Tö ssemerGeschichte 100 Jahre Waldschenke auf dem Brühlberg Von Matthias Erzinger «Auf zum Brühlberg» schrieb der Sozialistische Abstinentenbund am 18. September 1915 in der Winterthurer AZ und lud zum Familiennachmittag auf der Spielwiese ein. Noch im selben Jahr wurde aus einer alten Baracke die Waldschenke erstellt, um den Familien der Arbeiter in Winterthur eine günstige Ausflugsmöglichkeit zu schaffen. Erwin Killer verbrachte einen grossen Teil seiner Jugend als Sohn des Hüttenwartpaares in der Waldschenke. An einem Jubiläumsanlass erzählte er aus seinen Erinnerungen. 78-jährig ist Erwin Killer heute, und lebt in Hölstein, Baselland. Aber die Erlebnisse in der Waldschenke auf dem Brühlberg sind ihm noch sehr präsent. Kein Wunder: während vieler Jahre war die Waldschenke sein zweites Zuhause. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren seine Eltern, Walter Killer und Hulda Killer-Hafner, die Hüttenwarte in der 1915 aus einer alten Baracke erstellten Waldschenke. Die Familie lebte in Töss, an der Freiestrasse. Der Vater war zuerst Kranführer und arbeitete später in der Hausdruckerei der «Sulzere». Die Mutter arbeitete bis zur Heirat in der Spinnerei Niedertöss, danach reparierte sie als Heimarbeiterin Militärgewänder. «Während des Kriegs zum Beispiel, wenn ein Bataillon Urlaub hatte, gingen wir mit dem Leiterwagen ins Zeughaus und nahmen kaputte Kleider und weitere Ausrüstungsgegenstände mit nach Hause, und die Mutter reparierte sie umgehend», erinnert sich Erwin Killer. Die meiste Freizeit der Familie Killer aber gehörte dem Sozialistischen Abstinentenbund (SAB) und der 1915 erbauten Waldschenke. Balakola — das Winterthurer Cola-Getränk Auch der etwas über 10-jährige Erwin musste bei der Betreuung der Waldschenke mithelfen. So wurde er jeweils am Freitagabend vom Coop-Chauffeur (damals noch Konsumverein), der die frischen Backwaren brachte, zuhause abgeholt. «Auf grossen Blechen kamen diese Waren aus der Bäckerei in der Grüze. Schoggi-S, Vogelnester, ... die gibt es ja auch heute noch.» Dann fuhren Sie hoch zur Waldschenke, und der Bub musste die Backwaren sicher verstauen. «Das war gar nicht so einfach, die grossen Bleche richtig zu lagern.» Auch die Getränkelieferungen entgegenzunehmen war seine Aufgabe. «Die Getränke kamen von der Firma Balauf, die im Rosenbergquartier ihren Sitz hatte. Und die auch ein eigenes Cola-Getränk herstellte, das damals in der Waldschenke auf grossen Zuspruch stiess: das «Balakola». Gegen hundert Menschen kamen an schönen Samstagen und Sonntagen zur Waldschenke. Auf den beiden Bocciabahnen spielten die italienischen Genossen ihr Spiel, und diskutierten laut. Eine Gruppe von Jassern sass an ihrem Stammtisch und spielte — manchmal am Samstag weit in die Nacht hinein, obwohl das Hüttenwartepaar schon Iange nach Hause wollte. Gut hatte man das Heu Spielwiese im Dachstock der Schenke gelagert: so hatte man da auch ein Nachtlager und konnte im Heu schlafen, wenn es zu spät wurde. Für Kinder jeweils ein besonderes Vergnügen. Wenn Hochbetrieb war, musste manchmal der Wasservorrat ergänzt werden: Die Waldschenke war nicht an Wasserversorgung angeschlossen und hatte eigenes, kleines Reservoir etwas oberhalb von Töss im Wald. «Ich musste da von Hand mit einer Pumpe Wasser aus dem Grundwasser hoch pumpen.» Noch viele Geschichten weiss er zu berichten. Zum Beispiel von der Einbruchserie, als Vorstandsmitglieder zusammen mit dem Tössemer Kantonspolizisten Wache schoben — und ihrem überraschenden Ausgang. Diese Geschichte und andere Anekdoten wusste Erwin Killer am 3. Juli 2015 am Jubiläumsanlass der Waldschenke zu erzählen. Aus der Not geboren Als die Familie Killer die Waldschenke nach d zweiten Weltkrieg übernahm, war diese schon über 30-jährig — und bereits in den dreissiger Jahren erstes Mal erweitert worden. Am Anfang stand die grosse Spielwiese im Vordergrund. Diese hatte der SAB von der Stadt erhalten, um für die Arbeiterfamilien eine günstige Ausflugsmöglichkeit zu schaffen. Und natürlich eine Alternative zu den Gaststätten mit Alkoholausschank. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 nahm die soziale Not vor allem Töss und im Tössfeld stark zu — und so beschloss die Winterthurer Sektion, bei der Spielwiese auch eine einfache Schenke zu bauen. Das Material dazu kam ausgerechnet von einer alten Baracke einer Schnapsbrennerei. Von Beginn an diente die Waldschenke als Wochenendgaststätte, auch im Winter. Um überhaupt einen Teil warm halten zu können, wurden Trennwände eingebaut, die sich aufschieben liessen. Höhepunkte des Waldschenkejahres bildeten jeweils die Theater der Arbeiterkulturorganisation, die Vorführungen des Arbeiterturnerbundes oder Arbeiter-Männerchores. Mitte der dreissiger Jahre wurde die Waldscher um einen zweiten Flügel ergänzt und renoviert, aber schon um 1950 musste der SAB wieder auf Betteltour gehen, um Geld für eine erneute Renovation sammeln. 1957 konnte die nochmals erweiterte und. sanierte Waldschenke feierlich eröffnet werden. Betrieb durch die Naturfreunde Mitte der sechziger Jahre konnte der SAB den Betrieb nicht mehr aufrechterhalten. Es fehlte der Nachwuchs, und Erwin Killers Eltern wollten ihr Amt abgeben. So übernahmen die Naturfreunde den Betrieb, während die Waldschenke immer noch dem SAB gehörte. 1974 schliesslich über nahm die Arbeiterunion die Waldschenke vom SAB käuflich, der Betrieb wurde auch weiterhin durch die Naturfreunde gewährleistet. Nun war nicht mehr ein Ehepaar für die Waldschenke zuständig, und der Betrieb dauerte auch nur noch von Anfang Mai bis Ende September. Tausende von Stunden ehrenamtlicher Arbeit stecken in der Waldschenke — aber für viele Kinder bildete sie über die Jahre immer wieder ein einzigartiges Erlebnis. Seit 2007 führt die Arbeiterunion den Betrieb selbst. Im Vordergrund steht nun die Vermietung der Waldschenke an Private. Über hundert Vermietungen sind es pro Jahr. War die Jahresrechnung 1936 noch etwas über 1000 Franken ist es heute beinahe das Zwanzigfache. Ein Gewinn entsteht dabei nicht, wird doch laufend wieder investiert. Und als Hommage an die Gründer finden von Frühjahr bis Herbst jeden Monat ein Sonntagsbrunch für Familien statt. Und wieder gibt es Kinder, die mit der Waldschenke gross werden. (aus „De Tössemer“ Juni 2015)
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