Magdeburg, 28.01.2016 Abbau Langzeitarbeitslosigkeit und Integration von Flüchtlingen: Jobcenter müssen dringend flexibler und mit mehr Mitteln ausgestattet werden Sehr geehrte Damen und Herren, vor ziemlich genau einem Jahr habe ich mich bereits mit einem Schreiben unter der Überschrift: „Statistik der Bundesagentur für Arbeit belegt: Immer mehr Mittel für die Verwaltung, immer weniger für Eingliederungsleistungen im Arbeitslosengeld-II-Bereich“ an Sie gewandt. Bestandteile dieser Ausarbeitung waren auch verschiedene grafische Auswertungen von Statistiken der Bundesagentur für Arbeit, die den überproportional hohen Rückgang der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik im Bereich der Jobcenter belegten. Leider hält diese negative Entwicklung bis heute an. In ihrer Presseinfo 02/2016 vom 05.01.16 erklärte die Regionaldirektion SachsenAnhalt/Thüringen der Bundesagentur für Arbeit zwar, dass auch in Sachsen-Anhalt im Vergleich zum Vorjahr die Langzeitarbeitslosigkeit rückläufig sei, allerdings vom Niveau her deutlich geringer als die Gesamtarbeitslosigkeit. Allein im Dezember 2015 waren in Sachsen-Anhalt noch mehr als 44.000 Arbeitslose seit länger als einem Jahr ohne Job. Rund 38 Prozent aller Arbeitslosen sind aktuell in Sachsen-Anhalt von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen, wobei dieser prozentuale Wert seit längerer Zeit stagniert. Dies ist auch eine Folge des seit dem Jahr 2010 zu beobachtenden überdurchschnittlich hohen Rückgangs der Eingliederungsmittel, die den Jobcentern für die Aktivierung, Qualifizierung und Vermittlung von ALG-IIEmpfänger/innen zur Verfügung stehen, obwohl allgemein bekannt ist, dass die noch verbliebenen ALG-II-Empfänger/innen inzwischen oft multiple Hemmnisse aufweisen, die sie an einer kurzfristigen Integration in den regulären Arbeitsmarkt hindern. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf folgende alarmierende Zahlen aufmerksam machen, die in den letzten beiden Monaten von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht worden sind: − Zwischen den Jahren 2010 und 2014 sanken die jährlichen Gesamtmittel, die bundesweit von den Jobcentern für die Eingliederung von Arbeitslosen genutzt wurden, um ca. 2,9 Mrd. € (in Sachsen-Anhalt um mehr als 203 Mio. €). Dies entspricht einem Mittelrückgang von rund 50 Prozent (in Sachsen-Anhalt sogar Rückgang um knapp 54 Prozent). − Zwar sank im gleichen Zeitraum bundesweit auch die jahresdurchschnittliche Anzahl der Leistungsempfänger/innen von Arbeitslosengeld II um gut 507.000. Dies entspricht jedoch einem prozentualen Rückgang der ALG-II-Empfänger/innen von gerade einmal 10,4 Prozent. Der wesentlich höhere prozentuale Rückgang von Eingliederungsmitteln ist also durch die geringere Anzahl der ALG-IIEmpfänger/innen nur zu einem kleinen Teil zu erklären. − Dividiert man die Ausgaben für die Eingliederungsleistungen durch die jahresdurchschnittliche Anzahl von ALG-II-Empfänger/innen, kommt man im Jahr 2010 zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich 1.166,50 € je Leistungsempfänger/in für die Eingliederung in Arbeit zur Verfügung standen. Im Jahr 2014 waren dies – trotz der bei den ALG-II-Empfänger/innen mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit anzutreffenden Verschärfung der Vermittlungshemmnisse – nur noch durchschnittlich 651,08 €. − Der prozentuale Anteil der aufgebrachten Kosten für Eingliederungsleistungen an den Gesamtausgaben im SGB II sank zwischen 2010 und 2014 von 12,2 % auf 6,9 %. − Im gleichen Zeitraum aber stieg der prozentuale Anteil der Verwaltungskosten an den Gesamtausgaben im SGB II von 9,0 % auf 10,9 % oder anders ausgedrückt: Die Verwaltungskosten stiegen innerhalb von 4 Jahren bundesweit um mehr als 307 Mio. € an (in SachsenAnhalt um ca. 5,3 Mio. €). − Brachten die Jobcenter im Jahr 2010 bundesweit noch Mittel in Höhe von rund 1,5 Mrd. € (in Sachsen-Anhalt ca. 164 Mio. €) mehr für Eingliederungsleistungen als für Verwaltungskosten auf, hat sich dieser Trend inzwischen vollständig ins Gegenteil verkehrt: Im Jahr 2014 wurden 1,66 Mrd. € mehr Mittel für die Verwaltung der Jobcenter ausgegeben als für alle Eingliederungsmaßnahmen insgesamt (in Sachsen-Anhalt betrug der „Überschuss“ der Verwaltungsmittel rund 45 Mio. €). Alle Experten sind sich darüber einig, dass angesichts des wachsenden Fachkräftebedarfs und der negativen demografischen Entwicklung nun alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um auch die Langzeitarbeitslosen, Älteren und Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive nachhaltig und sozialversicherungspflichtig auf dem ersten – also unsubventi2 onierten – Arbeitsmarkt zu integrieren. Fraglich ist, wie dies mit derart reduzierten Haushaltsmitteln umgesetzt werden soll, selbst wenn in diesem Jahr der Eingliederungstitel für die Jobcenter tatsächlich um 250 Mio. € erhöht werden sollte. Diese Mittel dürften bei weitem nicht ausreichend sein, um den wachsenden Herausforderungen des Arbeitsmarktes in qualitativer und quantitativer Hinsicht angemessen Rechnung tragen zu können. Der dringend notwendige Aufwuchs der Jobcenter-Mittel allein ist hierfür jedoch nicht ausreichend. Es wäre beispielsweise auch dringend erforderlich, mit den genannten Personengruppen, die oftmals nur sehr schwierig in entsprechende Jobs zu integrieren sein werden, höchst individuell und nachhaltig zu arbeiten. Dazu müssten für jede(n) ALG-II-Empfänger/in individuelle Förderketten unter Berücksichtigung der verschiedenen Förderinstrumente des SGB II und III und/oder sonstiger europäischer Arbeitsförderprogramme entwickelt und umgesetzt werden, um letztlich eine erfolgreiche Arbeitsaufnahme zu erreichen. Eine einseitig wirkende Verlängerung z.B. von Arbeitsgelegenheiten (den sog. 1-€-Jobs) oder von Aktivierungsmaßnahmen wird hingegen für den größten Teil der beschriebenen Risikogruppen jedenfalls für eine dauerhafte Integration in unsubventionierte Arbeit – idealerweise in den Bereichen, wo regional der größte Fachkräftemangel droht – nicht ausreichend sein. Die jüngsten Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben erneut bestätigt, dass gerade durch abschlussbezogene Qualifizierungsmaßnahmen die mit Abstand nachhaltigsten Eingliederungseffekte von Arbeitslosen erzielt werden (s. beispielhaft IAB-Bericht 19/2015). Selbstverständlich sind derartige Maßnahmen nicht immer sofort für Langzeitarbeitslose oder Migranten geeignet. In zielgerichteten Profilingmaßnahmen, ggf. Sprachfördermaßnahmen und/oder weiteren Vorschaltinstrumenten (hierfür wären z.B. auch die Arbeitsgelegenheiten sehr gut geeignet) könnten jedoch Arbeitsmarktdienstleister sehr gut herausfinden, für welche(n) Leistungsbezieher(in) welche konkrete Qualifizierungsmaßnahme (abgestimmt auf den regionalen Arbeitskräftebedarf) besonders hilfreich und zu bewältigen wäre. Auf eine derart individuelle und nachhaltige Förderung greifen jedoch bisher nur wenige Jobcenter zurück, was auch eine Erklärung für die bisherigen bescheidenen Erfolge bei der Integration von Langzeitarbeitslosen ist. Als Anlage sind diesem Schreiben zur besseren Anschauung wieder einige aktualisierte grafische Darstellungen zu den oben dargestellten Entwicklungen beigefügt, u.a. auch ein Diagramm über die Nutzung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten in Sachsen-Anhalt. Hieraus können Sie in aller Deutlichkeit das starke Zurückfahren der Eingliederungsmaßnahmen und das Verharren der Weiterbildungsmaßnahmen auf einem sehr niedrigen Stand entnehmen. 3 Um den sozialen Frieden sowie die Arbeitskräftebedarfe der Wirtschaft bundesweit und natürlich auch in Sachsen-Anhalt weiterhin sicherstellen zu können, wird es zwingend notwendig sein, für eine gelungene Integration der Langzeitarbeitslosen und der Migranten wieder deutlich mehr Mittel in die Hand zu nehmen und die vorhandenen Arbeitsmarktinstrumente zielgerichteter und ggf. auch aufeinander aufbauend nach den jeweiligen individuellen Voraussetzungen der Leistungsempfänger einzusetzen. Ich bitte Sie, dieses Anliegen im Rahmen Ihres politischen Wirkens mit Nachdruck zu unterstützen. Schon jetzt danke ich Ihnen für Ihr Interesse an dieser Ausarbeitung. Für eventuelle Rückfragen stehe ich Ihnen natürlich gern zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen Jürgen Banse - Geschäftsführer Anlage Verteiler: − Bundestagsabgeordnete des Landes Sachsen-Anhalt − Vorsitzende der Landtagsfraktionen Sachsen-Anhalts 4 Anlage Entwicklung der prozentualen Ausgaben für aktive und passive Leistungen im SGB II (Aktive und passive Förderung von Arbeitslosengeld-II-Empfänger-/innen) - Deutschland Quelle: Bundesagentur für Arbeit „Ausgaben für aktive und passive Leistungen im SGB II 2014“ Anteil an den Gesamtausgaben im SGB II in Prozent (Auszug) 40 35 33,9 % 35,0 % 34,9 % 33,4 % 33,8 % 29,5 % 30 25 20 15 9,0 % 10 5 10,4 % 10,9 % 12,2 % 7,8 % 1 1 1 2 2 2 3 3 3 4 4 6,9 % 4 2010 2012 2014 2010 2012 2014 2010 2012 2014 2010 2012 2014 1 = Arbeitslosengeld II / Sozialgeld 2 = Kosten der Unterkunft und Heizung = passive Leistungen 3 = Verwaltungskosten = aktive Leistungen 4 = Eingliederungsleistungen (aktive Arbeitsmarktförderung) 1 Jahr und Ausgabenposten Entwicklung der Ausgaben der Jobcenter für die Verwaltung und für Eingliederungsmaßnahmen zwischen 2010 und 2014 Quelle: Bundesagentur für Arbeit „Ausgaben für aktive und passive Leistungen im SGB II 2014“ Ausgaben in Mrd. € 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 4.511.548.999 € 3,5 2.856.423.593 4,0 4.162.503.421 € 4,5 3.105.500.840 € 5,0 4.204.324.911 € 5,5 5.709.177.960 € 6,0 Eingliederungskosten Verwaltungskosten 0,5 Jahr 0,0 2010 2012 2014 2 5,0 5,5 4,5 4,5 4,0 3,5 3,5 3,0 3.105.500.840 3,0 4,0 2,5 2,0 1,5 1,0 2,5 2.856.423.593 5,0 4.443.094 6,0 4.894.265 Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II im Jahresdurchschnitt (in Mio.) 5.709.117.960 Ausgaben für Eingliederungsleistungen (in Mrd. €) 4.387.178 Entwicklung der Ausgaben für (aktive) Eingliederungsleistungen im SGB II 2,0 1,5 1,0 0,5 0,5 0,0 Jahr 2010 2012 0,0 2014 Jahr 2010 2012 2014 Quellen: Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Ausgaben für aktive und passive Leistungen im SGB II; http://de.statista.com 3 Anzahl der Neueintritte von Arbeitslosengeld-I- und -II-Empfänger/innen in ausgewählte Arbeitsmarktinstrumente: Entwicklungen in Sachsen-Anhalt (Stand: 05.01.2016, Quelle: Bundesagentur für Arbeit) Neueintritte in berufliche Weiterbildung (inkl. Reha, ESF-Qualifizierung und Arbeitsentgeltzuschuss) Januar - September 2011 Januar - September 2012 Neueintritte in Aktivierung und berufliche Eingliederung (u.a. Maßnahmen nach §§ 45 bzw. 46 SGB III) Januar - September 2013 4 18.717 18.352 21.709 24.898 36.031 113.620 122.099 135.299 145.316 11.412 12.342 13.261 11.168 13.980 195.000 185.000 175.000 165.000 155.000 145.000 135.000 125.000 115.000 105.000 95.000 85.000 75.000 65.000 55.000 45.000 35.000 25.000 15.000 5.000 189.219 Anzahl der Neueintritte Arbeitsmarktinstrumente Neueintritte in Beschäftigung schaffende Maßnahmen (u.a. Arbeitsgelegenheiten) Januar - September 2014 Januar - September 2015
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