Jeder Tag wird genau geplant

S C H W E R P U N K T « M E N TA L H E A LT H U N D I N T E G R I E R T E V E R S O R G U N G »
Anna Sax
Jeder Tag wird genau geplant
Im Gespräch mit einer Psychiatrie-Patientin im ambulanten Versorgungsnetz
Psychiatrie-Spitex und ambulante Therapie ermöglichen Patientinnen und Patienten, die sonst stationär
oder in der Tagesklinik betreut werden müssten, ein
selbstständiges Leben. Voraussetzung ist eine enge
Zusammenarbeit des interdisziplinären Betreuungsteams. Eine Berner Patientin berichtet von ihren
Erfahrungen.
«Sie ist eine Wundertüte», freut sich Martin H.* und
greift zärtlich nach der Hand seiner Freundin, die auf
dem Stuhl neben ihm unruhig hin- und herrutscht.
«Du nimmst mich ernst, das ist das Wichtigste», antwortet Lisa Z.* und strahlt ihn an. Einen Moment lang
vergessen die beiden, wo sie sich befinden: In der psychiatrisch-psychologischen Praxis «Psy-Bern» in Bern.
Hier laufen die Fäden von Lisas Betreuungsnetz zusammen. Die 36-Jährige leidet unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie einer zugrundeliegenden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
im Erwachsenenalter. Sie hat sich bereit erklärt, mit
Care Management über ihre Lebensgeschichte zu sprechen und darüber, wie sie die Integrierte Versorgung
als psychisch kranke Patientin erlebt.
Gemeindepsychiatrie als Modell
Die Berner Praxis arbeitet bei einigen PatientInnen im
Sinne eines sogenannten «home treatment»-Modells, wie
der Psychologe Dr. Marc Lächler ausführt, der ebenfalls
am Gespräch teilnimmt. Die enge Zusammenarbeit
mit der Psychiatrie-Spitex und mit anderen ambulanten Leistungserbringern macht es möglich, Klinikaufenthalte auf ein Minimum zu reduzieren. «Bern hat lange
eine Vorreiterrolle in der Gemeindepsychiatrie gespielt,
man kann sogar von einem ‹Berner Modell› sprechen»,
stellt Lächler nicht ohne Stolz fest. Die Universitären
Psychiatrischen Dienste UPD, die über die Stadt verteilt verschiedene tagesstationäre und ambulante Einrichtungen führen, sind ein Beispiel für ein solches
gemeindeintegriertes Versorgungsnetz. Patientinnen wie
Lisa können so im Alltag und im Krisenfall auf die
Unterstützung durch ein gut eingespieltes, interdisziplinäres Team zählen. Auch Familienangehörige und
Lebenspartner werden eng mit einbezogen.
* Namen der Redaktion bekannt
Drogen als Selbstmedikation
Lisa, die in Deutschland aufwuchs, war schon als Kind
zappelig und in der Schule eine Aussenseiterin, «entweder
aggressiv-bockig oder übertrieben lustig». ADHS war
damals noch deutlich weniger bekannt als heute, niemand
kam auf die Idee, dass Lisa krank sein könnte. Sie galt
einfach als Unruhestifterin. Sie war bereits 14 und im
Gymnasium, als ihr kleiner Bruder geboren wurde. Da
erst wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter ein schweres
Alkoholproblem hatte: «Ich habe meinen Bruder mehr
oder weniger grossgezogen, meine Mutter war dazu nicht
mehr in der Lage», erzählt sie. Lisa verliess das Gymnasium gezwungenermassen und bildete sich zur Kleinkinderzieherin aus. Den Berufsabschluss schaffte sie «mit
Auszeichnung». Lisa liebte ihren Beruf: «Ich wollte mit
Kindern zusammen sein, um Familie zu haben.» Doch
schon während der Ausbildung entwickelte sie eine
Essstörung. Sie konnte einfach nicht mehr essen. Als sie
noch 48 Kilo wog, beschloss sie zum ersten Mal, Hilfe
zu suchen. Ihr Hausarzt überwies sie zu einer Psychologin.
Diese merkte nichts, als Lisa anfing, exzessiv zu trinken
und Drogen zu konsumieren. Kokain half ihr, «herunterzukommen», sich zu beruhigen. Marc Lächler wirft
ein: «Viele ADHS-Betroffene weisen eine komorbide
Suchtstörung auf. Stimulierende Substanzen wie Kokain
werden bei diesen Betroffenen wie eine Art Selbstmedikation verwendet – es wirkt bei ihnen nicht aufputschend,
sondern eher beruhigend und fokussierend.» Lisa bestätigt: «Es gab keinen Ruhepunkt in meinem Leben –
ich wollte einfach nur Ruhe haben.» Seit sie nun vom
ADHS weiss und mit Ritalin behandelt wird, ist der
Kokainkonsum kein Thema mehr.
Es folgte der Therapieabbruch und die Trennung von
ihrem Freund. Lisa lernte einen neuen Mann kennen,
einen Schweizer. Sie legte endlich wieder an Gewicht
zu, heiratete und zog mit ihrem Mann nach Bern. Doch
ihre Krankheit machte sich immer stärker bemerkbar, sie
war unruhig, impulsiv, manchmal unheimlich wütend.
«Meine Wölfin», nennt sie diesen Zustand. Ihr Mann
hatte dafür kein Verständnis. Ihm war es peinlich, mit
einer Frau verheiratet zu sein, dazu noch mit einer Deutschen, die so extrovertiert war und manchmal auch laut
wurde. Sie fand Arbeit als Kleinkinderzieherin in einer
Familie, doch sie fühlte sich ständig überwacht, hintergangen, nicht ernst genommen. Als sie Ende 2005 einen
Zusammenbruch erlitt, riet ihr der Hausarzt zur Kündigung. Und er liess sie endlich durch eine Psychologin
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abklären. Diese bestätigte die Diagnose, die sie sich bereits
selber gestellt hatte: Borderline-Syndrom. Hinzu kam
während einer teilstationären Behandlung die Diagnosestellung einer ADHS, die sie aus der Kindheit mitbrachte.
Lisa war froh, endlich Klarheit darüber zu haben, dass
sie krank war und nicht «selber schuld» daran, dass sie
sich «nicht besser im Griff» hatte. Für ihren Mann dagegen war die Diagnose eine Katastrophe.
«Aufgefangen und aufgehoben»
Die Scheidung vor vier Jahren war für sie zugleich das
Ende einer mühsam aufrechterhaltenen «Normalität» und
der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Sie fand eine
Wohnung, war aber zunächst nicht in der Lage, ihren Alltag selbstständig zu bewältigen. So folgte eine Phase, wo
sie in der psychiatrischen Tagesklinik betreut wurde. Der
Schritt in die «Freiheit» des selbstständigen Lebens wurde
möglich durch die Psychiatrie-Spitex, die wiederum eng
Viele ihrer körperlichen Symptome
sind Folgeerscheinungen der permanenten
inneren Unruhe und Spannungszustände.
mit der Praxis «Psy-Bern» zusammenarbeitet. So erhält
Lisa heute wöchentlich Besuch von der Spitex und findet
sich regelmässig in der ambulanten Praxis zur Psychotherapie, Körpertherapie und medikamentösen Überwachung ein. Ob sie sich da nicht bevormundet fühle,
kontrolliert im Räderwerk des Versorgungssystems, will
ich wissen. Nein, nicht kontrolliert fühle sie sich, sondern
aufgefangen und aufgehoben, antwortet Lisa. Sie ist
froh, dass auch der Hautarzt und selbst der Zahnarzt
Teil des Netzwerks sind, denn viele ihrer körperlichen
Symptome sind Folgeerscheinungen der permanenten
inneren Unruhe und Spannungszustände: Narben zeugen
von Selbstverletzungen, Zahnschmerzen sind die Folge
davon, dass sie, besonders in der Nacht, die Zähne viel
zu stark zusammenbeisst.
Seit einigen Monaten ist auch Martin Teil des Systems.
Er verliebte sich und machte den ersten Schritt auf Lisa
zu, obwohl er rasch merkte, dass mit ihr «psychisch etwas
nicht in Ordnung ist». Doch es war ihm egal: «Ich habe
nie Angst gehabt. Ich liebe Lisa, und ich lerne durch sie
auch ihre Krankheit kennen. Klar, manchmal geht’s mir
auf den Sack», fährt er in seiner unnachahmlich offenen
Art fort, «aber ich komme damit klar. Die Liebe trägt.»
Martin ist als wandernder Zimmermann in der Welt
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herumgekommen. Er hat schon viel gesehen. Wenn er
ihr eine Hilfe sein kann, indem er ihr zuhört und sie ernst
nimmt, dann tut er das gern. «Übrigens», fügt er hinzu,
«tut sie auch viel für unsere Beziehung. Sie ist lieb –
und sie hat mir auch schon geholfen.» Martin begleitet
seine Freundin manchmal auch in die Therapie. Er weiss,
was er im Fall einer Krise zu tun hat. «Falls ich in die
Klinik eingeliefert werde», schmunzelt Lisa, «muss er die
Katzen versorgen.» Die beiden wohnen nicht zusammen,
Lisa will unabhängig bleiben.
Durchstrukturierte Tage
Wie denn nun ein Tag in ihrem Leben aussieht, will
ich von Lisa wissen. «Das Wichtigste ist, dass ich eine
Struktur habe», erklärt sie. Früher war es ihr unmöglich
gewesen, ihren Tag einzuteilen: Sie stand irgendwann
auf, versuchte drei Dinge gleichzeitig zu erledigen, liess
unvermittelt alles liegen und lief weg. Am Schluss blieb
ein Chaos zurück und sie war verzweifelt, weil sie wieder
nichts zustande gebracht hatte. «Nun kommt jeden
Donnerstag Rebekka von der Spitex zu mir nach Hause»,
erzählt Lisa. «Wir machen gemeinsam einen Wochenplan
und gehen einkaufen.» Jeder Tag wird im Voraus genau
geplant: Aufstehen – Morgentoilette – Frühstück – Katzen versorgen – aufräumen – fernsehen – Menu fürs
Abendessen planen. Wenn sie um 14 Uhr einen Termin
in der Stadt hat, muss sie den Zug um 13.05 Uhr nehmen,
sonst wird es zu knapp. Nach der Rückkehr in ihre
Wohnung werden sofort die Sachen eingeräumt und
die Kleider aufgehängt, das ist wichtig. Wenn Martin
zwischen 18.30 und 18.50 Uhr kommt, kochen sie
zusammen, erzählen einander vom Tag, schauen sich
einen Film an oder auch zwei. Im Wochenplan ist
auch «Ich-Zeit» eingetragen. Dann malt sie oft: «Ich male
gerne und gut», verrät Lisa, und fügt lächelnd hinzu: «Ich
bin sehr begabt.»
Was für mich eher wie ein langweiliger Alltagstrott aussieht, ist für Lisa ein täglicher Parforce-Akt. Ohne die
Struktur des Versorgungsnetzes wäre ein eigenständiges
Leben für sie unmöglich – «ich wäre ein Fall für die
psychiatrische Klinik». Die Handlungen der involvierten
Fachpersonen, Medikamente, Therapien und Tagesstrukturen sind aufeinander abgestimmt. Alle drei Monate
finden «Standort-Sitzungen» statt, an denen neuerdings
auch Martin teilnimmt. «Ich mache unglaubliche Fortschritte», schwärmt Lisa. «Ich setze mir realistische Ziele,
die ich auch einhalten kann.» Diese Woche wird sie ein
Schreiben ans Zivilstandsamt verfassen: Sie will ihren
Mädchennamen zurückhaben.