischer Macht zu haben scheinen. Selbst in den USA – dem
Mutterland des Kapitalismus – ist man da weiter. In New York wurde der Verkauf von zuckerreichen Softdrinks im XXL-Format verboten. Die Maßnahme wurde zwar inzwischen von einem Gericht wieder kassiert,
aber das Thema bleibt auf der Agenda. Es stimmt schon: Echte Freiheit muss das Recht einschließen,
sich selbst gesundheitlich zu ruinieren. Aber dann muss gewährleistet sein, dass dieser Ruin tatsächlich
das Ziel des jeweiligen Handelns ist. Der massenhafte Konsum von Cola und Hamburgern aber dürfte in
den meisten Fällen eher das Ergebnis manipulativer Verkaufspraktiken als das Resultat einer ureigenen
Willensäußerung sein. Deshalb hat der Staat das Recht und die Pflicht, die Menschen vor sich selbst zu
schützen.
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
35
40
8
Genauso wie er die Pflicht hat einzuschreiten, wenn die Verbraucher mit ihrem Kaufverhalten die Grundlagen der menschlichen Existenz gefährden. Es ist eine Tatsache, dass die Produktion von Fleisch viel Energie verschlingt, weil nur ein Teil des von den Tieren aufgenommenen Futters in Nährstoffe umgewandelt
wird. Die Menschheit ließe sich also umweltschonender ernähren, wenn mehr Gemüse gegessen würde.
Das geschieht aber nicht, weil Fleisch, gemessen an den gesellschaftlichen Kosten, die ein übermäßiger
Konsum verursacht, zu billig ist. Deshalb sollte der Staat durch eine Sondersteuer dafür sorgen, dass
Schnitzel und Koteletts teurer werden. Oder den Kantinen des Landes mindestens einen Veggie-Day verordnen: und zwar nicht auf freiwilliger Basis, sondern unter Androhung von Strafe.
Mark Schieritz, DIE ZEIT Nr. 19/2015, http://www.zeit.de/2015/19/verbraucherschutz-steuer-suessigkeitenstreitfall-schieritz
5
10
15
20
25
Text B: »Eingriff in die Freiheit der Bürger« (Philip Faigle)
Mark, manchmal hilft es, ein Argument zu überdrehen, um es zu widerlegen. Machen wir es also genauso mit Deiner Behauptung, die Regierung müsse die Bürger davor schützen, zu viel Süßes zu essen und
sich gesundheitlich zu ruinieren. Ich zum Beispiel esse gerne Pommes mit Ketchup. Ich weiß, dass weder
Pommes noch Ketchup sonderlich gesund sind, trotzdem tue ich es. In Ketchup ist erstaunlich viel Zucker,
genauso wie in Schokoriegeln und Gummibärchen. Sollte mich der Staat also davon abhalten, Ketchup zu
essen? Oder mir den Ketchup gleich verbieten?
Die Wahrheit ist doch: Wir wissen in den meisten Fällen sehr genau, was die Medizin als gesund erachtet –
und was nicht. Wir müssen eben ständig abwägen zwischen Genuss und Gesundheit. Und in den Fällen, in
denen wir es nicht wissen, weiß der Staat es auch nicht unbedingt besser. Bis vor Kurzem waren sich die
Forscher zum Beispiel einig, dass cholesterinhaltige Lebensmittel den Cholesterinspiegel des Menschen
erhöhen – und damit in vielen Fällen das Risiko, krank zu werden. Mittlerweile ist sich die Wissenschaft da
nicht mehr ganz sicher. Nach Deiner Logik hätte der Staat zwischenzeitlich einige Produkte verteuern müssen, die viel Cholesterin enthalten: Butter, Eiernudeln, Gouda. Das wäre aus heutiger Sicht falsch gewesen.
Doch selbst wenn der Staat wirklich den perfekten Überblick hätte, überzeugten mich Deine Argumente
nicht. Eine Gummibärchensteuer und jede andere Steuer auf einzelne Produkte hat gleich mehrere Nachteile. Der wichtigste ist: Solche Steuern treffen die Geringverdiener fast immer am Härtesten. Wenn ich
1.000 Euro im Monat verdiene und für meine Gummibärchen jedes Mal 10 Cent Steuern zahlen muss –
dann fallen die eben mehr ins Gewicht, als wenn ich 10.000 Euro im Monat verdiene. Viele Reiche würden
einfach weiterkonsumieren, während die Armen relativ stark belastet würden. Außerdem werden gerade
Konsumsteuern oft umgangen. Als die Regierung vor Jahren die Alkopops-Steuer auf gewisse alkoholhaltige Getränke einführte, sank zwar der Absatz von Alkopops. Viele Jugendliche aber wichen auf andere
Alkohol-Drinks aus oder mixten ihre Mischgetränke selbst.
Schon klar: Der Staat kann gewisse Produkte auch ganz einfach verbieten. Aber erstens ist das immer ein
gewaltiger Eingriff in die Freiheit der Bürger. Und zweitens lehren die Erfahrungen mit dem Verbot von
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
30
35
9
Alkohol, dass solche Regeln eher zu einem wachsenden Schwarzmarkt führen als dazu, dass die Menschen
wirklich weniger konsumieren. Letztlich geht es mir vermutlich wie den meisten Verbrauchern: Ich erwarte
vom Staat, dass er dafür sorgt, dass keine giftigen Produkte in den Supermarktregalen liegen. Und ich will
nachlesen können, was in den Produkten drin ist. Danach aber will ich selber entscheiden, was ich kaufe –
selbst wenn ich mich von der Lebensmittelindustrie verführen lasse.
Nun steht beim Fleisch in der Tat nicht nur die eigene Gesundheit auf dem Spiel. Eine Sonderabgabe aber
hilft auch hier nicht wirklich weiter, weil viele Menschen den Fleischkonsum auch durch sie nicht einschränken würden. Viel sinnvoller wäre es, die Auswüchse der Massentierhaltung einzuschränken – und den Rest
den Verbrauchern zu überlassen.
Philip Faigle, DIE ZEIT Nr. 19/2015, http://www.zeit.de/2015/19/verbraucherschutz-freiheit-buerger-streitfall-faigle
Aufgaben
1. Das Textverständnis klären und die Argumentation weiterführen
a. Soll der Staat uns davor schützen, zu viele ungesunde Lebensmittel zu konsumieren?
Stellen Sie die Pro- und Kontra-Aspekte aus den beiden Artikeln in einer Tabelle gegenüber.
Ergänzen Sie die Liste durch eigene Überlegungen.
b. Darf der Staat die Verbraucher für wirtschaftspolitische Belange in die Verantwortung nehmen?
Der einmal von den Grünen vorgeschlagene Veggie-Day ist ein Beispiel dafür, den Fleischkonsum
über das individuelle Verhalten der Verbraucher zu steuern. Die Einschränkung der Massentierhaltung hingegen ist nach Philip Faigle eine strukturelle, wirtschaftspolitische Maßnahme, die am
Produzenten ansetzt. Erweitern Sie die Tabelle von 1.a um weitere strukturpolitische Aspekte.
c. Werten Sie die Leserkommentare zu beiden Artikeln aus, und erstellen Sie ein Meinungsbild der
ZEIT ONLINE-User.
d. Diskutieren Sie im Plenum die unterschiedlichen Standpunkte von Philip Faigle und Mark
Schieritz aus der »Streitfall-Kolumne«, und erstellen Sie ein Meinungsbild Ihrer Lerngruppe.
2. Ein Zitat erörtern: Fürsorgestaat versus bürgerliche Freiheit
Erstellen Sie vor dem Hintergrund des folgenden Zitats eine Gliederung für eine dialektische Erörterung. Formulieren Sie das Fazit aus, und führen Sie anschließend die Erörterung im Plenum.
»Der Fürsorgestaat beruft sich auf den Solidargedanken. Wenn ich riskant lebe, ohne Fahrrad- oder
Skihelm fahre, wenn ich mich ungesund ernähre und dann auch noch rauche, schade ich der Solidargemeinschaft, die für die Behandlung meines Infarkts oder Schädelbruchs aufkommen muss.
Diese Logik untergräbt jegliche Freiheit. Denn so gesehen ist nichts, was ich tue, ohne Belang für die
Allgemeinheit, die daraus folgert, mich kontrollieren zu dürfen.«
Ulrich Greiner, DIE ZEIT Nr. 1/2013, http://www.zeit.de/2013/01/Rauchverbot-Diktatur-der-Fuersorge
»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
10
Internetseiten zum Thema:
Ernährung: Wie viel Staat darf’s denn sein?
ZEIT ONLINE: Der Gesundheitswahn und seine Moden
http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-05/ernaehrung-fisch-oel-greiner-fuenf-vor-acht
ZEIT ONLINE: Über freiheitsliebende Deutsche, die Verbote fordern
http://www.zeit.de/2014/01/martenstein
ZEIT ONLINE: Die Staatsdiät
http://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/06/Gesunde-Ernaehrung-Fettsteuer-Kinder-Schulessen
SZ.de: »Wir werden manipulierbar und unfrei«
http://www.sueddeutsche.de/kultur/juli-zeh-ueber-das-generali-modell-wir-werden-manipulierbar-undunfrei-1.2232147
Der Tagesspiegel: Zu viel Zucker macht die Deutschen krank
http://www.tagesspiegel.de/politik/krankenkasse-zuckersteuer-kein-tabu-zu-viel-zucker-macht-diedeutschen-krank/11539122.html
Foodwatch: Kennzeichnung und Siegel
https://www.foodwatch.org/de/informieren/kennzeichnung-siegel
Das kostenlose ZEIT-Angebot für Schulen
Die aktualisierten Unterrichtsmaterialien
»Medienkunde« und »Abitur, und was dann?«
können Sie kostenfrei bestellen. Lesen Sie auch drei
Wochen lang kostenlos DIE ZEIT im Klassensatz!
Alle Informationen unter
www.zeit.de/schulangebote.
IMPRESSUM
Projektleitung: Wiebke Prigge, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Projektassistenz: Marlen Handayani, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Didaktisches Konzept und Arbeitsaufträge: Susanne Patzelt, Wissen beflügelt