Seite 1 Betet ohne Unterlass 1. Thess. 5, 17 In der Lesung aus dem neuen Testament hörten wir: Betet ohne Unterlass! Wie kommt dieser Aufruf des Paulus bei Ihnen an? - als Zumutung? „Das kann man doch nicht von mir verlangen!“ - oder als unrealistische Aufforderung? Unrealistisch, weil wir doch auch noch anderes zu tun haben. Wir müssen doch auch arbeiten, unseren Lebensunterhalt verdienen, kochen, um hungrige Mäuler zu stopfen. Es kann doch nicht sein, dass Paulus meint, wir sollen den lieben langen Tag mit gefalteten Händen herumsitzen und beten. Ora et labora – Bete und arbeite ist ein Leitsatz des Benediktinerordens. Die Benediktiner scheinen ein besseres Verständnis für ein gesundes Verhältnis zwischen Beten und Arbeiten entwickelt zu haben. Aber muss es denn entweder / oder sein? Gibt es nicht auch den Weg des sowohl / als auch? Ist der Weg der Benediktiner etwa weniger fromm als der Weg derjenigen, die sich bemühen, unablässig zu beten? Es ist hilfreich zu sehen, in welchem Zusammenhang der Satz steht, der unseren Widerspruch herausfordert. In Thessalonich gab es eine junge, lebendige Gemeinde. Sie war durch Paulus auf seiner zweiten Missionsreise gegründet worden. Aus seiner Sicht war es sie eine vorbildliche Gemeinde [1. Thess. 1, 7], und doch gab es auch dort Probleme und Fragen, die Paulus gerne vor Ort geregelt und beantwortet hätte. Zweimal wurde er verhindert, nach Thessalonich zu reisen. So entschloss er sich, der Gemeinde zu schreiben. Offene Fragen betrafen unter andern die erwartete Wiederkunft des Herrn, Jesus Christus: Wann war er zu erwarten? Wie war die Zeit bis dahin zu verbringen? Was geschah mit den Menschen, die bereits verstorben waren? Zu diesen und anderen Fragen nimmt Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde Stellung. Er schliesst ihn mit den Anweisungen zum Gemeindeleben, die wir in der Lesung aus dem Neuen Testament heute hörten. Ich lese daraus noch einmal die Verse 14-18 (im 5. Kapitel des 1. Thessalonicherbriefes [NZÜ]): Wir reden euch aber zu, liebe Brüder und Schwestern: Weist die zurecht, die sich an keine Ordnung halten, ermutigt die Verzagten, steht den Schwachen bei, habt Geduld mit allen! Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte. Jagt vielmehr allezeit dem Guten nach, füreinander und für alle. Freut euch allezeit, betet ohne Unterlass, in allem sagt Dank; das ist der Wille Gottes, in Christus Jesus, für euch [1.Thess. 5, 14-18]. Wenn wir die grosse Anzahl dieser Anweisungen hören und auch an die denken, die ich jetzt nicht wiederholt habe, spüren wir, dass es Paulus dabei zum einen um eine Grundhaltung der Gemeindeglieder gegeneinander geht – Werte würden wir das heute vielleicht nennen oder Elemente der Gemeindekultur. Dabei haben dann allerdings – und das ist ein zweiter Aspekt - das Gebet und das Danken einen andern Charakter als die vorangegangenen Anweisungen. Das Gebet richtet sich an Gott. Es ist Teil unserer Gottesbeziehung. Betet ohne Unterlass! Das „ohne Unterlass“ scheint auch Bibelübersetzern Mühe zu bereiten, finden wir dazu doch recht unterschiedliche Formulierungen und an einigen Orten Fussnoten und Kommentare. So erklärt zum Beispiel die Neue Zürcher Übersetzung, „ohne Unterlass“ habe die gleiche Bedeutung wie „den Kontakt mit Gott nicht abbrechen lassen“. Seite 2 Hilfreich mag auch die Formulierung in der Neuen Genfer Übersetzung sein: „Lasst euch durch nichts vom Gebet abbringen“. Es geht darum, dass wir uns bewusst sind und bewusst bleiben, dass Gott immer und überall gegenwärtig ist und dass Er in seiner grossen Liebe mit uns in einer Beziehung stehen will. – Das Gebet ist Teil dieser, unserer Gottesbeziehung, die andauernd aufrecht erhalten bleiben darf und bleiben soll - ohne Unterlass. Viel ist schon über das Beten, seine Wichtigkeit und seine Bedeutung für unser Glaubensleben geschrieben und gepredigt worden. Ich möchte hier aus der Fülle der guten Worte einige wenige zitieren: Beten ist nicht Pflichtübung, sondern Beziehungspflege mit unserem Schöpfer und Vater im Himmel. Beten ist eine lebensnotwendige Grundtätigkeit wie atmen und essen und trinken. Das Gebet ist die Tür aus dem Gefängnis unserer Sorge. [Hellmut Gollwitzer] Für John Wesley ist das Gebet ein „Gnadenmittel Gottes“, ein Kanal, durch den uns Gott seine Gnade zufliessen lässt. Christoph Klaiber, Autor des Buches „Von Gottes Geist verändert“, fasst das, was in einer gelingenden Gottesbeziehung durch das Gebet geschieht, so zusammen: o Beten verändert mich o Beten verändert meine Beziehung zu Gott o Beten bewegt Gott o Was Gott bewegt, das verändert die Wirklichkeit (in der wir leben) Braucht es mehr, um die Wichtigkeit des Gebetes für uns und für die Welt, in der wir leben, darzustellen? – „Lasst euch durch nichts vom Gebet abbringen!“ Aber wie sieht unsere? deine? meine? Gebetspraxis aus? Wird sie dem hohen Anspruch der weltverändernden Beziehungspflege zu Gott gerecht? – oder gleicht sie eher der Situation, die Robert Seitz in einem „Gebet für moderne Menschen“ beschreibt: Lieber Gott, mein Gebetsleben ist oft ein Chaos. Manchmal bete ich und manchmal nicht. Oft weiss ich nicht, was und wie ich beten soll. Müde bin und der Tag ist ausgefüllt mit tausend Dingen. Dann vergesse ich den Himmel über mir. Wirkliche Gebetszeiten kenne ich schon lange nicht mehr. Ich wache auf und schon beginnt die Arbeit. Der Abend ist ausgefüllt mit Zerstreuung oder einer Sitzung. So vergeht Tag für Tag, und ich habe das Gefühl, du seist weit weg. Aber ich weiss, es ist umgekehrt: In Wahrheit bin ich weit weg von dir. Es ist unfair von mir: Erst in einer grossen Notlage schreie ich wirklich zu dir. Mein Dank in Richtung Himmel für die vielen guten Dinge kommt oft zu kurz. Aber gerade jetzt ertappe ich mich dabei, dass ich nach langer Zeit wieder einmal ehrlich bete, Seite 3 zu dir, meinem Gott. Bleibe im Gespräch mit mir, mein Gott, lass mein Leben immer wieder eine Antwort sein auf deine Liebe. [Robert Seitz, So weit der Himmel ist, 2012, Seite 200] Wie gut trifft dieses Gebet doch eine Situation, in der wir uns wieder erkennen: Arbeitsdruck und Müdigkeit verhindern ein starkes Gebet, die Routine tötet die Lebendigkeit, die im Gebet liegen könnte. Wir haben den Eindruck, unser Gebet sei dünn und nichtssagend. Wir wissen nicht mehr, wie und was wir beten sollen. Vom Theologen Karl Barth stammt zwar das Wort: „Wie man beten soll, das steht in der Bibel, was man beten soll, das steht in der Zeitung“. Das tönt so einleuchtend logisch, ist aber auf einer konkreten Durststrecke doch nicht immer ganz so hilfreich. Ich bin fest überzeugt, dass wir uns in solchen Situation von Gott selbst durch seinen Geist leiten lassen dürfen. Aber wollen wir das ganz ernsthaft? - Beten ist keine Pflichtübung, sondern Zwiesprache mit Gott. Das Gebet ist Teil unserer Gottesbeziehung. Gott nimmt Anteil an unserem Leben; ja, mehr noch: ER will Teil unseres Lebens sein, und das Gebet ist Bestandteil dieser Gottesbeziehung. Wo diese Beziehung gepflegt wird, da wächst Vertrauen, Vertrauen in Gottes Liebe und Treue. Und wo das Vertrauen wächst, da nimmt auch die Belastbarkeit der Gottesbeziehung, unseres Glaubens, zu. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns durch nichts vom Gebet abhalten lassen sollen. Eigentlich dürfte es nichts geben, das uns vom Beten abhalten dürfte. Und doch gibt es Situationen, wo uns nicht nur Arbeitsdruck oder Müdigkeit am Beten hindern. Es gibt Situationen, in denen es uns buchstäblich die Sprache verschlagen hat. Zeiten persönlicher Krisen können dazu führen, dass wir innerlich verstummen; dabei bräuchten wir gerade jetzt eine Möglichkeit, Schmerzvolles auszudrücken [Antje Sabine Naegeli]. - Was dann? Ich versuche, zwei Antworten darauf zu geben: Die eine: Eigentlich wissen wir es, aber es muss uns doch immer wieder gesagt werden: Es kommt nicht darauf an, schön zu beten, treffende Worte zu finden und wohlformulierte Sätze zu machen. Gott kennt uns durch und durch. ER weiss, was uns bewegt, vor IHM brauchen wir uns nicht zu verstellen und nicht zu verstecken. ER weiss, was uns zu IHM zieht und was uns von IHM abhalten will. – Es gehört aber zur Gottesbeziehung, dass wir unsere Empfindungen vor Ihm ausbreiten – und sei es auch nur, dass wir das in einem einfachen Stossgebet tun. Einer, in dessen Leben das Reden mit Gott in jeder Lebenssituation ausserordentlich wichtig war, war König David. Bei ihm lernen wir, wie danken, loben, fragen, klagen klingen mag. Dieser Bezug auf David führt zu einer zweiten Antwort, wenn wir in Hilflosigkeit verstummt sind. Wo eigene Worte fehlen, können wir zu Gebeten greifen, die andere formuliert haben. Es gibt viele ausgezeichnete Gebetsbücher. Es ist gut, eines oder mehrere davon zu besitzen – und dann aber auch zu wissen, wo man ein Gebet für eine bestimmte Situation findet. – Unser Gesangbuch ist eine Fundgrube: Im hinteren Teil [unter den Nummern 730 – 768] finden sich eine ganze Reihe Gebete, geordnet nach verschiedenen Situationen. Dazu gibt es bei den Liedern vorne eine Abteilung, überschrieben mit „Gebet und Vertrauen“ (Nrn. 336 – 361). Und eine weitere Fundgrube ist das Buch der Psalmen. Es gibt wohl kaum eine Lebenssituation, in der uns nicht ein Psalm oder einige Psalm Verse passende Worte zur Verfügung stellen würden. Das Problem ist nur, wie auch beim Gebrauch von Seite 4 Gebetsbüchern: Wie finde ich in einem Moment, in dem mir eigene Worte fehlen, das Wort, die Verse, den Psalm, die das zum Ausdruck bringen vermögen, was ich empfinde? Im Anschluss an einen Hauskreisabend, an dem gerade dieses Problem des Suchens und Findens zur Sprache kam, ist ein Übersichtsblatt entstanden, das Psalmen und Psalm Verse verschiedenen Lebenssituationen zuordnet. Im Foyer findet ihr Kopien dieser Gebetshilfe zum Mitnehmen. Lange habe ich nun über die Notwendigkeit und die Ernsthaftigkeit des Gebets und über Schwierigkeiten beim Beten gesprochen. Aber Beten, verstanden als lebendige Beziehungspflege zu Gott, umfasst ja auch frohe Dankbarkeit und Loben und Singen. Im Lob öffnen wir uns Gott noch einmal auf ganz besondere Weise, und im Gesang ist uns noch eine weitere Dimension der Ausdrucksweise geschenkt. - Viel gäbe es dazu zu sagen, viel auch zu verschiedenen Gebetsformen und Gebetshaltungen. Aber ich werde jetzt schliessen, schliessen mit drei Blitzlichtern auf drei ganz verschiedene Gebetssituationen - und dabei bin ich froh, dass Gott auch Sinn für Humor hat. Kinder überraschen uns immer wieder aufs Neue, auch wenn es ums Beten geht: So beobachtete ein Kind seine Familie beim Gebet und stellte fest, dass die Erwachsenen ihre Hände unterschiedlich falteten. Sein Kommentar: „do bätte – do bätte – do bätte“ (so beten, so beten, so beten). Wir aber werden damit vor die Frage nach unserer inneren Gebetshaltung und dem Festhalten an festgefahrenen Formalismen gestellt. Aus dem grossen Schatz jüdischer Witze: Janki bittet jeden Tag den lieben Gott: „Bitte, lass mich in der Lotterie gewinnen! Bitte, lass mich in der Lotterie gewinnen!“ Als er diesen Wunsch wieder einmal besonders inbrünstig wiederholt, öffnen sich die Himmel und eine Stimme antwortet: „Janki, gib mir eine Chance! Kauf dir ein Los!“ Bleibt auch da eine Frage an uns: Erkennen wir, wo unser Tun gefordert ist und wo wir etwas getrost Gott überlassen sollen? Lange könnten wir darüber sprechen und nachdenken! Geschichte vom Sepp: [Geschichte von Axel Kühner, zitiert durch Urs Bangerter im Tabea Blatt, Beginn 2006] Dem Pfarrer fiel ein älterer Mann auf, der jeden Morgen um 7 Uhr die Kirche betrat und sie bald wieder verliess. Eines Tages wartete er auf den Mann und fragte ihn, was er denn täglich in der Kirche mache? Der Mann antwortete: „Ich bete!“ Auf die Feststellung: „Aber Sie sind nie lange genug da, um wirklich beten zu können!“ erklärte der Mann: „Ich kann kein langes Gebet sprechen, aber ich komme auf dem Weg zur Arbeit vorbei und sage: ‚Jesus, hier ist der Sepp!‘ Dann warte ich eine Minute, und er hört mich.“ Jahre später kam Sepp ins Altersheim. – Nach einiger Zeit rief ihn die Leiterin des Pflegedienstes: „Sepp“ bemerkte sie, „Sie sind immer so glücklich und froh!“ „Schwester, ich kann nichts dafür, dass ich fröhlich bin. Das kommt durch meinen Besucher.“ … „Ihr Besucher?“ fragte sie, „wann haben Sie denn Besuch?“ „Jeden Seite 5 Tag, am Morgen um 7 Uhr“, antwortete Sepp. „Er kommt herein, steht am Fussende meines Bettes und sagt: „Sepp, hier ist Jesus!“ … Ich wünsche uns allen die Erfahrung einer so gelebten Gottesbeziehung! Betet ohne Unterlass! Mit diesem Wort starteten wir und fragten uns dabei, ob das überhaupt möglich sei. Mit Lasst euch durch nichts vom Gebet abbringen glaubten wir, einen Weg zu einem realistischen Verständnis des Wortes gefunden zu haben. Aber ich bin auch zu tiefst davon überzeugt, dass unser ganzes Leben ein ununterbrochenes Gebet sein kann. Gott helfe uns dazu! Amen Gebet Grosser, allmächtiger Gott, Vater unseres Herrn Jesus Christus Danke, dass Du auch unser Vater bist. Danke, dass Du uns trägst und erträgst mit all unseren Gefühlen und Gedanken. Danke, dass wir uns Dir im Gebet nähern dürfen, überall und jederzeit. Danke für Deine Liebe. Herr, wir bekennen, dass unser Gebet oft kraftlos und mutlos ist, dass es untergeht in der Routine unseres Alltags. Und doch bist Du da, offen für uns und unsere Anliegen. Wir bitten Dich, stärke unser Gebetsleben, lass uns spüren, was in einem bestimmten Moment wichtig ist: Lob, Dank, Bitte, Fürbitte, Busse, Anbetung, oder einfach stille sein und hinhören; Du weisst, wie uns das Übermass an Worten und die Flut von Bildern das StilleSein schwer machen. Erbarme Du Dich unser, und führe uns durch Deinen Geist in eine vertrauensvolle, tragfähige Beziehung zu Dir. Wir bitten Dich für die Menschen, auch hier unter uns, die nach Worten suchen, mit denen sie sich Dir nähern dürfen. Gib Ihnen das Vertrauen, dass Du sie kennst und hörst. Wir bitten Dich für die, die in treuer Fürbitte für Mitmenschen einstehen. Lass sie erkennen, was Dein Wille ist, damit sie in Deinem Sinne beten können. Wir bitten Dich für Angefochtene. Lass sie spüren, dass Du ihnen nahe bist und dass Du sie nicht allein im Regen stehen lässt. Wir bitten Dich, dass unser Reden mit Dir den Platz in unserem Leben hat, der Deinen Absichten mit uns entspricht. Und so bitten wir Dich auch, dass Du mit uns kommst, wenn wir jetzt dann dieses Haus verlassen und zurückkehren zu den Menschen, die Du uns an die Seite stellst. Wir loben Dich und danken Dir. Amen Unser Vater
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