Grenze zwischen zwei Welten - WBG

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Titelthema | Germanen im Limesvorland
Grenze zwischen zwei Welten
Auf kaum einem Feld der Archäologie prallen so unterschiedliche Welten aufeinander wie
entlang der Grenze zwischen dem Römischem Reich und den Bewohnern der benachbarten
Germania magna. Auf der einen Grenzseite können wir auf eine lange Forschungstradition
und reichhaltige Hinterlassenschaften eines antiken Weltreichs zurückgreifen, auf der anderen Seite beginnen wir erst allmählich, die meist nur spärlichen Spuren der germanischen
Gruppen innerhalb einer breiten Kontaktzone zwischen beiden Welten zu deuten.
Von Klaus Frank
D
ie archäologische Suche nach
konkreten Hinterlassenschaften
der in antiken Schriftquellen anschaulich beschriebenen Germanen außerhalb der Grenzen des Römischen
Reiches begann hierzulande nur sehr zögerlich. Von den Menschen, von deren
Sachkultur meist nur unscheinbare Spuren angetroffen wurden, hatte man bis
zu Beginn des 20. Jh. nur sehr vage Vorstellungen. Man denke nur an die fantasievollen Germanendarstellungen, die
vor allem im 19. Jh. allenthalben auf der
Bühne, auf patriotischen Gemälden,
Denkmälern etc. präsentiert wurden.
Diese wilden Gesellen, sehr oft in Felle
gekleidet und mit gewaltigen Hörneroder Flügelhelmen ausgestattet, tragen
nicht selten bronzezeitlichen Schmuck.
Regelmäßig wurden auch andere, deutlich ältere archäologische Befunde – zumeist Grabhügel – den in Schriftquellen
überlieferten Germanen zugeschrieben.
Selbst in neueren Kartierungen und
Fundstellenlisten sind des Öfteren Plätze zu finden, die auf alte Einträge von
vermeintlich »germanischen« Funden in
den Archiven zurückgehen. Ansätze der
archäologischen Forschung, etwas Licht
ins Dunkel zu bringen, sind bis Ende
des 19. Jh. kaum zu erkennen.
Ganz im Gegensatz dazu hatten seit
dem 16. Jh. humanistisch gebildete Gelehrte damit begonnen, antike Überreste auf ehemals römischem Reichsboden
zu dokumentieren und die »klassischen«
Fundstücke in Sammlungen zu bewahren. Die frühen, meist unsystematischen
Versuche mündeten schließlich während
des späten 19. und frühen 20. Jh. in große Forschungsprogramme mit dem Ziel,
die römische Reichsgrenze mit ihren be-
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Archäologie in Deutschland 1 | 2016
festigten Lagern und Siedlungen zu dokumentieren, aber auch römische Stadtanlagen zu untersuchen.
Anfänge im späten 19. Jh.
Erste systematische Ausgrabungen
mit dem erklärten Ziel, die germanische
Kultur und ihr Verhältnis zum Römischen Reich zu erforschen, erfolgten erst
sehr spät. Den Beginn markiert das große Brandgräberfeld von LeverkusenRheindorf, über das 1876 in Heft LIX der
»Jahrbücher des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande« erstmals berichtet wurde. Nach der Bergung einiger Grabinventare geriet der Fundplatz
jedoch wieder in Vergessenheit, bevor er
in den Jahren 1911 bis 1913 systematisch
untersucht wurde. Leonard Ennen, Archivar aus Köln, glückte damals die Entdeckung eines Platzes, der den Schlüssel
lieferte zum Verständnis der Verhältnisse, in denen die Menschen hier über
400 Jahre innerhalb der Grenzzone am
südlichen Niederrhein lebten. Die Analyse des römischen Imports belegt die
Jahrhunderte andauernde friedliche Kooperation über die Grenze hinweg. Über
die hier Bestatteten bemerkte der Ausgräber Leonard Ennen lapidar: »Wahrscheinlich waren es Germanen des dritten oder vierten Jahrhunderts, welche
mit den benachbarten Römern in freundschaftlichem Verkehr standen und von
denselben Urnen, Hausgeräthe und
Schmucksachen bezogen hatten.« – eine sehr modern anmutende Deutung des
Befunds!
Das zweite Gräberfeld mit grundlegender Bedeutung für die Forschung wurde
1899 bis 1901 im Stadtwald von Gießen
geborgen; ein vom Ausgräber, dem Altphilologen Gotthold Gundermann, verfasster Grabungsbericht mit vollständigem Katalog lag bereits im Jahr 1902 vor.
Mit der Vorlage und Besprechung einer
ganzen Anzahl von typischen Funden
aus Gießen in Band 5 der »Altertümer
Eigenwillige Verwendung: Sigillata-Gefäß
als Deckel einer Urne (oben) und ein zweites
als Urne genutztes Sigillata-Gefäß, entdeckt
1875. Leverkusen-Rheindorf.
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unserer heidnischen Vorzeit« durch Karl
Schumacher 1911 besaß man endlich
eine verlässliche Grundlage zur Einordnung vergleichbarer Funde im Limesvorland.
Und heute ...
100 Jahre nach diesen Anfängen hat
sich unser Wissensstand zur germanischen Welt im Vorfeld des Limes grundlegend verbessert. Die Kontakte zwischen einzelnen germanischen Gruppen
in verschiedenen Regionen und dem
Römischen Reich waren höchst unterschiedlich ausgeprägt. Vor allem an den
Grenzabschnitten, die über lange Zeit
stabil blieben, konnte sich eine breite
Wirtschaftszone herausbilden, von der
beide Seiten gleichermaßen profitierten.
Vieles deutet zudem darauf hin, dass der
Dienst in der römischen Armee für die
germanischen Männer einen »Türöff-
ner« in die römische Welt auf der anderen Seite der Reichsgrenze darstellte; Generationen von Soldaten lebten gleichsam in zwei Welten. Die Grenze wurde
hier im Alltag sicherlich nicht als Sperrriegel wahrgenommen, sondern eher als
Übergang zwischen verschiedenen Traditionsräumen. Auffallend ist in diesem
Zusammenhang, dass die germanischen
Nachbarn trotz aller Kontakte und auch
der Akzeptanz römischer Importe überall an ihrer traditionellen Lebensweise
festhielten. Eine Übernahme der römischen Lebensweise ist nirgends festzustellen.
Reger Austausch über
den Limes hinweg
Selbst Regionen, die in einem gewissen Abstand von der römischen Grenze
entfernt lagen – etwa Mainfranken –, waren über Handelswege mit dem Reichs-
Auftritt von Germanen
in Fantasiekostümen,
Detmold 1909.
gebiet verbunden. Das breite Spektrum
an Importstücken belegt, dass es einen
regen Austausch über den Limes hinweg
gegeben hat.
Dramatisch wurde die Situation immer dann, wenn germanische Gruppen
aus weiter entfernten Regionen, gleichsam aus der zweiten Reihe, das Gleichgewicht innerhalb dieser Grenzzone
störten. Raubzüge in die germanischen
Provinzen oder nach Rätien trafen sicherlich nicht nur die Bewohner der römischen Provinz, sondern auch die germanischen Siedler des Grenzvorlandes.
Störungen im Wirtschaftsgefüge wirkten
sich hier ebenso negativ aus wie die Unsicherheit in der Folge politischer Krisen.
Unser Titelthema gibt Einblick in neue
Forschungsergebnisse zur germanischen
Besiedlung innerhalb des Kontaktgebiets
entlang der römischen Grenze zwischen
Nordsee und mittlerer Donau.
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