Beitrag

MARKO MARTIN
Denker des Zweifels. Zum Tod von André Glucksmann
Welch schreckliche Koinzidenz! Ausgerechnet am Tag der Beerdigung von André
Glucksmann wurde seine Heimatstadt Paris zum Tatort terroristischen Massenmords.
Grauenhafte Bestätigung seiner Thesen, die so manch jüngerer Zeitgenosse bereits
unter der Rubrik Hysterie hatte abheften wollen: Das Undenkbare denken. Nichts
Unmenschliches sei Dir fremd, um zum Schutz des Menschlichen gewappnet zu sein.
Glucksmanns Philosophie war eine von Sokrates und Karl Popper geprägte NegativSicht, eine konkrete Menschenfreundlichkeit: Da wir uns weder über die letzten
Dinge einig werden können noch über die Details eines allgemeinen guten Lebens,
müssen wir uns zusammenschließen in der konkreten Abwehr von physischem Leid,
Unterdrückung, Terror und Folter. “Die Gemeinschaft der Überzeugten muss der
Solidarität der Erschütterten weichen, will man Ethik begründen. Was wir brauchen,
ist eine Moral der ersten Hilfe. Den Scharlatanen aber überlassen wir es, Rezepte für
sicheres Glück auszustellen.“
André Glucksmann wurde 1937 als Kind nach Frankreich geflüchteter
mitteleuropäischer Juden geboren. Sein Vater starb zu Beginn des Krieges, die Mutter
rettete den Sohn und die Tochter aus einem französischen Internierungslager, dessen
Insassen bereits für den Weitertransport nach Drancy und Auschwitz vorgesehen
waren. „Als auf den Bahnsteig die Selektionen durchgeführt wurden“, schrieb er in
seiner 2006 veröffentlichten Autobibiographie „Wut eines Kindes, Zorn eines
Lebens“, „teilte man uns den `Nicht-Juden´ zu, während die Mehrzahl zu ihrem
verhängnisvollen Bestimmungsort aufbrach. Ich gehöre also zu denen, die ihr Leben
der Impertinez einer rebellischen Mutter verdanken, dem, was man im Jiddischen
Chuzpe oder im Griechischen Parrhesia nennt.“
Zu Beginn seiner intellektuellen Laufbahn war Glucksmann 68er-Maoist, dann
Assistent des großen Liberalen Raymon Aron und schließlich, unter dem Eindruck der
Lektüre Alexander Solschenizyns, ab 1974 einer der Köpfe der antitotalitären
„noveaux philosophes“. Weit entfernt davon, KZ und Gulag gegeneinander
auszuspielen und zu relativieren, bezogen sich diese jungen, fast ausnahmslos
jüdischen Intellektuellen auf Hannah Arendt und brachen damit das Schweigekartell
der französischen Gesellschaft, deren Linke den Stalinismus verharmloste, während
die Rechte weiterhin die Kollaboration von Vichy verdrängte. Da waren also André
Glucksmann, Bernard-Henri Lévy, Alain Finkielkraut und Pascal Bruckner.
In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren hatte sich Glucksmann dann bei
der westdeutschen Friedensbewegung unbeliebt gemacht, da er - aus eben jener
Philosophie der ethisch notwendigen Abschreckung heraus - den NatoNachrüstungsbeschluss verteidigte. Ironie der Geschichte: André Glucksmann starb
am 10. November 2015, nur wenige Stunden vor Helmut Schmidt, der sich seinerzeit
aus den gleichen Gründen mit den Gefühlspazifisten der eigenen Partei überworfen
hatte. Freilich hörten damit die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Denn André war
ein Empathiker, ein Menschenfreund und Menschenrechts-Universalist – von
Argentinien über Bosnien, Ruanda, Algerien, Tschetschenien bis hin zu Rußland,
dessen Dissidenten er immer wieder beistand. Und er war mein Freund und Lehrer,
Gesprächspartner während so zahlreicher Besuche in seiner Wohnung unterhalb der
Gare du Nord. Wie verblüffend und untypisch: Der Familienvater mit dem markanten
Charaktergesicht und dem inzwischen grau gewordenn Pagenschnitt war Dauergast
der Medien, bei Fernsehdiskussionen und in Zeitungsaufsätzen und Petitionen, und
doch war ihm jegliche Eitelkeit fremd, ging es ihm nicht einmal um „die Sache“,
sondern tatsächlich...um den konkreten Menschen, den von rechten, linken oder
religiösen Fanatikern Geschundenen, der vor Leid bewahrt werden musste.
Und wie überraschend auch das: Seine weitläufige Hinterhofwohnung in der Rue du
Faubourg-Poissonière voller Bücher, doch der Salon ein kleiner Versaillescher
Spiegelsaal mit beinahe feudal anmutenden Möbeln – darin aber Besucher aus nahezu
allen Weltgegenden, von Ostberlin bis Sarajewo und Grosny, denen „Glucks“, wie ihn
seine Freunde nannten, beizustehen versuchte. Sein Zorn galt den Pinochets, Arafats,
Bin Ladins, Milosevics und Putins dieser Welt, seine Verachtung ihren westlichen
„Verstehern“, den angeblich realpolitischen „Machern“. Unvergessen, wie mich
André einmal aus seinen großen, von Belustigung zu Tieftraurigkeit changierenden
Augen anblickte und sagte: „Mitterrand hat sein Leben beendet wie er es begonnen
hatte – als Komplize eines Völkermordes, von Vichy bis Ruanda. Und mit Leuna hat
er sogar vermocht, den armen Helmut Kohl ins Zwielicht zu zerren.“
Und doch bleibt von André Glucksmann mehr als die Erinnerung an präzise
Zeitdiagnostik. Was bleibt, ist sein Verständnis von Ethik und jenes in Variationen
immer wieder nuancierte und mit sprachartistischer Finesse vorgebrachtes Credo:
„Alles fängt damit an, seine eigene Verwunderung zu akzeptieren. Man darf nicht
zögern, sie zum Ausdruck zu bringen, darf die entstandene Diskrepanz nicht fürchten,
auch auf die Gefahr hin, dass man sich elend und allein fühlt. Die Erkenntnis des
Inhumanen bedingt die Definition des Humanen als Nicht-Inhumanes.“ Seine
zahlreichen Bücher sind deshalb auch weiterhin intellektuell relevante Einsprüche
gegen ein argloses Humanitätsgesumms, das angesichts jeden neuen Schreckens ein
statisch neugierloses Warum? murmelt. Nicht zufällig kam „Glucks“ immer wieder
auf jene Episode zurück, die ihm Hans Christoph Buch - zusammen mit Peter
Schneider einer seiner deutschen Schriftstellerfreunde - aus Afrika mitgebracht hatte.
Frage an einen liberianischen Freischärler, warum er töte. Dessen Antwort: „Why
not?“ Glucksmanns starkes Antidot ist auch in seinen letzten Büchern zu finden, in
der Eloge auf Sokrates (dessen subversive Skepsis er mit Heideggers antisemitischen
Schollen-Geraune konfrontiert) und jenem Buch über den Hass, dessen auf Montaigne
rekurrierende Schlußzeilen sich nun lesen wie ein Epitaph auf die Pariser NovemberToten: „Sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, um die Gefahr des
Abschlachtens zu vermeiden. Denn die anständigen Menschen, aufrichtigen
Geistlichen aller Religionen und illusionslosen Realisten kennen ihre Grenzen.
Deshalb brauchen sie den Hass nicht einmal zu hassen, um sich seinem tödlichen
Wahn zu widersetzen.“ Voilá, No Pasaran. Leb´ wohl, mein alter weiser Freund.
Shalom Chaver.