TITELTH E M A „Was für Flüchtlingskinder gut ist, tut allen Kindern gut.“ Heike Schmitz-Ibeling, Gesamtschule Friedenstal Carolin Thielking, MSW Ein Vormittag in einer internationalen Vorberei tungsgruppe an der Gesamtschule Friedenstal Internationale Vorbereitungsgruppe In unseren beiden internationalen Vorbereitungsgruppen (IVG) unterrichten wir 30 Schülerinnen und Schüler. Sie stammen aus 13 Nationen und sind zum großen Teil den Jahrgängen 5 und 6 zugeordnet. Das Team der IVG-Lehrerinnen und -Lehrer tauscht sich wöchentlich über die Lernstände der Schülerinnen und Schüler aus, stellt Materialien zusammen, schreibt Lern- und Entwicklungspläne, stimmt Stundenpläne ab, koordiniert Elterngespräche auch in Zusammenarbeit mit innerschulischen und außerschulischen Partnern und gestaltet entsprechend die Arbeitspläne aus. Auch die Unterstützung der Paten aus der Q II wird im Team koordiniert. Uns sind wichtig: ■■ vertrauensvolle Aufnahmegespräche, Informationen über die weitere Schullaufbahn, ■■ eine individuelle, behutsame Eingewöhnungsphase, ■■ frühzeitige, stundenweise Integration in die Partnerklasse, ■■ schrittweise Teilhabe am gesamten Schulleben, ■■ Transparenz gegenüber Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern über ihren Lernstand, ■■ eine gute Lernatmosphäre, die durch Anspannung und Entspannung geprägt ist und das individuelle Lernverhalten berücksichtigt, ■■ abwechslungsreicher Unterricht mit festem Deutschkurs, Erarbeitung von Lernfeldern in Projekten, selbstständigem Arbeiten mit Hilfe von Lernplänen, spielerischem Lernen und Phasen der Entspannung. Das Kommunale Integrationszentrum (KI) in Herford unterstützt die Schulen und bietet im „Arbeitskreis für Seiten einsteiger“ Fortbildungen an. Über das Bildungsbüro wird die Qualifizierung „Durchgängige Sprachbildung in einer Schule der Vielfalt“ angeboten. Die Herforder Schulen mit 430 Vorbereitungsklassen, KI und Bildungsbüro tauschen sich in einem Netzwerk aus. Gelingensbedingungen Unsere Schulen, ihre Lehrkräfte und ihre Kinder brauchen: ■■ eine sichere personelle, sachliche und finanzielle Ausstattung, ■■ eine Qualifizierung der Lehrkräfte in den Schulen, ■■ eine weite Beteiligung der verschiedenen Schulen in den Städten und Gemeinden, ■■ die Vernetzung und Beteiligung der Unterstützungssysteme und Einrichtungen vor Ort sowie ■■ die Erweiterung und Festigung der Kompetenzen zur individuellen Förderung und des Umgangs mit Heterogenität in den Schulen. Der zwölfjährige Aleks steht an der Tafel und erzählt mit noch etwas schüchterner Stimme von Naturphänomenen. Er präsentiert ein Poster, auf das er Textabschnitte zu Wirbelstürmen geschrieben und mit Fotos ergänzt hat. Wie selbstverständlich nutzt er dabei schwierige Wörter wie „Luftwirbel“ - und sie gehen ihm schon leicht über die Lippen. Aleks ist vor rund einem Jahr aus Mazedonien nach Deutschland gekommen. Seitdem ist er Schüler in der internationalen Vorbereitungsgruppe, kurz IVG, an der Gesamtschule Friedenstal in Herford und hat in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Neben Deutsch lernt er gerade Französisch und Englisch, und das mit Erfolg: Schon viele Stunden pro Woche nimmt er am Unterricht seiner Stammgruppe teil. So bald wie möglich integriert die Gesamtschule Friedenstal die neu zugewanderten Kinder in Klassengemeinschaften. Kinder lernen eine neue Sprache leicht, wenn sie mit anderen Kindern sprechen, spielen und sich auseinandersetzen, wie die Lehrerinnen vor Ort berichten. Schon bei der Aufnahme wird deshalb jedes Kind einer Partnergruppe zugeordnet. Sobald es die Deutschkenntnisse zulassen, nehmen sie schrittweise am Regelunterricht teil. Oft ist das schon nach wenigen Wochen möglich. In Fächern wie Schule NRW 10/15 TITELTH EM A Musik, Kunst und Sport können die Kinder bald mitmachen. Wandertage, Arbeitsgemeinschaften und Klassenstunden stehen ihnen offen. Individuelle Förderung und schnelle Eingliederung Für die Lehrkräfte bedeutet diese schrittweise Eingliederung einen hohen Individualisierungs- und Differenzierungsanspruch. „Jedes der 29 Kinder in der IVG hat einen eigenen Stundenplan. Und der kann sich regelmäßig ändern“, erzählt Heike Nkurunziza, die Leiterin der IVG. Dass ihr die Arbeit mit den neu zugewanderten Kindern trotz des hohen Administrationsaufwands viel Freude bereitet, merkt man der Lehrerin an. Energisch, aber immer mit einem Lächeln bewegt sie sich in der Gruppe. Sie studierte unter anderem Interkulturelle Pädagogik und hat in der Folge seit vielen Jahren Erfahrung in der Arbeit mit internationalen Gruppen. „Neben dem ‚Deutschkurs‘, einem Heft zum Erlernen von Deutsch als Fremdsprache, arbeiten wir viel mit selbst gestalteten oder überarbeiteten Materialien. Wir orientieren uns einfach an dem, was nötig ist“, beschreibt sie ihren Alltag. Heute ist auch Stefanie Bonhaus, Abteilungsleiterin für die Jahrgänge 5 bis 7, im Unterricht dabei. Mit Rama aus Syrien beugt sie sich über kleine grüne Zettel, die mit Wörtern und Bildern bedruckt sind. „Der Unterricht in der IVG ist zugleich fordernd und belohnend“, sagt sie. Die enge Beziehung, die sich in der geschützten Umgebung einstellt, ist eine tragfähige Basis für den vertrauensvollen Umgang mit den Kindern. Die Tatsache, dass ohne festgezurrte Curricula und ohne Notendruck mit viel Zeit für das einzelne Kind gearbeitet werden kann, setzt Kreativität und Energie frei, die nicht selten auch auf die Aktivitäten im Regelunterricht ausstrahlt und dort Routinen durchbricht. Im Vordergrund steht die Hinwendung zu jedem einzelnen Kind. Zwei Schülerinnen aus der Q II der Schule, Christina und Sarah Marie, unterstützen die Kinder heute. „Als wir mitbekommen haben, dass es eine Gruppe für neu zugewanderte Kinder an unserer Schule gibt, wussten wir sofort, dass wir helfen wollen“, erzählt die 18-jährige Sarah Marie. „Ich bin selbst als Flüchtlingskind aus Syrien vor 15 Jahren nach Deutschland gekommen und kenne die Situation. Jetzt möchte ich andere bei ihrem ‚Ankommen‘ unterstützen“, schildert Christina ihre persönliche Motivation. Neben den beiden Oberstufenschülerinnen haben sich weitere Mitschülerinnen und Mitschüler der Q II gemeldet und engagieren sich nun in ihren Freistunden in der IVG. Auch wenn es für beide auf das Abitur zugeht: Sie sind sich sicher, dass sie bis zum Ende der Schulzeit der Arbeit in der IVG treu bleiben wollen. Eltern einbeziehen Etwas anders als in den Regelklassen läuft auch die Elternarbeit. Selbstverständlichkeiten können nicht immer vorausgesetzt werden: Nicht alle Eltern wissen zum Beispiel, welche Regeln in einer deutschen Schule herrschen und welche Materialien ihre Kinder brauchen. Die Leiterin der IVG führt zu Beginn ein ausführliches Willkommensgespräch mit den Eltern. Manchmal helfen Lehrkräfte aus dem Kollegium, die selbst eine andere Muttersprache als Deutsch haben, mit Übersetzungen aus. Im Vordergrund stehen im Gespräch organisatorische Fragen wie zum Hin- und Rückweg zur Schule, der Verpflegung und dem Schulsystem allgemein in Nordrhein-Westfalen. Häufig werden auch Ängste der Eltern deutlich, wenn sie auch nicht immer offen thematisiert werden: Sie fragen sich, ob ihre Töchter und Söhne gleichzeitig mit der neuen Sprache auch neue Werte annehmen und ihre Herkunftskultur „vergessen“, ob die schnell lernenden Kinder ihre Eltern nicht in gewisser Weise überholen... Die Lehrkräfte sind für diese Fragen sensibilisiert und versuchen, Integration durch Sprache Die Gruppe bietet ein buntes Bild. Man hört verschiedene Sprachen, vor allem aber fliegen deutsche Sätze durch den Raum. Die Schülerinnen und Schüler helfen sich gegenseitig bei der Kommunikation. Wörterbücher verschiedener Sprachen liegen auf den Tischen. Unter den vielen fröhlichen Gesichtern sind auch ein paar nachdenkliche Mienen. Andrej-Eusebiu ist erst vor zwei Tagen zu der Gruppe gestoßen. Welche Gedanken gehen ihm durch den Kopf? Noch ist die Verständigung schwierig. An einem Tisch mit ihm sitzen weitere Mädchen und Jungen, die sich über ein buntes Lernspiel beugen. Der zwölfjährige Aleks präsentiert ein Poster zu Naturphänomenen. Fotos: Jürgen Escher Schule NRW 10/15 431 TITELTH E M A sich schon im ersten Elterngespräch ein Bild über religiöse und kulturelle Hintergründe zu machen. „Das ist auch wichtig für das soziale Klima in der Gruppe“, erklärt Nkurunziza. Alle Kinder wollen lernen Die neu zugewanderten Kinder bringen unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit, die in ihren persönlichen Biografien und den kulturellen Traditionen begründet liegen. Welche Rechenwege werden in Syrien unterrichtet? Wie führt man in Albanien ein Schulheft? Welche Verhaltensregeln gibt es in irakischen Schulen? Diese Vielfalt stellt die Lehrerinnen und Lehrer in der IVG und in den Partnerklassen vor Herausforderungen. Sie zwingt dazu, auf das einzelne Kind zu schauen und dessen Lernfortschritte zu erkennen und zu unterstützen. Ein Mittel dazu ist das orangefarbene Logbuch, das jede Schülerin und jeder Schüler besitzt und in das wöchentliche Arbeitspläne, Hinweise an die Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer und Feedback für die Kinder eingetragen wird. Ein solches Logbuch besitzen alle Kinder der Gesamtschule Friedenstal von der 5. bis zur 7. Klasse – das Instrument zur Lernbegleitung und Lerndokumentation wurde von der Stadt Herford als Schulträger entwickelt, unter anderem gehören Kolleginnen und Kollegen der Gesamtschule Friedenstal zum Autorenteam. Überhaupt verbindet die Kinder aus der IVG mehr mit den Schülerinnen und Schülern der anderen Stammgruppen, als sie trennt. Was für Flüchtlingskinder gut ist, ist für alle Kinder gut – und umgekehrt. Es zahlt sich nun aus, dass die Kolleginnen und Kollegen der Schule seit mehreren Jahren Konzepte und Instrumente zur individuellen Förderung und zur Sprachbildung für alle Kinder entwickeln und damit die Grundlage für die Bewältigung auch der neuen Herausforderung IVG legten. Die Gesamtschule Friedenstal beschäftigt sich seit Langem mit individueller Förderung, hat Erfahrung mit einer heterogenen Schülerschaft. „Flüchtlingskinder sind auch nicht anders als andere Kinder. Was im allgemeinen Unterricht funktioniert, übertrage ich auf die IVG“, erzählt Stefanie Bonhaus. Die Lehrerinnen und Lehrer der Gesamtschule verstehen die IVG in dieser Hinsicht als Labor für Sprachförderung und gewinnen wichtige Erkenntnisse, die sie auf den Fachunterricht übertragen können. Das landesweite Projekt „Sprachsensible Unterrichtsentwicklung“ (gefördert vom Schulministerium und der Stiftung Mercator, koordiniert von LAKI in Dortmund) greift diesen Prozess auf: Alle Texte, die im Fachunterricht eingesetzt werden, werden auf sprachliche Barrieren überprüft. Im Mathematikunterricht geht es um Dachkonstruktionen? Schnell merken die Lehrkräfte, dass das Wort „Dachsparren“ nicht nur für Flüchtlingskinder unverständlich ist, sondern auch anderen Schülerinnen und Schülern, gleichviel mit welchem sprachlichen Hintergrund, Probleme bereiten kann. Die Arbeit in der IVG öffnet also den Blick dafür, wie Lernprozesse allgemein und Spracherwerbsprozesse im Besonderen verlaufen. Von dieser Arbeit geht ein deutlicher Impuls für den fachlichen Diskurs im Kollegium aus. „Umgang mit Heterogenität – das ist ein Entwicklungsprozess, der wohl nie endet“, darüber sind sich die Lehrerinnen einig. Die Lehrkräfte vor Ort erwecken den Eindruck, sich dieser Herausforderung gerne und mit Erfolg zu stellen. Und die Schülerinnen und Schüler der IVG? Sie freuen sich über ihre wohlverdiente Pause und stürmen auf den Spielplatz; nach Naturphänomenen und Wortspielen ist es nun an der Zeit für Schaukeln und Balancieren. Spaß in der Pause 432 Weitere Informationen zur Gesamtschule Friedenstal sowie zum Projekt „Sprachsensible Schulentwicklung“ unter: www.gesamtschule-friedenstal.de www.sprachsensible-schulentwicklung.de Schule NRW 10/15
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