Warum es wichtig ist, Zeit für einander zu haben

SG 150924
Katrin Göring-Eckardt - Zwischenruf Zeitpolitikkongress, 26.9.2015
Warum es wichtig ist, Zeit für einander zu haben
(Es gilt das gesprochene Wort)
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich wurde um einen Zwischenruf gebeten. Wer dazwischen ruft, unterbricht und stört. Wer
dazwischen ruft, wirft einen Stock ins Getriebe und unterbricht den Ablauf. Zwingt zum inne
halten. Wer dazwischen ruft, schenkt Zeit: Zeit zum Luft holen. Zeit zum Nachdenken. Vielen
Dank, dass ich gebeten wurde, dazwischen zu rufen. Lasst uns also inne halten und Luft holen...
Am häufigsten rufen Kinder dazwischen. Mamaaaa? Oder bei mir inzwischen: Omaaaaaaaa? Sie
rufen dazwischen, wenn Parteifreundinnen Anrufen, selbstverständlich. In dieser Woche
allerdings hat mir jemand einen Termin abgesagt. Der Grund: Die 93-Jährige und schwer
altersverwirrte Großtante war aus dem Krankenhaus verschwunden und musste gesucht werden.
Warum ist es wichtig, für einander Zeit zu haben? Zeit ist paradox: Alle klagen ständig über
immer weniger Zeit, und dabei hat der Tag nach wie vor 24 Stunden. Wir sparen angeblich viel
Zeit mit Email, Smartphone und SMS und trotzdem haben alle den Eindruck, dass seien die
größten Zeitfresser schlechthin. Der Mensch, der sein Smartphone in den Brunnen wirft, ist ein
beliebtes Bild für den freien Menschen geworden: frei in der Gestaltung seiner Zeit. Menschen
hingegen, die sich kümmern und Verantwortung füreinander übernehmen, das ist die gehetzte
Generation: Menschen, die Job und Familie unter einen Hut bringen müssen. Frauen, die bis
19.00 Uhr an der Supermarktkasse sitzen und dann mit schlechtem Gewissen los rennen, um das
Kind abzuholen. Männer, die Montag früh auf Montage fahren und den Rest der Woche nicht die
Schulbrote für die Kinder machen können. Familien, die sich am Freitagabend ins Auto setzen,
um an anderen Ende der Republik übers Wochenende die eigenen Eltern zu besuchen. Gehetzt
vom Alltag und getrieben vom schlechten Gewissen. Wir kennen alle diese Beispiele. Die bittere
Wahrheit ist: Es fehlt nicht an Zeit. Zeit bleibt immer gleich. Zeit, die wir einsparen ist Zeit, die
wir sofort wieder ausgeben.
Oft sagen einige: „Ich hätte gern mehr Zeit“ und meinen: mehr Zeit für mich. Sich weniger
gehetzt fühlen, bewusster leben und den Augenblick erleben. Es ist mittlerweile ein Trend
geworden, der einen Namen hat: Mindfulness, zu Deutsch: Aufmerksamkeit. Es geht darum, den
Blick abzuwenden von der Welt und ihn auf sich selbst zu lenken. Klöster, in denen man
tagelang schweigen muss, bieten immer mehr solcher AUS-Zeiten an. Und irgendwelche
Werbungen, die Wellness für Körper und Seele verspricht, landet andauernd auf meinem
Smartphone. Warum auch immer. Wie viel Zeit man sich selbst schenkt, weiß jeder selbst am
besten. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber warum sollte sich Politik damit beschäftigen?
Eines der besten Beispiele, warum es wichtig ist für einander Zeit zu haben, erleben wir dieser
Tage. Menschen haben Zeit, Menschen nehmen sich Zeit und begrüßen Flüchtlinge, helfen in
Flüchtlingseinrichtungen, sammeln Kleidung und Spielsachsen, geben Essen aus, spielen mit
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den Kindern oder hören einfach nur zu. Hören die oft schrecklichen Geschichten über eine
anstrengende Flucht. Menschen verschenken landauf, landab ihre kostbare Zeit und erwarten
nichts dafür. Das ist gelebte Menschlichkeit.
Entscheidend ist also nicht Zeit an sich, sondern mehr Zeit füreinander: Sich die Zeit nehmen
und den Blick auf andere richten. Zuhören, sich kümmern, Fürsorge geben. Und ganz praktisch:
es der Kit unserer Gesellschaft. Überall, wo Menschen für einander sorgen, die Kinder betreuen
oder Angehörige pflegen, muss nicht der Staat einspringen. Familiäre Fürsorge,
bürgerschaftliches Engagement, lebendige Demokratie: überall geben Menschen ihre Zeit und
engagieren sich für einander, für das Gemeinwesen. Einander Zeit zu schenken ist eines der
schönsten Geschenke überhaupt