ANSPRACHE Krankengottesdienst 2015 Für diese Andacht stellen Sie ein großes Glas auf den Altar und füllen es mit einer gut sichtbaren Flüssigkeit. Liebe Gemeinde! Schauen Sie und urteilen Sie: Ist dieses Glas nun halb voll oder halb leer? Ganz spontan werden einige sagen: "Halb voll!", andere: "Halb leer!" Wer erst nachdenkt, wird antworten: "Was für eine Frage! Beides ist richtig. Wie man antwortet, hängt von der Lebenseinstellung ab. Kommt drauf an, ob man Optimist ist oder Pessimist." Nun ist das ja schon fast eine Scherzfrage, dieses "Halb voll oder halb leer?" Aber mich hat diese scherzhafte Frage darauf gebracht, dass in unserem Leben nicht nur jeweils unterschiedliche Sichtweisen herrschen und uns bestimmen, sondern dass auch fast alles, was wir erleben, zwei Seiten hat. Zum Beispiel hat die Arbeit zwei Seiten. Auf der einen Seite ist sie anstrengend, oftmals langweilig und immer dasselbe und eben ein Muss, weil ich Geld brauche fürs Essen, Wohnen, Heizen. Auf der anderen Seite kann ich bei meiner Arbeit zeigen, was in mir steckt, was ich alles kann, die Zeit vergeht, ich habe etwas zu tun, und ich merke, es gibt Menschen, die brauchen mich, ohne meine Arbeit ging es ihnen schlechter. 1 Auch Lebensalter haben zwei Seiten: Denken Sie mal an Ihre Kindheit. Sie haben sicher genauso oft wie ich den Spruch gehört: "Dazu bist du noch zu klein!" Auch Sie werden nicht viel haben selber entscheiden können: in welche Schule ich kam, welcher Pullover mir gekauft wurde, was es zu Mittag gab, all das entschieden meine Eltern. Damals habe ich oft davon geträumt, endlich groß zu sein und selbst bestimmen zu können. Und als es dann so weit war, da begann ich die zweite Seite der Kindheit zu erkennen: Ich war geborgen, es gab da immer jemanden, der mich beschützte und versorgte, und ich konnte in den Tag hineinleben ohne Verantwortung, weil da andere waren, die für mich sorgten. Und wie viel Lebenszeit lag damals noch vor mir, gar nicht auszudenken, dass man selbst einmal 30 oder gar 50 oder gar 70 Jahre alt sein würde. Und ich bin sicher, Sie werden mir zustimmen, dass auch das Alter zwei Seiten hat: Da kann man von den Anstrengungen der Arbeit ausruhen, es gibt nicht mehr die vielen Termine und die Last der Verantwortung. Vieles geht gemächlicher und ruhiger zu. Ja, wenn da nicht die Gebrechen des Alters wären, dass man nicht mehr so gut sieht oder hört, wenn da nicht die Krankheiten wären wie Arthrose und Rheuma, Osteoporose und andere Alterskrankheiten. Dazu kommt, dass so manchem einfach langweilig ist im Alter, er muss nun nichts mehr tun, aber er weiß auch nichts mit seiner Zeit anzufangen. Ja, und Zeit: Das Stichwort "Zeit" markiert, dass man als alter 2 Mensch eben auch weiß: Allzu viel Zeit habe ich nicht mehr. Mein Leben ist bald um! Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass in der Bibel so von Gott geredet wird, dass man auf die Idee kommen kann: Auch Gott hat zwei Seiten: Da ist der zornige Gott, der die beiden großen Städte Sodom und Gomorra wegen der Sünden der Bewohner vernichtet, ja, der wenige Kapitel zuvor die ganze Menschheit mit der Sintflut auslöschen wollte. Da ist der Gott, der durch Propheten wie Amos Gericht und Untergang ansagen lässt. Ja, und da ist die andere Seite Gottes: Gott, der nach der Sintflut merkt: Es hat sich bei den Menschen eigentlich nichts geändert, ihr Herz ist immer noch böse von Jugend auf! Aber er findet sich damit ab, verspricht, dass er niemals mehr die Menschheit vernichten will. Da spricht der Prophet Hosea vom Erbarmen Gottes, der trotz allen Zorns über die Sünde und das Unrecht nicht einfach strafen und verstoßen kann, und bei Jesus wird dieses Erbarmen, die Vergebung nicht nur gesagt, sondern gelebt bis zum Tod am Kreuz. Ja, und nun? Das ist doch ziemlich verwirrend und belastend, dass alles zwei Seiten hat, selbst Gott. Was soll man da denken und wie soll man damit umgehen? Ich möchte Ihnen zwei Ratschläge geben: Erstens: Machen Sie sich immer wieder klar - bei allem, was Sie erleben oder kennenlernen: Es hat alles zwei Seiten. Es gibt nichts nur Gutes, 3 Erfreuliches, Angenehmes, aber nichts und niemand ist auch nur schlecht oder böse. Das zu wissen, macht gelassener und es verhindert manchen Streit. Der zweite Ratschlag: Suchen Sie gerade in dem, was Ihnen schlecht oder böse vorkommt, was Sie quält oder ärgert, die gute Seite. Das Gute des verregneten Sommers, das Gute in manchen Krankheiten zum Beispiel. Das ist nicht ein hoffnungsloser Optimismus, der sich etwas vormacht, sondern es ist eine Lebenshaltung, die entdeckt, was Gott auch im Schlechten an Gutem versteckt hat. Denn, wenn alles zwei Seiten hat, dann hat eben auch dies oder jenes Schlechte eine gute Seite, Sie haben sie nur noch nicht entdeckt! So zu denken, ist eine wirkliche Lebenshilfe, und letztlich hat es auch sein Recht, denn nach der Bibel ist am Ende aller Zeit wirklich alles gut, wie es in der Offenbarung des Johannes heißt. Pfarrer Dieter Reutershahn 4
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