PI-Symposium „Spuren hinterlassen...“, 27. & 28.10.2015

Bildung und Sport
PI-Symposium „Spuren hinterlassen...“, 27. & 28.10.2015
Schriftliche Workshopdokumentation
Workshop Nr.: 4
Thema:
Das Lernhaus-Konzept – was ist im Lernhaus lernwirksam?
Referierende: Dr. Christine Wesselowsky, Anja Pfeng
Diese Dokumentation ist im Rahmen eines Kooperationsprojekts des Pädagogischen Instituts
mit der KSFH München und der LMU München entstanden.
Die nachfolgenden Aufzeichnungen geben den Eindruck der AutorInnen wieder
und sind nicht mit den Referierenden der Workshops abgestimmt.
AutorInnen:
Matthias Kachel
Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Das Lernhaus-Konzept
1. Wissenschaftlicher Hintergrund zum Workshop
Aufgrund der relativ neuen Konzeption des Lernhaus-Konzepts ist ein theoretischer Hintergrund
dazu noch nicht etabliert. Im Lernhaus-Konzept zeigen sich jedoch – direkt oder indirekt –
Einflüsse aus Sozialarbeitstheorien wie der alltagsorientierten Sozialen Arbeit nach Hans
Thiersch und der Lebensbewältigung nach Lothar Böhnisch. Dementsprechend finden sich hier
auch Aspekte aus Robert J. Havighursts Konzept der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
und Klaus Hurrelmanns Arbeiten zur Sozialisation im Jugendalter. Ferner lassen sich hier
Parallelen zu Erik Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung ziehen. Zudem folgt
das Lernhaus den Erkenntnissen John Hatties aus seiner – oft mit seinem Namen
umschriebenen – Studie „Visible Learning“, bzw. auf Deutsch „Lernen sichtbar machen“, nach
denen sich Bindung, Beziehung und Bildung gegenseitig bedingen. Das Lernhaus-Konzept
bezieht sich außerdem auf die Bedingungen für das Entstehen intrinsischer Motivation nach
Edward L. Deci und Richard M. Ryan, die davon ausgehen, dass intrinsische Motivation durch
das Erleben von Kompetenz, Autonomie bzw. Selbstbestimmung sowie das Erleben von
Bindung und Beziehung entsteht.
2. Wesentliche Thesen und Ergebnisse des Workshops
Im Workshop wurde den Teilnehmenden das Lernhaus-Konzept vorgestellt und dessen
Implementierung an einer Münchner Schule erläutert. Bei diesem Konzept unterteilt sich die
Gesamtorganisation einer Schule in mehrere kleine Organisationseinheiten, so genannte
Lernhäuser. Diese Lernhäuser konstituieren eigene, verkleinerte Schulstrukturen innerhalb
eines Schulhauses und einer Schulgemeinschaft. Durch die kleinteiligere Organisationsstruktur
verändern sich die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden zum Positiven: Lehrkräfte
sind für weniger Kinder und Jugendliche verantwortlich und können schneller und direkter auf
Anliegen und Herausforderungen der Schülerinnen und Schüler eingehen. Da davon
auszugehen ist, dass Lehrende eine signifikante Rolle im Erleben von Bindung und Beziehung
von Lernenden haben, erscheint eine Struktur, die direkteren Kontakt zulässt, sinnvoll.
In diesem Workshop wurde das Münchner Lernhaus-Konzept anhand seiner Ausführung an der
städtischen Wilhelm-Röntgen-Realschule im Münchner Stadtteil Neuperlach dargestellt. Die
beiden Lernhäuser an der Wilhelm-Röntgen-Realschule zeichnen sich durch eine diagonale
Struktur aus; es werden drei verschiedene Klassenstufen in einer Lernhaus-Einheit – aber
weiterhin in den ursprünglichen Klassenverbänden – unterrichtet. So befinden sich zum Beispiel
die fünften, siebten und neunten Klassen sowie die sechsten, achten und zehnten Klassen in
jeweils einem Lernhaus. Dort werden sie von autonomen Teams mit jeweils 23 Lehrkräften
unterrichtet. Die einzelnen Lernhäuser geben sich thematische Schwerpunkte, um die soziale
Kohäsion und Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler zu fördern. An der
Wilhelm-Röntgen-Realschule lassen sich diese Schwerpunkte unter den Slogans „Einer für A-lle
– alle für einen!“ und „Wir B-wegen gemeinsam“ (die herausgestellten Buchstaben A und B
stehen für die Bezeichnungen der Lernhäuser) zusammenfassen. Lernhaus A setzt sich dabei
für die Förderung von Sozialkompetenz, Teambildung, Lernhausversammlungen und
Patenschaften ein, während sich Lernhaus B die Stärkung der Beziehungen (im Lernhaus),
Sport, Umweltschutz und soziales Engagement sowie ebenfalls Lernhausversammlungen und
Patenschaften auf die Fahne geschrieben hat.
Schülerinnen und Schüler der fünften Klassen erhalten zu Beginn ihres Schullebens an der
Realschule einen Paten bzw. eine Patin aus einer höheren Klasse, der/die sie mit den
Einrichtungen und Möglichkeiten an der neuen Schule vertraut macht und der/die bei Fragen
und Herausforderungen im Schulalltag zur Verfügung steht. Dies ist auch eine Möglichkeit und
Methode, um Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und Bindung zu Mitschülern und
Mitschülerinnen und Schule zu fördern. Des Weiteren findet gemeinsames, klassen- und
stufenübergreifendes Lernen im Lernhaus in Funktionsräumen wie beispielsweise dem
Lernbüro statt, in dem sich die Schülerinnen und Schüler in Freistunden gegenseitig beim
Lernen sowie bei Aufgaben und Projekten unterstützen können. Hierzu sind Bürozeiten am
Nachmittag sowie vor der regulären Unterrichtszeit vorgesehen. Insgesamt ist der Schulalltag
durch Projektarbeiten, Wahlpflichtfächer, Arbeitsmöglichkeiten im Lernbüro und freiwillige
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Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Das Lernhaus-Konzept
Angebote externer Bildungsanbieter – beispielsweise Tanzprojekte oder Leseförderung – so
konzipiert, dass soziales und inhaltliches Lernen miteinander verzahnt sind.
In der fünften und sechsten Klasse wird zudem ein Fokus auf die drei Lernprofile KuS (Kultur
und Sprache), MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) und ECO
(wirtschaftliche Bildung) gelegt, um den Schülerinnen und Schülern ein möglichst breites und
tiefes Kompetenzspektrum zu vermitteln.
Zuletzt wurden im Workshop drei Konzepte vorgestellt, die im Lernhaus verwendet werden, um
Schülerinnen und Schüler zielgerichtet unterstützen zu können. Zur Förderung der
Persönlichkeitsentwicklung wird Lion’s Quest eingesetzt, ein Förderprogramm des ServiceClubs Lions, das – unter anderem – bei der Entwicklung von Lebenskompetenzen und Soft
Skills,
beispielsweise
Problemlösekompetenzen,
Zivilcourage,
Management
von
Konfliktsituationen und dem Aufbau von Selbstvertrauen helfen soll. Zudem wird zur
Unterstützung der Entwicklung von Lernmethoden, individueller Lernpläne sowie als
Kommunikationsarbeitsmittel zwischen Lehrperson und Eltern mit dem vom Referat für Bildung
und Sport der Stadt München und der Münchner Serviceagentur für Ganztagsbildung
entwickelten „Münchner Logbuch“ gearbeitet. Als ein drittes Konzept der Lernhaus-Praxis wurde
das Lerncoaching vorgestellt, bei dem Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkraft in der
Erweiterung ihrer Lernkompetenzen und der Verbesserung ihrer individuellen Lernprozesse
unterstützt werden. Dabei sollen individuelle Lernstrategien gefunden und Prüfungskompetenz
entwickelt werden. Der Fokus liegt allerdings – wie auch bei den beiden vorigen Konzepten –
darauf, die Selbsteinschätzung und Selbstverantwortung der Schülerinnen und Schüler zu
fördern, und ihnen dazu zu verhelfen, Erfolg und Selbstwirksamkeit zu erleben.
3. Erlebte Wirksamkeitsfaktoren im Workshop
Die unterschiedlichen beruflichen Hintergründe der Workshop-Teilnehmenden regten zu
fundierter und fruchtbarer Diskussion an. So wurden viele Aspekte des Lernhaus-Konzepts und
der ihm zugrundeliegenden Erkenntnisse positiv bewertet, da sie sich auf Grundsätze und
Theorien stützen, die in der Sozialarbeitswissenschaft bereits seit Langem in Theoriebildung
und Praxis verankert sind. Besonders effektiv erschien den Teilnehmenden die Tatsache, dass
Schülerinnen und Schüler – zudem von Peers – in ihrer aktuellen Lebenssituation abgeholt und
in die neue Schulsituation eingeführt werden.
Unter den Teilnehmenden entstand zudem ein Austausch über die Frage, ob das Konzept
Lernhaus einen Rollenwechsel für Lehrkräfte zu einer Art „Lerncoach“ darstelle. Dabei wurde
erkannt, dass es nicht der Sinn der Sache sei, wenn Lehrkräfte durch Lerncoaches ersetzt
würden, der Wandel bestehe vielmehr in einer Rollenerweiterung für Lehrkräfte: Eine bessere,
beziehungsweise neue Lernwirksamkeit lasse sich durch eine entsprechende Haltung der
Lehrperson in bestimmten Situationen erzielen. Dazu müsse sich nicht die bisherige
Lehrerausbildung verändern, vielmehr wäre bei Interesse eine additive Struktur mit
Weiterbildungsmöglichkeiten denkbar. Man dürfe nicht „Entweder (Lehrkraft) – Oder
(Lerncoach)“, sondern „Sowohl – als auch“ denken.
Lehrkräfte, die im Lernhausbetrieb lehren, bekräftigten durch Metakognition, dass durch die
Anwendung des Lernhaus-Konzepts tatsächlich mehr Raum für bessere Betreuung gegeben sei
und dass dieser Rahmen für Inklusion besser geeignet sei, da die Gruppen kleiner seien und
mehr auf einzelnen Schülerinnen und Schüler eingegangen werden könnte. Zudem sei hier
mehr Platz für Sozialkompetenztraining, für das im „normalen Betrieb“ einer Schule oftmals Zeitund Personalressourcen fehlten. Auch sei es einfacher, Bezug zu den Schülerinnen und
Schülern aufzubauen und sie in ihrer persönlichen Entwicklung zu begleiten. Die Lernenden
würden sich wiederum – da sie sich wahrgenommen und akzeptiert fühlten – stärker mit der
Schule identifizieren. Insgesamt wurde bei den Teilnehmenden, an deren Schulen das Konzept
„Lernhaus“ verwirklicht war, das Wagnis der Veränderung als positiver Schritt wahrgenommen.
Es gebe nun mehr Raum für Kommunikation und Partizipation und die Schule würde mehr als
Lebensraum und als Ort der Potentialentfaltung wahrgenommen.
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Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Das Lernhaus-Konzept
4. Offene Fragen
Aufgrund der relativ neuen Einführung des Lernhaus-Konzepts an bisher zwei Münchner
Schulen – der Wilhelm-Röntgen-Realschule und der Anne-Frank-Realschule – sind mittel- und
langfristige Effekte des Lernhaus-Konzepts noch nicht absehbar, aber von großem Interesse.
Im Verlauf des Workshops stellte sich außerdem die Frage, wer sich um Lehrkräfte kümmere,
bzw. wie sich um Lehrkräfte gekümmert würde, die mit diesem neuen Lehr- und Lernkonzept
konfrontiert werden, und was in dem speziellen Fall geschehe, wenn sie sich nicht mit dem
neuen Arbeitskonzept identifizieren bzw. an ihm beteiligen wollen oder können.
Als weitere Herausforderung stellte sich die offene Frage, inwieweit Schulen, die in
Umbauphasen gehen oder sich bereits in selbigen befinden, ihre Schulhäuser räumlich und
konzeptionell so gestalten können, dass die Neugestaltung einer eventuellen Ausrichtung in
Richtung eines Lernhaus-Konzeptes zuträglich sei.
5. Weiterführende Literatur
Das Münchner Logbuch. URL: http://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Referat-fuerBildung-und-Sport/Bildungsstadt/Freude-am-Lernen-wecken/Logbuch.html (Stand: 29.12.2015)
Hilfswerk der Deutschen Lions e.V. (Hrsg.), Kinder- und Jugendförderprogramm „Lion’s Quest“.
URL: http://www.lions-quest.de/portal.html, (Stand: 29.12.2015)
Referat für Bildung und Sport München (Hrsg.), Das Münchner Lernhaus – Funktionsschemata
und Auszüge der Standardraumprogramme für Grundschulen, Mittelschulen, Realschulen und
Gymnasien. URL: http://www.ganztagmuenchen.de/images/pdf/kategorie/architektur/Lernhaus_Einleger_final_web.pdf, (Stand:
29.12.2015)
Stadt München (Hrsg.), „Das Münchner Lernhauskonzept“.
http://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Referat-fuer-Bildung-undSport/Bildungsstadt/Impulse_Gestalten/Lernhauskonzept.html, (Stand: 29.12.2015)
Staudinger, Melanie (2015): Schulen aus dem Baukasten. In: Süddeutsche Zeitung, Ausgabe
15.01.2015. http://www.sueddeutsche.de/muenchen/neubauten-in-muenchen-schulen-aus-dembaukasten-1.2299026, (Stand: 29.12.2015)
Städtische Wilhelm-Röntgen-Realschule München. URL: www.wrrs.musin.de, (Stand:
29.12.2015)
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