Neue Folge 50 Frankfurter MontagsVorlesungen Politische Streitfragen in zeitgeschichtlicher Perspektive „Die Rache des Sowjetsozialismus“: die Bürokratisierung des deutschen Hochschulstudiums Egbert Jahn 14. Dezember 2015 Adresse des Autors: Prof. em. Dr. Egbert Jahn Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften Institut für Politikwissenschaft Theodor W. Adorno-Platz 6 D-60323 Frankfurt Tel.: +49-69-798 36653 (Sekretariat) E-mail-Adresse: [email protected] http://www.fb03.uni-frankfurt.de/46500384/ejahn © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 2 Zusammenfassung Vor einigen Jahren fand eine umfassende und tiefgreifende Veränderung des deutschen Hochschulwesens statt, wie nicht mehr seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Diese Veränderung wurde kühn als Reform, d. h. als Verbesserung deklariert. Sie fand fast völlig ohne kontroverse öffentliche Diskussion und im Allparteienkonsens statt. Im privaten Gespräch erklärten wohl die meisten Professoren diese Veränderungen für eine Katastrophe, ohne daß sie zum organisierten Widerstand oder gar zu eigenen, untereinander abgestimmten Reformvorstellungen fähig waren, die älteren bedauerten lediglich ihre Nachfolger. Die Veränderung der Universitäten ließ kaum einen Bereich unverändert: das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Universität, die innere Organisation der Universität, die Konkurrenz der Universitäten untereinander, die Personalstruktur, die Laufbahnmuster des universitären Nachwuchses, das Besoldungswesen, das Verhältnis von Forschung und Lehre, die Verteilung von Forschungsmitteln, die Aufteilung des Studiums in durch Prüfungen getrennte Stufen (B.A., M.A., Promotion), die Vielfalt der Studiengänge, das Prüfungswesen, das Studienverhalten, die Lehrmethoden und manches andere mehr. Obwohl das Leistungsprinzip zum Leitmotiv der Hochschulreformen erklärt wurde, fand tatsächlich eine umfassende Bürokratisierung des Hochschulwesens und Standardisierung einfach meßbarer Leistungsindikatoren statt, die die tatsächliche wissenschaftliche und pädagogische Leistung der Universitäten vermutlich erheblich beeinträchtigen wird. Zur leichteren Erhebung und zum Vergleich der Leistungsindikatoren wurden Anforderungen gesetzt, die oft nur zum Leistungsbluff und zur Vergeudung personeller und finanzieller Ressourcen herausfordern. Unbewußtes Vorbild hierfür schien der sowjetsozialistische Bürokratismus zu sein. Die Hochschulreformen der letzten Jahre waren wohl eher Hochschulregressionen. Sie waren zum Teil Reaktion auf schleichende strukturelle Veränderungen des Hochschulwesens in den vergangenen Jahrzehnten und gingen zum anderen Teil auf den Einstellungswandel zu Bildung und Ökonomie in der Gesellschaft zurück. Sie wirken vermutlich zerstörerisch auf die Forschung und die Lehre an den Universitäten zugunsten weniger kollektiver Spitzenleistungen und zulasten allgemeiner Niveausenkung sowie scheinbar gerechterer Messung und Honorierung akademischer Leistungen, behindern jedoch unkonventionelle wissenschaftliche Innovationen von einzelnen Außenseitern, die den eigentlichen wissenschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Auch die Lehre kann infolge zu häufiger und standardisierter Prüfungen immer weniger der Selbständigkeit und Originalität des Denkens der Studierenden Rechnung tragen. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 3 1 Die umfassende Veränderung des deutschen Hochschulwesens Vor einigen Jahren fand eine umfassende und tiefgreifende Veränderung des deutschen Hochschulwesens statt wie nicht mehr seit der Humboldtschen Reform zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Diese Veränderung wurde kühn als Reform, d. h. als Verbesserung und Fortschritt deklariert. Ein Kollege aus den Osteuropawissenschaften nannte sie hingegen „die Rache des Sozialismus“, wobei er den sowjetischen Sozialismus im Auge hatte. In der Tat imitierten die Hochschulreformen der letzten Jahre unbeabsichtigt manche Elemente des untergegangenen bürokratischen Hochschulsystems der sozialistischen Länder. Sie fanden fast völlig ohne kontroverse öffentliche Diskussion im Allparteienkonsens statt. So leißen sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen der Hochschulpolitik der CDU/CSU, der SPD und der anderen Parteien erkennen. Im privaten Gespräch erklärten wohl die meisten Professoren diese Veränderungen für eine Katastrophe, ohne daß sie zum organisierten Widerstand oder gar zu eigenen, untereinander abgestimmten Reformvorstellungen fähig waren, denn eine bloße Verteidigung der bestehenden Zustände hielt kaum jemand für angebracht. Viele resignative Professoren bedauerten lediglich ihre jungen Nachfolger und hielten die Veränderung für eine Regression sowohl der akademischen Forschung als auch der Lehre. Diejenigen, die sich in den Dienst der meist von Politik und Wirtschaft, kaum aus dem Kreis der Hochschullehrer selbst geforderten Reformen stellten, erklärten sie für unvermeidlich, sahen aber wenig Anlaß, sie wirklich als großen Durchbruch in historisch verkrusteten Hochschulstrukturen zu feiern. Die Veränderung der Universitäten – auf die anderen Hochschulen kann hier nicht eingegangen werden – ließ kaum einen Bereich unverändert: das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Universität, die innere Organisation der Universität, die Konkurrenz der Universitäten untereinander, die Personalstruktur, die Laufbahnmuster des universitären Nachwuchses, das Besoldungswesen, das Verhältnis von Forschung und Lehre, die Verteilung von Forschungsmitteln, die Aufteilung des Studiums in durch zahllose Prüfungen getrennte Stufen (B.A., M.A., Promotion), die Vielfalt der Studiengänge, das Prüfungswesen, das Studienverhalten, die Lehrmethoden und manches andere mehr. Einige dieser Veränderungen seien hier näher beleuchtet. Allerdings muß vorangeschickt werden, daß Grundlage der folgenden Überlegungen lediglich eigene Studien-, Forschungsund Lehrerfahrungen von 1961-2005 vor allem an deutschen Universitäten, sporadisch auch an einer slowakischen, einer amerikanischen, einer litauischen und einer dänischen, sind, keine systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen der deutschen Hochschulreformpolitik © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 4 und ihrer Auswirkungen. Die Erfahrungen wurden vor allem an zwei recht unterschiedlichen deutschen Universitäten gesammelt: Frankfurt wurde als eine Universität mit einigen „linken“ Fachbereichen jahrzehntelang durch sozialdemokratische Hochschulpolitik geprägt, Mannheim als eine „konservative“ Universität, an der die Studentenbewegung weitgehend vorbeigegangen ist, von einer ebenfalls sehr langen christdemokratischen. Das Hochschulrahmengesetz vom Januar 1999 hat einige Grundstrukturen des Hochschulwesens bundesweit festgelegt, die durch Landesgesetze inhaltlich näher ausgeformt wurden. All diese Gesetze werden von Zeit zu Zeit novelliert, so daß nach Jahrzehnten des permanenten Reformierens in die eine oder andere Richtung die ungeheuer zeitaufwendigen Debatten in zahllosen Hochschulgremien und parlamentarischen Ausschüssen über Hochschulreformen weitergehen werden, es also so bald kein von vielen ersehntes reformfreies Jahrzehnt und keine Beruhigung und Verläßlichkeit der Lage an den Hochschulen geben wird. Seit Juni 1999 finden ernsthafte Anstrengungen statt, im Rahmen des Bologna-Prozesses einen einheitlichen europäischen Hochschulraum herzustellen. Hierbei soll überall in Europa ein gestuftes Studiensystem mit den Studienabschlüssen Bachelor, Master und Promotion eingeführt und die Studienleistungen mittels eines Systems von Leistungspunkten (credit points) sowohl meßbarer als auch vergleichbarer werden, um die Mobilität der Studenten innerhalb Europas zu erleichtern und zu fördern. Diese Ziele sollen durch Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Hochschullehre unterstützt werden, damit eine Gleichwertigkeit der Studienabschlüsse in Europa gewährleistet werden kann. 2 Reformen zur Leistungssteigerung oder Bürokratisierung zur Leistungsminderung? Verfechter der Reformen erwarten eine erhebliche Leistungssteigerung sowohl durch eine professionalisierte Lehre als auch durch effizienteres Studienverhalten bei kürzerer Studiendauer infolge detailliert durchorganisierter, wohl geplanter Studienordnungen, die eine Orientierung in den ungeheuer anwachsenden und zugleich meist rasch veraltenden Wissensbeständen bieten sowie der fortschreitenden Spezialisierung Rechnung tragen sollen. Gegner der Reformen fürchten hingegen eine wissenschaftliche und auch hochschulpädagogische Leistungsminderung infolge einer völlig bürokratisierten Leistungsmessung nach simplen Leistungskriterien und einer ungeheuren Vervielfältigung von Prüfungen. Sie belasten das Zeitbudget der Lehrenden enorm und lassen den Studenten keine Zeit zum selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und kreativen Studieren, da die ständige Überprüfung von kleinen meß© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 5 baren Studienfortschritten den Sinn für das Erkennen größerer Zusammenhänge im wissenschaftlichen Fachgebiet verstellt und die Freiheit zum individuellen geistigen Experimentieren raubt. Nach dieser Auffassung stellen die Reformen eher eine Regression dar. Im Unterschied zu vielen anderen, in dieser Vorlesungsreihe behandelten Streitfällen gibt es in Sachen Hochschulreformen keine relativ klar umrissenen Parteiungen, sondern auf der einen Seite eher eine Gruppe engagierter Reformbürokraten ohne breite gesellschaftliche Unterstützung, ohne Aufbruchstimmung und starke Medienresonanz und vor allem ohne überzeugte Zustimmung in der Studentenschaft und in der Professorenschaft und auf der anderen Seite eine verhaltene Ablehnung, mehr ein diffuses Ressentiment als eine klare Gegenposition. Dabei gibt es auf dieser Seite für die Zustände vor den Reformen ebenfalls keine Begeisterung und keine Bereitschaft, diese ernsthaft zu verteidigen, da die Notwendigkeit von Reformen infolge der tiefgreifenden Veränderungen in der Wissenschaft, im Hochschulwesen und auch der Gesellschaft kaum bestritten werden kann. Zur Entwicklung konkreter reformerischer Gegenkonzepte, die der vielfältigen Verflechtung der hochschulpolitischen Gegenstände Rechnung tragen, kommt es deshalb so gut wie gar nicht. Einige der erwähnten, von den Reformen tangierten Bereiche des universitären Lebens sollen etwas genauer charakterisiert werden, andere können nur kurz angesprochen werden. 3 Strukturveränderungen des Hochschulwesens und gesellschaftliche Einstellungsänderungen zur Bildung Das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Universität hat sich mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Parteiherrschaft in Osteuropa und mit dem Globalisierungsschub der letzten zwei Jahrzehnte erheblich verändert. Der Wegfall der Systemkonkurrenz mit dem kommunistischen Sozialismus hat einerseits wichtige Anreize für erhebliche Investitionen in die Wissenschaft überhaupt wie auch speziell in einige Wissenschaftszweige wie die Raumfahrt, die Strategischen Studien, die Osteuropawissenschaft und die Internationalen Beziehungen als einem zentralen Feld der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Herausforderung beseitigt. Andererseits hat die Verschärfung der wirtschaftlichen Konkurrenz im Zuge der ökonomischen Globalisierung den Druck auf die naturwissenschaftliche, technische und betriebswirtschaftliche Innovationsfähigkeit und -bereitschaft der nationalen Gesellschaften erhöht. Dabei hat ökonomisch kaum verwertbare Wissenschaft und Bildung an gesellschaftlicher Wertschätzung verloren. Da die liberal-demokratische Gesellschaftsordnung stabiler als je und intellektuell kaum noch gefährdet scheint – der islamische Terrorismus scheint ein blo© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 6 ßes polizeilich-militärisches Sicherheitsproblem – scheinen sozialwissenschaftliche Anstrengungen bei der Analyse gesellschaftspolitischer Probleme nicht mehr erforderlich. Zweifellos war die Universität in ihrer bisherigen Geschichte stets vor allem eine Fachhochschule zur höheren beruflichen Ausbildung von juridisch gebildeten Beamten, Rechtsanwälten, Geistlichen und Ärzten, später auch von wirtschaftlichen Führungskräften. Die Klage über den für Wirtschaft und Politik instrumentellen Charakter der Universität ging stets Hand in Hand mit der Gegenklage über ihren Charakter als einem von der Gesellschaft und ihren Bedürfnissen isolierten Elfenbeinturm. Die Philosophie als lediglich der Wahrheit des Erkennens verpflichtete Wissenschaft und ihre akademischen Abkömmlinge waren stets nur ein mehr oder weniger geduldetes Aschenputtel in den Universitäten, obwohl sie den eigentlichen und auch langfristig sich gesellschaftlich auswirkenden Wert einer Universität ausmacht. Traditionell hatte die Universität den Charakter einer elitären Ordinarienrepublik, in der der Rektor lediglich primus inter pares war und in der die wissenschaftlichen Lehrlinge und Gesellen und die Studenten nichts zu sagen hatten. Der Demokratisierungsversuch der Studenten und Assistenten der späten 1960er und frühen 1970er Jahre stürzte zwar die Ordinarienherrschaft, in der der Professor als freier König und Narr zugleich in seinem Minireich die Chance zur wissenschaftlicher Kreativität nutzte oder vertat, mit ihrer konservativen Liberalität, ihren auch manchmal irrationalen und ungerechten Entscheidungen und mit ihren oft skurrilen Auswüchsen; sie hatte aber überwiegend den kontraproduktiven Effekt, die Bürokratisierung des Hochschulwesens voranzutreiben. Sie äußerte sich vor allem in einer immensen Zunahme des sich selbst lähmenden Gremienwesens, der ministeriellen Eingriffe in die universitären Entscheidungen, der ständig ausgeweiteten formalen Rechenschaftspflichten, des Prüfungswesens (Verdoppelung der Prüfer für einen einzelnen Prüfungsvorgang zur rechtlichen Absicherung) und in einem permanenten Hin- und Her-Reformieren. Der Demokratisierungsimpuls erlahmte Anfang der 1970er Jahre rasch nicht nur wegen der politisch und gerichtlich erzwungenen Wiederherstellung der Hegemonie der Professoren in den Gremien, sondern vor allem an der kaum überwindbaren Schwierigkeit, jahrgangsübergreifende Kompetenz in den hoher Fluktuation unterliegenden Gruppen der Studentenschaft und des akademischen Mittelbaus zu erlangen. Die Hauptschwäche aller kollektiven Entscheidungsgewalt, der demokratischen wie noch mehr der sozialistischen, ist zudem die strukturelle Verantwortungslosigkeit von Kollektiven für ihre Entscheidungen. Dafür ist bisher noch keine Lösung gefunden worden, weder in der Theorie noch in der Praxis. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 7 a) Die Eingriffe der Politik stärkten gleichzeitig die operative Autonomie der Hochschulen. Doch diese hat einen faden Beigeschmack. Zum einen wurden per Gesetz die Hochschulorganisation zentralisiert und die Entscheidungskompetenzen der zentralen Organe der Hochschulund teilweise auch der Fakultätsleitung (Rektorat, Universitätsrat, Dekan) gestärkt. Zum anderen wurden in die zentralen Entscheidungsorgane auch teilweise außeruniversitäre wirtschaftliche Interessenvertreter inkorporiert. Zum dritten entlastete sich die ministeriale Bürokratie von der brisanten Aufgabe, entscheiden zu müssen, welche wissenschaftlichen Fachgebiete und Professuren infolge der anhaltenden Finanzkürzungen an den Universitäten zu beseitigen sind, während sie gleichzeitig entschied, welche neuen Forschungsbereiche mit einem Teil der eingesparten Mittel aufgebaut werden sollten. Man kann von einer Demokratisierung der Verluste an universitärer Substanz sprechen, die die Solidarität zwischen den Hochschulmitgliedern erschütterte, oft zur Vergiftung des kollegialen Klimas und zur Verbitterung und Resignation zahlreicher Professoren beitrug. Die universitas disciplinarum tendiert manchenorts zur simplicitas weniger Wissenschaftszweige, wozu die aus der Wirtschaft übernommene Ideologie der Profilbildung bemüht wird, die dort die vorherige Devise der Diversifizierung abgelöst hat. Vor allem die Universität Mannheim bemühte sich sichtbar um eine Regression zur (Betriebs-)Wirtschaftshochschule mit sozialwissenschaftlichem Anhang. Erfolgreich war sie aber augenscheinlich in dem Sinne, daß sie ihren Ruf als führende und international renommierte deutsche Ausbildungsstätte für Betriebswirtschaftler erhalten und festigen konnte. b) Weder die traditionelle Ordinarienuniversität mit ihrer elitären Gleichheit der Arrivierten noch die in den 1970er Jahren etablierte Gremienuniversität mit einer gestärkten Zentralverwaltung waren besonders reformfreudig und -fähig, so daß sie kaum mit den neuen Anforderungen infolge der Expansion der Professoren- und noch mehr der Studentenschaft fertig wurden. Versuchte man zunächst einige Jahre lang, die Entscheidungs- und Reformfähigkeit durch eine Vermehrung der Fakultäten bzw. Fachbereiche zu stärken, so ging man vor wenigen Jahren dazu über, wieder größere Fakultäten zu schaffen und gleichzeitig die zentralen Organe auf der Fakultäts- und der gesamtuniversitären Ebene (Dekan, Studiendekan, Dekanatsverwaltung, Rektoratsverwaltung) zu stärken. c) Die Personalstruktur einer komplexen Organisation wie der Universität mit den ganz unterschiedlichen Funktionen eines Lehrkörpers aus unbefristet beschäftigten Professoren, aus befristet Beschäftigten auf Qualifikationsstellen (Wissenschaftliche Mitarbeiter und Assistenten) mit einem recht geringen Verwaltungs- und technischem Personal und mit der großen Masse nur wenige Jahre Studierender ist notwendig hierarchisch strukturiert. Linke Hochschulpolitik © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 8 bemühte sich in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, die hierarchischen Differenzen innerhalb der drei akademischen Funktionsgruppen und zwischen ihnen zu reduzieren. So wurden z. B. die Rechte und Pflichten der drei Hierarchiestufen der Professorenschaft außer in ihrer Bedeutung für das Einkommen (Besoldung nach C 2, C 3 und C 4) fast völlig eingeebnet, in Frankfurt etwa deutlicher als in Mannheim. Manchenorts wurden die Wissenschaftlichen Mitarbeiter nicht mehr einzelnen Professoren, sondern den Abteilungen zugeordnet. C 2-Professoren hatten im Prinzip dieselben Chancen, erfolgreich Forschungsmittel einzuwerben wie C 4-Professoren. Der Trend zur Egalisierung der Personalstruktur begünstigte allerdings nur selten die Chancen zur Entfaltung individueller Forschungsfreiheit und kreativität. An die Stelle der Abhängigkeit vom Ordinarius trat oftmals die manchmal durchaus drückende Abhängigkeit von Gremienmehrheiten und ihren Meinungsführern. Rasch setzte sich jedoch die Restauration der alten, aber gewandelten Hierarchien wieder durch, teils formell, noch häufiger informell, etwa in den Berufungsgremien zur Einstellung des professoralen Nachwuchses und in den Selbstverwaltungsgremien zur Verteilung von Forschungsgeldern. Das Bedürfnis von Nachwuchswissenschaftlern nach Protektion durch arrivierte Professoren stellte ihre Abhängigkeit von diesen wieder her. Als Hebel zur Ersetzung der alten, einfachen starren durch eine ausgeprägtere und flexiblere Hierarchie der Professorenschaft diente das neue Besoldungswesen, aber auch die Möglichkeit, einigen Professoren das Lehrdeputat zu erhöhen, damit es für andere gesenkt werden kann. Damit wird keine schroffe Unterscheidung zwischen Forschungs- und Lehrprofessuren vorgenommen, wie sie in der Sowjetunion zwischen Instituten einer Akademie der Wissenschaften, die ausschließlich Forschung betreiben, und Universitäten, die fast ausschließlich der Lehre dienen, existierte. Vielmehr wurde eine abgestufte Differenzierung eingeführt, die einen ständigen Konflikt um die Verteilung der Lehrdeputate zwischen den Professuren institutionalisiert und ihre Beziehungen untereinander vergiftet. Manche feierten das als Einführung des Wettbewerbsgedankens in die Beamtenuniversität. Politisch, ideologisch und symbolisch wurde zwar die Hochschullehre aufgewertet, faktisch wurde aber das vergrößerte Lehrdeputat zur Strafe für vermeintliche Defizite in der Forschung oder vielmehr im Forschungsmanagement, d. h. bei der Einwerbung von Forschungsmitteln. Viele der bisherigen Wissenschaftlichen Assistenten wurden symbolisch zu Juniorprofessuren aufgewertet; es wurden ihnen aber gleichzeitig neue Aufgaben in der Lehre und im Forschungsmanagement aufgebürdet, bei gleichzeitiger Ausweitung des Drucks, wissenschaftli- © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 9 che Publikationen vorzulegen. Publish or perish, schmier oder stirb, ist die daraus notwendig folgende Devise, die nun noch mehr Gewicht als in früheren Zeiten erhält. d) Die alte universitäre Hierarchie war relativ übersichtlich, beschränkte sich auf wenige Stufen und ermöglichte eine weitgehende Gleichheit und Konkurrenzfähigkeit der deutschen Universitäten. Sie wurde durch den politischen Föderalismus der vielen deutschen Staaten und Länder bedingt. Leistung und Reputation wurden individuell erworben, konnte nur schwer institutionell weitergegeben werden. Dadurch wurde in Deutschland die Reputation herausgehobener Leistung nicht mit ganzen Universitäten wie Harvard oder Yale, wie Oxford oder Cambridge verknüpft, sondern mehr mit einzelnen Fakultäten oder Lehrstühlen, und das auch nur für wenige Jahre oder Jahrzehnte. So „mußte“ man etwa vor einigen Jahrzehnten Physik in Göttingen, protestantische Theologie hingegen in Marburg studieren. Nunmehr soll künstlich eine eindeutigere und schroffere Hierarchie der deutschen Universitäten eingeführt werden, indem vielen von ihnen die finanziellen Mittel drastisch gekürzt, einigen wenigen hingegen zusätzliche Mittel zugeteilt werden. Wegen des Föderalismus kann man sich in Deutschland nicht die zentralistische Privilegierung von einer oder zwei Universitäten leisten; deshalb versucht man nun zehn von ihnen gleichzeitig zu deutschen Harvards und Oxfords durch politische Beschlüsse zu küren. Da aber nicht neue Mittel zur Verfügung stehen, kann man den einen Hochschulen nur geben, was man den anderen nimmt. Also erzeugt man Exzellenz dadurch, daß man das wissenschaftliche Leistungsniveau der konkurrierenden Universitäten senkt. Ob die sich selbst als beste rühmenden Universitäten tatsächlich die besten Wissenschaftler haben oder nur die erfolgreichsten Wissenschaftsmanager, muß sich noch herausstellen. e) Die Laufbahnmuster des universitären Nachwuchses haben in den letzten Jahren begonnen, sich tiefgreifend zu verändern. An die Stelle der in vielen Jahren in relativ großer Freiheit und Isolation hergestellten, sorgfältig ausgearbeiteten Habilitationsschrift, die oftmals das wichtigste und beste Werk eines Professors bleibt, von den Fällen abgesehen, in denen noch im höheren Alter die größten und reifsten Werke entstehen, tritt nunmehr fast science, die Produktion von vielen Aufsätzen, die in renommierten Zeitschriften publiziert werden sollen, die mit dem peer review-Verfahren arbeiten, also der anonymen Begutachtung eingereichter Aufsätze durch Gleichrangige unterliegen. Die peers sind nicht unbedingt ältere, erfahrene Wissenschaftler, sondern Gleichgesinnte, die sich auf bestimmte Forschungsansätze, Methoden und Theorien festgelegt haben. Methodisch-theoretischer Konformismus wird dadurch in akademischen Zirkeln, deren Mitglieder sich wechselseitig begutachten, institutionalisiert. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 10 Nicht mehr erfahrene Professoren entscheiden autoritär oder altersliberal über die Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses, sondern die Verlage, die sich gut ausgestattete wissenschaftliche Zeitschriften und Redaktionen leisten können. Denn bei Berufungen wird manchmal nur noch geschaut, in welchen Verlagen und Zeitschriften wie viele Bücher und Aufsätze erschienen sind und wie oft ein Kandidat im Zitatenindex aufgeführt worden ist. Ob er als Musterbeispiel für abwegige Thesen oder für neue Erkenntnisse zitiert wird, ist gleichgültig, hauptsächlich er wird zitiert, und zwar wiederum in ausgewählten Zeitschriften. Die Auswahl der renommierten Zeitschriften erfolgt zum Teil unter rein politischen Gesichtspunkten. Für die Mannheimer Sozialwissenschaftler gelten beispielsweise nur USamerikanische und englische Zeitschriften als renommiert, keine einzige französische, deutsche, skandinavische oder sonstige Zeitschrift. Dadurch wird eine extreme Verengung der karriereförderlichen Themen, Methoden und Fragestellungen vorgenommen. Die Unterwürfigkeit vieler Berufungsgremien unter das Diktat von quantitativen Publikationsnachweisen ist eine erstaunliche Selbstentmündigung von Professoren, die ihre wissenschaftliche Urteilskraft an Redaktionskollegien in Zeitschriften und Verlagen abgeben. Dies Phänomen dürfte wohl vor allem der zeitlichen Überlastung der Professoren geschuldet sein, die es sich nicht mehr leisten können, die wichtigsten Schriften der zahlreichen Bewerber auf eine Professorenstelle zu lesen und sich deshalb an fragwürdigen äußerlichen Qualitätskriterien orientieren, zum anderen aber auch der enormen Spezialisierung im Wissenschaftsbetrieb und der Ausbildung von Fachsprachen, die den meisten Mitgliedern der Berufungsgremien kaum noch verständlich sind. f) Dem hohen Ansehen der Professoren in Deutschland entsprach früher ein gutes Gehalt, das ein sorgenfreies Auskommen erlaubte, auch wenn es in keiner Weise mit den Gehältern von Managern in der Wirtschaft gleichzusetzen war. Die Prinzipien der Gehaltserhöhung nach Dienstalter und auswärtigen Berufungen ermöglichte es den Professoren, sich nicht um finanzielle Probleme sorgen zu müssen, sondern sich ganz auf ihre beruflichen Aufgaben konzentrieren zu können. Die Anreize der beruflichen Tätigkeiten in der Forschung, im Forschungsmanagement und in der Lehre waren hinreichend groß, um einen permanenten hohen Leistungsdruck zu erzeugen. Vor wenigen Jahren wurde ein System der finanziellen Anreize in den Universitäten eingeführt, ganz wie seinerzeit in der Sowjetunion materielle Anreize geboten wurden, nachdem man die ideellen Anreize politisch durch die Unterdrückung vieler Freiheiten abgeschafft hat- © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 11 te und sich ideologische Moralappelle als ohnmächtig erwiesen hatten. Seit kurzer Zeit bekommen die Professoren nur noch ein minimales Grundgehalt und müssen sich dieses durch meßbare Leistungen in der Drittmittelbeschaffung, in der Lehre, Selbstverwaltung usw. aufbessern. Damit wird in das Leben und Denken der jungen Professoren ein hohes Maß an alltäglicher ökonomischer Rechenhaftigkeit eingeführt, das erhebliche zeitliche und geistige Energien von der eigentlichen beruflichen Tätigkeit ablenkt. Jede Stunde, die für Studenten, für die Selbstverwaltung, für das öffentliche Engagement, für das ungezwungene Schmökern in der Bibliothek oder im Internet aufgewandt wird, muß nun unter dem Gesichtspunkt kalkuliert werden, ob sie zur Sicherung des angestrebten Lebensstandards nützlich ist. Schon seit einigen Jahren gilt, daß die vermehrte Korrektur von Prüfungsabschlußarbeiten unmittelbar zur Erhöhung des Sachaversums, also des Etats des Lehrstuhls bzw. der Professur beiträgt, der u. a. zur Anschaffung von Forschungs- und Lehrmitteln sowie zur Einstellung von Hilfskräften dient. Die nächste Stufe der Leistungshonorierung soll darin bestehen, detailliert auch andere Leistungen des Hochschullehrers wie die Korrektur von Seminararbeiten, die Sprechstunden usw. zu messen und zu honorieren. Bisher haben die Lehrleistungen nur indirekt eine Einwirkung auf das persönliche Gehalt der Lehrenden. Evaluationen der Lehrleistung der Nachwuchswissenschaftler durch die Studenten spielen zunehmend in Berufungskommissionen eine Rolle. Wie aber wird man am einfachsten zur guten Lehrkraft? Indem man als Lehrer feststellt, daß man ausgezeichnete Studenten hat, was man dadurch beweisen kann, daß man ihnen sehr gute Noten gibt. Sehr gute Studenten beweisen ihrerseits, daß sie sehr gute Lehrer haben, indem sie bevorzugt zu solchen Lehrkräften gehen, die ihnen höchstwahrscheinlich sehr gute Leistungen bescheinigen werden und die sie deshalb hervorragend evaluieren werden. Und diejenigen Fächer, in denen die Studenten die besten Noten erhalten, preisen sich gern als diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen, die von den besten Studenten bevorzugt werden. Es soll nicht bestritten werten, daß Evaluationen zur größeren Transparenz des Wissenschaftsund Lehrbetriebs in den unübersichtlichen Massenuniversitäten beitragen können, aber man sollte auch nicht die Augen davor verschließen, daß sie strukturelle Anreize zur intellektuellen Korruption auf Gegenseitigkeit bieten. In einigen Notensystemen genügt schon die 1,0 nicht mehr als bester Notengrad. Hier wurde bereits die 0,7 oder gar schon die 0,5 als Bestnote eingeführt. Das „sehr gut“ wird durch ein „hervorragend“ übertrumpft. Wir nähern uns asymptotisch der 0,0 als bester Note. So hat sich z. B. in den USA innerhalb eines Jahrzehnts der No- © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 12 tendurchschnitt um einen Grad verbessert. Das System der zertifizierten, bürokratischpädagogischen Selbstbeweihräucherung ließe sich noch nach sowjetsozialistischem Vorbild vervollkommnen, indem man die Gehälter der Professoren an die Anzahl der ausgezeichneten Studenten bindet. Ein schlechter Lehrer muß sein, von dessen Schülern oder Studenten einige nur ein „befriedigend“ oder „ausreichend“ und wenige sogar ein „nicht ausreichend“ erhalten haben. („Mangelhaft“ gibt es nicht mehr, weil es ja grundsätzlich keine Mängel in der Leistung geben darf, weil sie ja auf Mängel in der Lehre deuten würden.) Er verdient deshalb nur ein geringeres Gehalt. g) Im Verhältnis von Forschung und Lehre kommt ersterer traditionell das höhere Ansehen zu. Die Hochschulpolitik versucht einerseits der Spitzenforschung durch ausgewählte Professoren und ihre Teams auch an den Universitäten günstigere Voraussetzungen zu bieten, andererseits Mechanismen zur Anerkennung, Ausweitung und Verbesserung der Lehre zu schaffen. Auch bei Berufungen sollen durch Evaluationen und Lehrpreise ausgewiesene Lehrerfolge stärker berücksichtigt werden. Da aber vorerst Publikationen entscheidendes Kriterium für die Berufung zum Professor bleiben, werden die Anstrengungen zur Verbesserung der Lehre nur beschränkten Erfolg zeitigen, eher Ressentiments gegen die bei der Zuteilung von Forschungsgeldern privilegierten Kollegen genährt. Nur wenige Professoren werden sich mit der Degradierung zum vornehmlichen Lehrprofessor innerlich abfinden und sich auf die Verbesserung ihrer Lehre konzentrieren. Der Akademische Rat, der vormals überwiegend mit Lehraufgaben betraut war, läßt sich nicht durch die Hintertür wieder einführen. h) Früher wurden die Forschungsmittel zum großen Teil dauerhaft zwischen den Ordinarien verteilt. Heute müssen sie immer mehr befristet als sogenannte Drittmittel von Forschungsförderungseinrichtungen eingeworben werden. Dadurch wird das Forschungsmanagement zum herausragenden Qualitätsnachweis des angehenden wie des etablierten Professors. Dabei wird übersehen, daß eingeworbene Drittmittel ja keine Einnahmen sind, sondern ein Recht auf Ausgaben. Je mehr man also ausgibt, unter Umständen bloß auf geschickte Weise verschwendet, desto höher das Ansehen des Wissenschaftlers. Der bloß hinter seinem Bleistift sinnierende Wissenschaftler ist apriori eine Null, derjenige, der kostspielige Meinungsumfragen und Rechenarbeiten in Auftrag gibt, ein As. Nicht der wissenschaftliche Ertrag einer Arbeit an sich zählt, sondern tendenziell nur noch der finanzielle Aufwand für ihn. Da man ersteren nur schwer objektivieren und messen kann (außer in der Zahl der Publikationen, ihrer Seitenlänge und ihrem Erscheinen in renommierten Verlagen oder Zeitschriften) zählt man lieber den Input an eingeworbenen Euros oder Dollars. Nicht mehr die Fähigkeit des Professors zu eigener © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 13 wissenschaftlicher Arbeit und Leistung ist gefragt, sondern seine Fähigkeit, andere zur Leistung durch eingeworbene Drittmittel zu bewegen. Das erfordert zwar auch gewisse eigene wissenschaftliche Anregungen, Urteilskraft und kleinere Beiträge, vor allem aber viel Zeitaufwand zum Schreiben von Anträgen auf Drittmittel, Zwischenberichten und Rechenschaftsberichten. Clevere Antragsteller wissen, daß konkurrenzfähige Anträge praktisch schon drei Viertel des Forschungsergebnisses enthalten müssen, um sich durchsetzen zu können, um im Endstadium des Forschungsprojekts genügend Zeit zu haben, um einen gut ausgearbeiteten Antrag für ein Nachfolgeprojekt vorzubereiten. Dieser Mechanismus fördert nicht gerade den Mut zu riskanten Forschungen, die völlig neue oder unerwartete Erkenntnisse zu Tage bringen, aber auch scheitern können, aber klären, welche Forschungswege in die Irre führen. Dies kommt zwar einer Forschung zugute, die sich auf bewährten Bahnen bewegt und bereits weitgehend antizipierbare Ergebnisse bringt, aber wirklich neue Erkenntnisse eher behindert. i) Die Aufteilung des Studiums in durch Prüfungen getrennte Stufen (B.A., M.A., Promotion) mit eigenen, durchorganisierten Studiengängen führte faktisch zu einem zweiten Abitur mit Berechtigung zum Fortgeschrittenenstudium mit Masterabschluß und beseitigt die alten Freiheiten des selbst bestimmten Promotionsstudiums. Vorerst war allerdings noch unklar, welcher Prozentanteil der Bachelors (nach drei bis vier Studienjahren) zum Masterstudium (weitere ein oder zwei Jahre) zugelassen wird, manche Universitäten wollten fast allen das weitere Studium ermöglichen, andere wollen das höchstens einem Drittel oder noch wenigeren gestatten und entsprechend die Auswahlkriterien verschärfen. Außerdem war noch unklar, welche Chancen die Bachelors auf dem Arbeitsmarkt erhalten werden, vor allem auf den Gebieten, die bisher ein längeres Studium erforderten (z. B. Gymnasiallehrer, Ärzte). j) In den letzten Jahren findet eine Vervielfältigung und Spezialisierung der Studiengänge statt, die mehr als bisher auf einzelne Berufe zugeschnitten sind. Dabei werden die Studienabschnitte mit Modulen von Lehrveranstaltungen detailliert verplant. Für sie wird ein bestimmter Zeitaufwand berechnet und sie sollen aufeinander aufbauen. Praktisch sind allerdings die Lehrkräfte aus Zeitmangel gar nicht in der Lage, einschätzen zu können, was in den vorausgegangenen Modulen tatsächlich gelehrt worden ist, so daß eine logische Kohärenz zwischen ihnen nur suggeriert wird. Das Baukastensystem kann lediglich Studentenquoten einigermaßen gleichmäßig auf Lehrveranstaltungen verteilen. k) Die Anzahl der Prüfungen während des Studiums hat drastisch zugenommen. Dies verringert zwar erheblich den psychischen Druck, der früher auf den wenigen Tagen der Abschluß- © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 14 prüfung lastete und verteilt ihn über das ganze Studium, aber orientiert das ganze Sinnen und Trachten der Studenten auf den Erwerb guter Noten in allen Semestern, da alle in das Gesamtprüfungsergebnis eingehen. Die rechenhafte Orientierung auf zu akkumulierende Prüfungsergebnisse raubt dem Studium seinen Charakter als eine geistige Anstrengung, die sich auf eine Sache als solche konzentriert, ohne in jedem Semester sich ständig an den extrem formalisierten Leistungserwartungen der Professoren ausrichten zu müssen. Das Studium degeneriert zu einem reinen Pflichtstudium ohne selbstbestimmte und frei gewählte Kürelemente. Die Vielzahl der Prüfungen zwingt die Lehrkräfte zur Standardisierung und Vereinfachung der Prüfungen, etwa durch multiple choice-Verfahren, so daß die Feststellung eines Prüfungsergebnisses für den Prüfer erleichtert und beschleunigt werden kann. l) Das Studienverhalten der Studenten paßt sich den formalen Vorgaben der detaillierten Studiengänge notgedrungen an. An manchen Gymnasien haben die Schüler eine größere Freiheit, zwischen mehreren Lehrveranstaltungen und Lehrkräften zu wählen als mittlerweile an vielen völlig verschulten Universitäten, wo die Modularisierung des Lehrangebots die Studenten zwingt, in bestimmten Semestern bei bestimmten Professoren vorgegebene Lehrveranstaltungen besuchen zu müssen. Nicht wenige Studenten fühlen sich in der total verschulten Universität gar nicht unwohl, weil für sie die Leistungs- und Prüfungsanforderungen berechenbarer geworden sind und sie nicht mehr die Qual der freien Wahl zu empfinden brauchen. An die Stelle eines akademischen Streitgespräches zwischen Prüfling und Prüfer zum Abschluß eines mehrjährigen Studiums tritt das Abfragen von eingebimsten Wissensbeständen in Semesterhäppchen, die keinen inneren Zusammenhang zu haben brauchen. m) Die Lehrmethoden und Lehrgegenstände müssen sich notgedrungen den Prüfungserfordernissen anpassen. Zum Teil haben sich die Lehrmethoden entsprechend didaktischer Unterweisungen und den viel mehr als früher systematisierten Forschungsmethoden professionalisiert und standardisiert, so daß die positiven wie negativen Eigenheiten der Lehrkräfte anscheinend heute weniger zur Geltung kommen als früher. Das angestrebte Ziel ist ja, daß die Lehrveranstaltungen im Prinzip europaweit austauschbar werden, um den Studienwechsel von Land zu Land zu erleichtern. 4 Gesellschaftlicher Kreativitätsverlust durch Bürokratisierung oder Stagnation durch Veränderungsverweigerung Das bisherige deutsche Universitätssystem war sicherlich in vieler Hinsicht den gegenwärtigen Anforderungen der Gesellschaft, der Wirtschaft und teilweise auch der sich immer mehr © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 15 spezialisierenden Wissenschaft nicht mehr gewachsen, insofern zweifelsohne reformbedürftig. Es förderte zudem eine unergiebige Verlängerung der Studienzeiten. Das neue, zum Teil europaweit standardisierte Studiensystem scheint zwar den Erwerb vergleichbarer Wissensbestände zu begünstigen, aber die individuelle Kreativität von Studenten wie Wissenschaftlern eher zu beschneiden. Dabei wird den Professoren immer mehr bürokratische Arbeit in standardisierten Lehrveranstaltungen, Prüfungen, beim Drittmittelerwerb und der Drittmittelverwaltung abverlangt, um formalisierte Leistungsnachweise zu erbringen, die bürokratisch überwacht und ausgewertet werden können. Die Ökonomisierung der Universität weist dem wirtschaftlichen Alltagskalkül in der Professorentätigkeit zum persönlichen wie zum institutionellen Nutzen eine wachsende Bedeutung zu; das bindet Energie und Zeit in erheblichem Ausmaße und ist insofern wohl eher eine wissenschaftsfeindliche Neuerung. Der Hochschullehrerberuf wird dabei immer unattraktiver. So mancher begabte Wissenschaftler zieht es vor, lieber in ein außeruniversitäres Forschungsinstitut oder in ein Großunternehmen zu gehen. Manche Professoren schienen die Reformen durch Veränderungsverweigerung schlicht unterlaufen zu wollen. Sie benannten die bisherigen Lehrveranstaltungen in Module um, ordneten ihnen recht willkürliche einige Leistungspunkte zu und behaupteten eine stringente Sequenz dieser Module, änderten aber nichts an ihrer bisherigen Lehre. Bachelors waren für sie dann lediglich mit einem formellen Abschlußzeugnis verkleidete Studienabbrecher. Die politisch verlangte Berufsorientierung des Studiums kann sowieso in vielen Studienfächern (außer vielleicht Medizin, Jura und Betriebswirtschaft) gar nicht stattfinden, erstens, weil die nach dem Examen in vielen Studienfächern ergriffenen Berufe sich viel zu sehr unterscheiden, zweitens, weil die Professoren ja gar nicht diese Berufe kennengelernt haben. Was sie außer einigen unerläßlichen Fachkenntnissen vor allem vermitteln können ist die Schulung der Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu analysieren, empirische Befunde in einen theoretischen Zusammenhang zu stellen, etablierte Theorien auf ihre Eignung für ausgewählte Fragestellungen zu überprüfen, also systematisch zu denken. 5 Reformierung statt bloßer Bürokratisierung des Hochschulwesens Die „Hochschulreformen“ sind Reaktion zum Teil auf schleichende strukturelle Veränderungen des Hochschulwesens in den vergangenen Jahrzehnten und zum Teil auf Einstellungsänderungen in der Gesellschaft zur Bildung und zur Ökonomie. Vermutlich wirken die Veränderungen der letzten Jahre eher zerstörerisch, so daß sie wahrscheinlich in einigen Jahren das © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 16 Verlangen nach einer Revision der „Reformen“ hervorrufen werden. Das erfordert eine intensivere öffentliche Diskussion der Hochschulpolitik. Leitlinien für eine wirkliche Reform wären, daß man einerseits Freiräume und Sicherheitsräume für die wissenschaftliche und pädagogische Tätigkeit von Hochschullehrern schafft, ohne sie in kleine meßbare Einheiten aufzuschlüsseln. Man muß wieder lernen, Vertrauen in ausgewählte Pädagogen und Wissenschaftler zu setzen, die aus eigener Motivation Leistung erbringen können. Das erlaubt, ungeheuer kostspielige und zeitaufwendige Evaluationen und die Evaluation von Evaluationen einzusparen. Um die unvermeidlichen Auswüchse der akademischen Freiheit zu verringern, könnte man Ombudsmänner einführen, die den wenigen schwarzen Schafen unter den Hochschullehrern im Interesse der Studenten und des Steuerzahlers auf die Finger schauen. Dementsprechend müßte das Studium so organisiert werden, daß ein großer Teil, vielleicht die Hälfte, breites Traditionswissen vermittelt, ein weiterer Teil modernes wissenschaftliche Techniken und Methoden sowie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aus einem engen Fachgebiet. Hierbei soll den selbstbestimmten Interessen des Studenten und Nachwuchswissenschaftlers unter Beratung erfahrener Wissenschaftler möglichst großer Freiraum gewährt werden. Die Festlegung des zu tradierenden Wissens bedarf eines breiten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurses und daraus sich ergebende kulturelle Entscheidungen, ergibt sich längst nicht mehr aus eingeschliffenen Gewohnheiten aus der Vergangenheit. 6 Erfolgreiche „Hochschulreform“ und bald nachfolgender Katzenjammer Vermutlich wird es in einigen Jahren zu einem großen Katzenjammer kommen und vieles von dem, was zu Anfang dieses Jahrhunderts gefeiert wurde, als Fehlentwicklung wahrgenommen. Vielleicht gibt es dann ein gesellschaftliches Klima, in dem man auch über wirkliche Reformen als Verbesserung des Hochschulwesens diskutieren kann. Leitmotiv der gegenwärtigen Hochschulreformen sind das ökonomisierte Leistungsmotiv und der ökonomisierte, berechenbare und demgemäß als gerecht angesehene Wettbewerb. Tatsächlich findet aber eine umfassende Bürokratisierung des Hochschulwesens statt, die eine neue Leistungsbewertungsverwaltung und eine Standardisierung meß- und vergleichbarer Leistungsindikatoren erfordert. Dies wird vermutlich die tatsächliche wissenschaftliche und pädagogische Leistung der Universitäten und ihre Kreativität erheblich beeinträchtigen. Zur leichteren Erhebung und zum Vergleich der Leistungsindikatoren werden Leistungsanforderungen gesetzt, die zum Leistungsbluff und zur Vergeudung von Ressourcen herausfordern. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle 17 Der breite offizielle hochschulpolitische Konsens bedarf einer Erklärung. Weshalb konnte er entstehen und sich gegen das untergründige Gegrummel und die Skepsis an den Universitäten durchsetzen? Das Ende des Ost-West-Konflikts hat den gesellschaftspolitischen Systemwettbewerb beseitigt und damit auch die Herausforderung, in den Human- und Gesellschaftswissenschaften eine liberale Alternative zum Marxismus-Leninismus zu demonstrieren. Die neue Herausforderung der wirtschaftlichen Globalisierung verlangt eher nach einer funktionellen Innovationsfähigkeit von Universitäten in den technisch-naturwissenschaftlich, wirtschaftlich verwertbaren Wissenschaftszweigen. Dies und zusätzlich das politische Ziel der europäischen Integration begünstigen die Neigung zu einer weitreichenden Angleichung der Universitätsstrukturen europaweit und tendenziell auch weltweit wie die berühmte Einführung des gestuften BA/MA-Studiensystems. Ein viel tiefer sitzender struktureller Faktor für die Veränderung des Universitätswesens ist vermutlich die Expansion der Universitäten. Sie führte nicht, wie ursprünglich geplant, zu einer Verdoppelung und Vervielfachung bestehender Professuren und Fachgebiete mit denselben Aufgaben, sondern zu einer Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften. Bald konnten selbst die Professoren nicht mehr ihr ganzes traditionelles Fachgebiet überschauen und das neue Fachwissen integrieren. Zugleich sollten aber die Studenten eine Synthese von Politikwissenschaft, von Soziologie usw. herstellen oder sie mußten sich mit unverbundenen Wissenssegmenten aus den Forschungsgebieten ihrer Professoren zufriedengeben. Letztere sind aber von Universität zu Universität unter allgemeinem Fachlabel höchst verschieden und nicht mehr kompatibel. Eine Konsequenz daraus ist das Abgehen von den traditionell wenigen Studienfächern, die nun ausdifferenziert werden. So schafft man nun neue Studien- und Prüfungsordnungen für alle möglichen Themengebiete, für Europäische Integration, für Friedensforschung, für Modernisierung usw. usf. Das fördert wiederum die weitere Spezialisierung der Wissenschaften. Es ist wohl eine Illusion, daß die unübersichtliche Vervielfältigung der Wissenschaftszweige von sich aus das gesellschaftliche Gemeinwohl fördert. Deshalb wird wohl eines Tages der Wunsch verstärkt auftreten, das verstreute Detailwissen auch systematisch wissenschaftlich zu synthetisieren und die Erkenntnisse daraus in ein neu zu gestaltendes Allgemeinwissen zu übertragen, das Kommunikation zwischen den äußerst heterogenen Teilen der Gesellschaft wieder ermöglicht. Ein solches wissenschaftlich fundiertes Allgemeinwissen scheint unerläßlich, um in der komplexen modernen Gesellschaft rationale demokratische Entscheidungen treffen zu können, die ein vernünftiges Gemeinwohl für alle Menschen und ihre Umwelt konstituieren und ständig zu erneuern vermögen. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle
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