Lesen Sie hier: Erinnerung an die Pusteblume, ein Pusteblume

Kath. Kinderhaus Pusteblume
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60. Jahre Pusteblume
ein Artikel von Benedikt Warmbrunn Journalist und ehemaliges Pusteblumekind
In meiner Erinnerung stand in meinem Kindergarten ein Piratenschiff. Das ist, eigentlich bin ich mir da sicher, ein
ziemlicher Blödsinn, wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, weiß ich auch: Da stand kein Piratenschiff. Aber meistens
bin ich nicht ganz ehrlich zu mir. Denn wenn ich an meinen Kindergarten denke, an den Kindergarten Pusteblume
also, und an die Zeit, die ich dort verbracht habe, dann denke ich vor allem daran, welche Möglichkeiten wir
damals hatten.
+++ Und wer sagt, dass ein paar Kisten kein Piratenschiff sein können?
+++ Der Kindergarten Pusteblume wird in diesem Jahr 60 Jahre alt, wäre er kein Kindergarten, könnte man ihm
gratulieren, dass er jetzt vermutlich endgültig seine Midlife Crisis hinter sich hätte. Aber er ist ja weiterhin ein
Kindergarten, und ein Kindergarten wird nicht älter. Ein Kindergarten, gerade einer wie die Pusteblume, bleibt
ewig jung. Ich glaube, das liegt auch daran, dass die Kinder im Kindergarten sich immer wieder neu erfinden.
+++ Von den 60 Jahren, die es den Kindergarten jetzt schon gibt, war ich ein Jahr dort, von 1992 bis 1993, aber
dass es genau dieses eine Jahr war, weiß ich ehrlich gesagt nur, weil ich 1996 eingeschult wurde, und erst dann
habe ich damit angefangen, mein Leben in Jahren einzuteilen. Das war sicherlich nicht schlecht, das hat Ordnung
in mein Leben gebracht, zumindest manchmal. Aber was mir immer näher war als die Ordnung, das waren die
Dinge, die damit überhaupt nichts zu tun hatten, die ungeplant waren, manchmal auch verrückt, gelegentlich
bestimmt auch ein ziemlicher Blödsinn. Und ich behaupte, dass sie mich bis heute jung halten (wer lieber in
Jahren denken will, darf dennoch gerne nachrechnen, wie alt ich trotz all dem bin). Das wir uns beide noch so
jung fühlen, die Pusteblume und ich, das liegt an einer Sache, die ich unter anderem in unserem einem
gemeinsamen Jahr gelernt habe: Wie lustig und fröhlich das Leben sein kann, wenn man es jeden Tag neu
erfindet. In dem einen Jahr habe ich also gelernt, an meine Fantasie zu glauben.
+++ Ich halte wenig davon zu sagen, dass das Leben als Kindergartenkind unbeschwerter war, letztlich
beschweren wir uns das Leben ja nur selbst. Was aber sicher stimmt, ist, dass das Leben als Kindergartenkind
weniger vorgeprägt ist. Dass es einem noch viel mehr Möglichkeiten lässt. Dann kann ein Baum auch mal ein
Turm sein. Oder ein Gebüsch ein Haus. Oder ein paar Kisten ein Piratenschiff.
+++ Das Leben, das darf man sich gerade am Geburtstag eines sich ständig neu erfindenden Kindergartens
nochmal vergegenwärtigen, muss nicht immer eine feste Struktur haben, es darf auch manchmal einfach so vor
sich hin laufen, ohne dass man weiß, wo es endet. Und wenn jemand Neues hinzu kommt, dann muss er nicht
lange fremd bleiben, es reicht ja, ein bisschen Fantasie in ihn hineinzustecken, und schon ist da jemand, mit dem
man ein Haus bauen kann. Und wenn es nur aus dürren Zweigen besteht.
+++ Das gilt übrigens nicht nur für die Jahre im Kindergarten.
+++ Seit mehreren Jahren arbeite ich inzwischen als Journalist, zu meinem Beruf gehört es also, in diese Chaos
an Informationen ein bisschen Ordnung zu bringen. Aber auch dabei hilft es mir, an meine Fantasie zu glauben.
Und schon sehe ich in einem langweiligen, immer wieder gehörten Thema eine große Geschichte. Oder ich finde
einen Blickwinkel, der etwas Alltägliches unterhaltsam macht. Das sind auch Techniken, die ich als kleines Kind
gelernt habe.
+++ Von den anderen Kindern, mit denen ich diese eine Jahr lang in der Pusteblume war, habe ich zwar nicht
mehr zu allen Kontakt, aber zu den meisten von denen, von denen ich gelegentlich noch höre, ist der Kontakt
umso enger. Wir sind auf andere Schulen gegangen, haben in anderen Städten studiert, haben andere
Urlaubsziele oder Hobbies, auch die Freundinnen sind oft komplett unterschiedlich. Und doch ist da etwas, das
uns verbindet. Eine gemeinsame Geschichte, die sich inzwischen seit gut zweieinhalb Jahrzehnte fortschreibt. Es
ist eine Geschichte, die wir gemeinsam erlebt haben, aber das Schönste daran ist vielleicht, dass wir sie immer
wieder neu denken, dass sie uns etwas Wert ist, und zwar so viel, dass wir bereit sind, uns neu auf unsere
Geschichte einzulassen. Und damit immer wieder auch auf uns selbst.
+++ Wenn ich meine Familie in Sillenbuch besuche und wir dann am Kindergarten Pusteblume vorbeilaufen, an
diesem Ort, dem ich wahrscheinlich mehr verdanke, als ich mir vorstellen kann, denke ich auch an diese
Freundschaften, die ich damals geschlossen habe. In den Garten schaue ich allerdings nie. Ich möchte mir
schließlich weiterhin vorstellen, dass dort ein Piratenschiff stehen könnte.