Klaus Kordon Marija im Baum Beltz und Gelberg Verlag, 227 S., Fr. 19.90 Auch als Hörbuch erhältlich. Marija im Baum Lukas (fast 12), seine Schwester Ditte (10) und der kleine Mi (6) verbringen ihre Sommerferien wie immer im Ferienhäuschen mit grossem Garten am Paulshagener See. Eines Morgens sitzt in der grossen Kastanie des Nachbargartens ein Mädchen – Marija, die mit ihrer Familie aus Russland übergesiedelt ist. Sie verbringen schöne Tage zusammen, bis etwas Schlimmes passiert. Allein Mi bemerkte Marijas rot geheulte Augen nicht, so sehr freute er sich, dass sie wiedergekommen war. «Guten Morgen!», krähte er vergnügt und wollte gleich fragen, ob sie wieder baden gehen würden. Das Wetter war ja wie geschaffen dafür. Marija liess ihn gar nicht erst ausreden. «Nicht guter Morgen», schimpfte sie. «Schlechter Morgen!» Und dann erzählte sie, was an diesem traurigen Montag noch passiert war. Und das war nun wirklich eine böse Sache – vor allem für ihren Papotschka. Aus dem Lager, das ihr Vater verwaltete, waren drei Eimer weisse Farbe verschwunden. Marijas Vater konnte die Eimer, die noch da waren, zählen, so oft er wollte, sie wurden nicht mehr. Und damit stand fest: Irgendjemand musste diese drei Eimer gestohlen haben. 36 Das war schon schlimm genug. Als Lagerverwalter war Marijas Vater für jede verrostete Schraube und jeden krummen Nagel verantwortlich, die sich in seinem Lager befanden. Und nun waren drei grosse Eimer Farbe verschwunden! – Hatte er am Abend die Tür nicht richtig abgeschlossen? Oder hatte er nicht bemerkt, dass hinter seinem Rücken mehr Eimer aus dem Lager getragen worden waren als bestellt? Wäre es so gewesen, dann hätte er nur schlampig gearbeitet. Aber jetzt hatte einer seiner Kollegen den Verdacht geäussert, Marijas Vater selbst könne die drei Eimer gestohlen haben. Um damit sein Haus zu renovieren. Vielleicht hatte dieser Kollege ja mitbekommen, dass in Oma Kringes altem Häuschen alle Räume neu gestrichen worden waren. Und das auch noch ganz und gar in Weiss. Ein furchtbarer Verdacht. Und der hatte sich fortgepflanzt, von Mund zu Mund. Und inzwischen, so schimpfte Marija, glaubten wohl alle Leute bei Kraus & Co., dass ihr Papotschka – der Russe! – der Dieb war. «Schlechte Menschen!», beschwerte sie sich und gleich flossen wieder die Tränen. «Alle schlecht! Papotschka kein Dieb. Hat gekauft Farbe. In Baumarkt an grosser Strasse.» Lukas sah Schneiders Küche und Marijas Zimmer vor sich. Wie da alles nach frischer Farbe gerochen hatte. Aber Marijas Vater ein Dieb? Das konnte er sich nicht vorstellen. Vielleicht dachten seine Kollegen ja wie Frau Hofmann, und alle Russen waren für sie nichts als Plünderer und noch Schlimmeres. Weil er glaubte, etwas gutzumachen zu haben bei Marija, wollte er sie trösten. «Ist doch gar kein Problem!», erklärte er wichtigtuerisch. «Dein Papotschka braucht ja nur die Rechnung vom Baumarkt vorzeigen, dann können alle sehen, dass er die Farbe nicht gestohlen hat.» Wenn der Vater im Baumarkt einkaufte, hob er immer alle Rechnungen auf, für den Fall, dass er etwas umtauschen wollte. Das erzählte er Marija und war nicht wenig stolz auf sich: Der kluge Lukaschka hatte ihren Vater vor einem ganz entsetzlichen Verdacht bewahrt. Aber nichts da! «Toll!», schimpfte sie nur. «Rechnungen wir nicht gehoben auf. Farbe an Wand niemand tauscht um.» Da hatte sie recht, das musste Lukas einsehen. Verlegen rieb er sich die Nase. «Aber sie können deinem Papa doch gar nichts tun», versuchte Ditte, ihr Mut zu machen. «Sie müssen ihm ja erst mal beweisen, dass er der Dieb ist. Ohne Beweise – keine Schuld! Das ist ein Gesetz.» Marija jedoch beruhigte auch das nicht. «Beweise!», schnaubte sie und machte ein Gesicht, als hätte sie am liebsten ausgespuckt. «Verdacht bleibt. War der Russe, flistern sie. Wer sonst stiehlt Farbe? Und wenn nicht gestohlen, dann schlecht aufgepasst auf Lager. Auch nicht besser.» «Aber dein Papa ist doch gar kein Russe», mischte Mi sich ein. «Er heisst Schneider. Das hast du selbst gesagt.» Er erntete dafür einen strafenden Blick. «Fir Kollegen – nicht alle, aber viele – Papotschka Russe. Sagen: Kommt aus Russland, ist Russe. Und Russen stehlen. Papotschka aber stiehlt nicht, Mamotschka stiehlt nicht, Babuschka stiehlt nicht. Und ich, ich stehle auch nicht.» Was sollten Lukas, Ditte und Mi darauf antworten? Das Ganze schien ein sehr schwieriger Fall zu sein. Schweigend sassen sie an ihrem Frühstückstisch, und Marija stand vor ihnen, mit einem Gesicht, als wollte sie die ganze Welt anklagen. Bis Ditte leise fragte: «Und was passiert nun?» «Hat Papotschka nicht aufgepasst auf Farbe, vielleicht nur Tadel. Wie in Schule», antwortete Marija achselzuckend. «Glaubt Chef, er Dieb, dann wird entlassen ganz bestimmt. Ist schon Frau wegen paar Cent aus Kasse entlassen worden, sagt Mamotschka.» Eine schlimme Sache! In und rund um Ebersburg gab es nicht viele Arbeitsmöglichkeiten. Wurde Marijas Vater entlassen, würden Schneiders sicher bald wegziehen müssen. Ein Gedanke, der Lukas ganz und gar nicht gefiel. «Man müsste den wirklichen Dieb finden», flüsterte er zornig vor sich hin, «und dann müsste er alles gestehen, damit alle wissen, dass dein Vater unschuldig ist.» 37
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