Eine Medizin-Soziologin über Arzt-Patienten

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Titelthema
Die Patientin betritt das Sprechzimmer ihres Arztes und setzt
sich hin. Sie zeigt auf ihr Knie, erklärt, sie sei vor zwei Tagen vor
dem Baumarkt hingefallen und habe seitdem Schmerzen. Der
Arzt nickt, tastet die nur leichte Schwellung ab. Es folgt ein beruhigendes Lächeln des Mediziners: „Alles halb so wild.“ Die Finger
fliegen über die Tastatur, schnell wird der Name einer bestimmten
Salbe herausgesucht. „Bitte auftragen, bis die Schwellung nachlässt. Wenn es nicht besser wird, bitte wiederkommen – Rezept
gibt’s draußen.“ Man schüttelt sich zum Abschied die Hände, die
Patientin verlässt die Praxis. Beim Abendessen fragt der Ehemann:
„Und – wat hat der Doktor jesacht?“ Die Antwort: „Keene Ahnung,
aber ick muss dit hier druff schmieren …“
理解
KV-Blatt 07.2015
Titelthema
KV-Blatt 07.2015
Eine Medizin-Soziologin über Arzt-Patienten-Kommunikation:
Haben Sie noch Fragen?
Eine Szene, wie sie in vielen Arztpraxen
Deutschlands spielen könnte: Der
somatisch behandelnde Arzt und
„seine“ Patientin verstehen sich einfach
nicht oder sie reden aneinander vorbei – Paradebeispiele für gestörte Kommunikation. Auch ärztliche Standesvertreter sind sich der Störanfälligkeit des
Arzt-Patienten-Gesprächs bewusst: Auf
dem 118. Deutschen Ärztetag in Frankfurt am Main diskutierten die Delegierten unter dem Tagesordnungspunkt
„Kommunikative Kompetenzen im
ärztlichen Alltag – Verstehen und Verständigen“ die zahlreichen möglichen
Ursachen einer gestörten Arzt-PatientKommunikation. Auch die aktuelle Auflage der Imagekampagne „Ich arbeite
für Ihr Leben gerne“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) thematisiert das Gespräch zwischen Arzt
und Patient gleich auf mehreren großflächigen Plakaten, die in allen deutschen Großstädten aushängen.
Das KV-Blatt hat die Kölner MedizinSoziologin Professor Dr. Nicole Ernstmann gefragt, warum es in der Kommunikation zwischen Medizinern und
Patienten immer wieder zu Problemen und Missverständnissen kommt.
Ernstmann forscht seit mehreren Jah-
ren unter anderem im Bereich der
Kommunikation und Organisation im
Gesundheitswesen.
KV-Blatt: Das direkte Gespräch mit
Patienten ist ein essenzieller Bestandteil des ärztlichen Arbeitsalltags. Dennoch scheinen viele Ärzte Schwierigkeiten damit zu haben, die richtigen
Worte zu finden. Woran liegt das?
Nicole Ernstmann: Da spielen mehrere
ungünstige Faktoren zusammen: Im
Hinblick auf die Ärzte ist dies unter
anderem eine Generationenfrage: Bei
vielen „Veteranen“ unter den Ärzten
hatte die Schulung der kommunikativen Fähigkeiten keinen großen Stellenwert in der Ausbildung, das haben
wir in unseren Erhebungen immer wieder festgestellt.
KV-Blatt: Ist das bei heutigen Medizinstudierenden anders?
Nicole Ernstmann: Bei den jungen Nachwuchsmedizinern hat sich
herausgestellt, dass diese zu Beginn
ihres Studiums meist sehr enthusiastisch und mit großem Interesse an
einer lebendigen Arzt-Patienten-Kommunikation an die Arbeit gehen. Wenn
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KV-Blatt: Also eine Frage der sensibilisierenden Ausbildung?
die Studierenden jedoch einige Semester später in den klinischen Teil des
Studiums wechseln, kommt es bei vielen zu einem gegenteiligen Effekt: In
unseren Studien konnten wir eine drastische Abnahme der Empathiefähigkeit
feststellen.
Nicole Ernstmann: Es mangelt meiner Meinung nach in der ärztlichen
Aus- und Weiterbildung immer noch an
einer Kultur des Begleitens von Studierenden und jungen Ärzten. Im Rückblick auf den 118. Deutschen Ärztetag in Frankfurt hätte ich persönlich
mir dahingehend ein paar mutigere
Beschlüsse der Delegierten gewünscht.
Ich erachte es als sehr wichtig, wenn
das Erlernen kommunikativer Fähigkeiten verbindlich in das Medizinstudium eingebaut wird.
KV-Blatt: Ausgerechnet dann, wenn der
erste Kontakt zu Patienten entsteht?
Nicole Ernstmann: An diesem Punkt
der Ausbildung konnte bei vielen Studierenden bereits eine Sozialisation der
Abgrenzung festgestellt werden. Nicht
wenigen fällt es plötzlich schwerer, mit
der nötigen Sensibilität auf Patienten
einzugehen. Das ist ein sehr unvorteilhafter Effekt, und es erscheint wichtig,
dieser Entwicklung entgegenzuwirken,
denn: Hat ein junger Arzt diese Angewohnheit einmal verinnerlicht, wird es
nach dem Studium und nach der Facharztausbildung für ihn sehr schwer,
dieses Verhalten abzulegen.
KV-Blatt: Also verpflichtend?
Nicole Ernstmann: Diejenigen Ärzte,
die ihre eigenen kommunikativen
Fähigkeiten im Verlauf ihres Berufslebens häufiger reflektieren, werden
sich sicherlich auch vermehrt für Weiterbildungen im Bereich der ärztlichen
Kommunikation interessieren. Menschen sind jedoch unterschiedlich, und
nicht jeder Arzt legt gleichviel Wert auf
die Ausbildung der eigenen sprachlichen Fähigkeiten. Kritisch wird es
besonders dann, wenn Ärzte von ihren
Patienten eine Rückmeldung über die
eigenen Sprachfähigkeiten erwarten
und indirekt die Informationspflicht
auf den Patienten übertragen.
KV-Blatt: Der Arzt muss das Gespräch
leiten …
Nicole Ernstmann: … er bestimmt,
wie lange ein Gespräch dauert, und
er kontrolliert den Fluss der Informationen, die den Patienten erreichen.
Dies ist ein klares Machtgefüge von
„Oben“ und „Unten“, ein sehr sensibler Bereich in der Arzt-Patienten-Beziehung, und man sollte hier nicht den
Fehler machen, die Verantwortung auf
die Patienten abzuschieben.
KV-Blatt: Könnten Kommunikationskurse hier Abhilfe schaffen?
Nicole Ernstmann: Dazu muss untersucht werden, welche Evidenz solche
Schulungen haben. Es ist unverzicht-
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KV-Blatt 07.2015
bar, dass solche Trainings „State of the
Art“ sind, sich also nach neusten Forschungsergebnissen ausrichten. Was
wir wissen: Kommunikation ist ein
ungemein machtvolles Instrument.
Ärzte sind sich dieser Macht häufig
nicht bewusst, denn mit wenigen Worten lassen sich bei Patienten Ängste
reduzieren, aber auch schüren. Mit
einem einzigen gesprochenen Satz
kann die Lebensqualität eines kranken
Menschen maßgeblich verbessert oder
verschlechtert werden.
Ein gelungenes Gespräch verbessert
die Diagnosegenauigkeit enorm. Die
Frage lautet jedoch: Schaffen wir es,
durch gezielte Kommunikationstrainings all das zu verbessern? Hier ist
die Forschungslage leider nicht eindeutig. Wir wissen, dass sich durch ein
Training der Kommunikationsfluss verbessert, doch konnten wir noch nicht
nachweisen, inwiefern sich auf der
„Outcome“-Seite, also dem Behandlungserfolg, positive Auswirkungen
feststellen lassen.
Manche Dinge lassen sich in einem
Training auch nicht simulieren – zum
Beispiel die Organisation in der Praxis
der Niedergelassenen. Da muss jeder
Arzt für sich entscheiden, wie weit man
der Kommunikation in der Praxisarbeit
einen Stellenwert gibt.
Patienten wollen
sich nicht von
oben herab
belehren lassen
möglichst gute Adhärenz muss der
Arzt wissen, ob sein Patient wirklich
alles verstanden hat, was im vorhergehenden Gespräch gesagt wurde.
KV-Blatt: Verstehen Patienten ihren
Arzt oft nicht?
Nicole Ernstmann: Das ist tatsächlich
immer noch ein großes Problem. Zwischen dem behandelnden Arzt und
seinem Patienten besteht auf der kommunikativen Ebene immer noch eine
große Asymmetrie. Die sogenannte
Gesundheitskompetenz der Patienten
spielt heute aber eine immer größere
Rolle – Patienten wollen sich nicht von
oben herab belehren lassen. Sie wollen
auf Augenhöhe mit dem Arzt kommunizieren.
Nicole Ernstmann: … ich denke, dass
der Aufbau einer guten Beziehung zum
Patienten nicht primär eine Frage der
Zeit ist. Es gibt keine Studie, die belegt,
dass ein langes Beratungsgespräch
zwangsläufig für den Patienten mehr
Informationen abwirft. Wenn man sich
empathisch zuwendet, kann auch ein
kurzes Gespräch den Patienten zufriedenstellend informieren.
Etwas flapsig formuliert: Ärzte müssen ihre Patienten im Gespräch mehr
abholen, denn im Hinblick auf eine
Foto: Privat
KV-Blatt: Für ein gutes Gespräch mit
Patienten brauchen Ärzte aber auch
Zeit …
Der Umfang, in dem Patienten die
ihnen durch den Arzt übermittelte
Informationen verstehen, hängt im
Übrigen nicht zwangsläufig mit der
schulischen Bildung zusammen. Auch
bei Patienten mit hohem Bildungsniveau, wie etwa Akademikern, haben
wir bei 50 % der Befragten festgestellt,
dass sie ihren Arzt nicht verstehen. Der
Grund: Es werden häufig schlicht zu
viele Informationen in ein Patientengespräch gepackt. Nach dem Gespräch
haben 80 % der Patienten das zuvor
Gehörte wieder vergessen.
KV-Blatt: Wie können Ärzte dem entgegenwirken?
Nicole Ernstmann: Gelungene Kommunikation bedeutet auch, Informationen einzugrenzen und auf die für den
Patienten aktuell relevanten Fakten zu
beschränken. Ärzte müssen ein Gefühl
dafür entwickeln, welcher Mensch vor
ihnen sitzt und welche Vorkenntnisse
oder Vorbildung der Patient besitzt. So
kann der behandelnde Arzt bereits vor
Beginn des Gesprächs über Form und
Umfang der Informationen entscheiden.
Die klassische Frage des Arztes beispielsweise, ob der Patient „noch FraProfessor Dr. Nicole Ernstmann (geb.
1975 in Münster) ist Juniorprofessorin
für Medizinsoziologische Versorgungsforschung an der Universität zu Köln.
Sie studierte Psychologie in Düsseldorf und promovierte und habilitierte
in Versorgungsforschung und Medizinsoziologie an der Universität zu Köln.
Nicole Ernstmann leitet die Abteilung
Medizinische Soziologie am Institut
für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft
(IMVR). Ihre Forschungsschwerpunkte
liegen im Bereich der Kommunikations- und Organisationsforschung im
Gesundheitswesen. Viele ihrer Studien
befassen sich mit den Bedürfnissen und
der Gesundheitskompetenz onkologischer Patientinnen und Patienten. red
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gen“ habe, ist in den meisten Fällen
nicht zielführend: Am Ende eines
Gesprächs mit dem Arzt mussten die
meisten Patienten bereits eine Flut an
Informationen verarbeiten und reagieren überfordert. Sie trauen sich dann
schlicht nicht, nochmal genauer nachzufragen.
KV-Blatt: Sie vertreten die These, dass
Distanzierung gegenüber den Patienten und deren Leid den Arzt nicht
vor Burnout und Zynismus schützt.
Können Sie das begründen?
Nicole Ernstmann: Genau das Gegenteil ist der Fall: Nähe zum Patienten
und ein hohes Maß an Empathie können durchaus Zufriedenheit bei den
behandelnden Ärzten auslösen. Das
konnte bei Befragungen von ärztlichem Personal auf Onkologie-Stationen mehrfach festgestellt werden.
Gleiches gilt für Ärzte, die in der Pallia-
Junge Mediziner übersetzen ärztliche
Befunde für Patienten
Die Mediziner Anja und Johannes Bittner und der Informatiker Ansgar Jonietz
betreiben seit vier Jahren das Onlineportal „Was hab’ ich?“. Auf der Webseite
der gemeinnützigen GmbH können sich
Patienten ärztliche Befunde von Medizinstudierenden „übersetzen“ und erklären lassen. Die Idee zu „Was hab’ ich?“
kam den drei Jungunternehmern während ihres Studiums an der Uni Dresden: Häufig seien sie von Freunden
oder Verwandten angesprochen worden, wenn diese eine ärztliche Diagnose
nicht verstanden hatten. Bisher wurden
über 20.000 Befunde übersetzt: „Viele
Patienten möchten auf Augenhöhe mit
ihrem behandelnden Arzt über mögliche
Therapien sprechen können – daher
ist es ihnen besonders wichtig, ihre
Befunde richtig verstanden zu haben“,
vermutet der „Was hab´ ich?“-Miterfinder Johannes Bittner. *
ck
* MehrInformationenaufderInternetseitewww.washabich.de
Foto: Marcus Müller-Saran
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tivmedizin arbeiten. Dort, wo ärztliche
Empathie am meisten gefordert wird,
ist die Berufszufriedenheit am meisten ausgeprägt. Man kann also nicht
sagen, dass geringe Distanz zum Patienten zwangsläufig Erschöpfungszustände nach sich zieht. Die Beziehung
zum Patienten soll sich natürlich auf
einer professionellen Ebene abspielen –
aber auch eine professionelle Beziehung kann auf Nähe und Vertrauen
basieren.
KV-Blatt: Viele Ärzte beklagen den
engen budgetären Rahmen bei der
beratenden Gesprächsführung. Ist die
von Ihnen vorgeschlagene Neubewertung des Arzt-Patienten-Gesprächs
überhaupt finanzierbar?
Nicole Ernstmann: Ein effektives
Gespräch mit dem Patienten muss
nicht zwangsläufig lang sein, das
haben zahlreiche Studien in der
Kommunikationswissenschaft gezeigt.
Dabei kann es hilfreich sein, wenn Arzt
und Patient zu Anfang der Behandlung zunächst Ziele festlegen. Der Arzt
muss den Patienten fragen, was er von
der Behandlung erwartet. Keine Zeit zu
haben bedeutet meines Erachtens, das
Patientengespräch im Behandlungsablauf nicht prioritär zu bewerten.
Häufig wird die Ausstellung eines
Rezeptes von befragten Ärzten als primäres Ziel eines durchschnittlichen
Arzt-Patienten-Gesprächs angegeben.
Da muss es nach meiner Auffassung
zu einem Paradigmenwechsel kommen,
denn das Gespräch mit dem Patienten
nimmt an Bedeutung zu. Im Zuge des
demografischen Wandels werden wir
mit durchschnittlich immer älteren
Patienten auch immer mehr Chroniker
zu versorgen haben. Gerade bei dieser
Gruppe ist eine klar verständliche Beratung durch den behandelnden Arzt
besonders wichtig.
KV-Blatt: Vielen Dank für das Gespräch
Die Köpfe hinter washabich.de: Anja Bittner, Ansgar Jonietz und Johannes Bittner
Die Fragen stellte Dr. Christian Klotz