Advent, Advent, die Tanne brennt

Reinhard Junge
Advent, Advent,
die Tanne brennt
Eine kriminelle Weihnachtsgeschichte
©
Reinhard Junge 1998/2012
Reinhard Junge: Advent … , S. 1
1
Er schoss vom Kopfkissen hoch und hatte den Geruch identifiziert,
bevor er klar denken konnte: Es brannte!
Wie gelähmt glotzte er auf das Gleißen, das durch die dichten Vorhänge drang. Er wusste, dass es unmöglich war, und hatte dennoch
keinen Zweifel mehr: Es brannte der Baum!
Diese Vorstellung war so ungeheuerlich, dass er aufsprang und in
einem Tempo zum Fenster eilte, als wäre er auf dem Weg zu seinem
ersten Rendezvous. Er zerrte den Vorhang beiseite, um auf den
Markt zu blicken, doch das Feuer war viel zu hell, um mitten hineinzusehen. Draußen brannte der größte Weihnachtsbaum der Welt!
Gebannt starrte Sobczak in das Inferno. Sah, wie die brennenden
Stämme barsten. Beobachtete die lodernden Äste, die durch die
Luft segelten. Verfolgte den Sauerstoffstrom, der auf seinem Weg
ins Feuer einen Kometenschweif an Müll und Altpapier mit in die
Glut riss. Fürchtete, dass der Wind die Flammen in das benachbarte
Hotel treiben würde. Und war von dem Anblick zugleich so fasziniert, als sähe er im Schauspielhaus die Premiere eines genialen
Katastrophenstücks.
Eigentlich hätten Licht und Lärm die halbe City alarmieren müssen.
Aber Markt und Hansaplatz waren vollkommen unbelebt: keine Passanten, keine Polizei, keine Feuerwehr. Allein an ihm lag es nun, von
irgendwo irgendwen zu Hilfe zu holen. Aber er stand da und hatte
plötzlich keine Muskeln mehr, mit deren Hilfe er telefonieren,
schreien oder wenigstens die Hände falten konnte.
Wie üblich, wurde Sobczak genau an dieser Stelle wach. Sein Puls
trommelte, sein Atem flog, und er lag in einer Pfütze aus Schweiß.
Hatte er wieder nur geträumt, oder war es diesmal tatsächlich passiert? Das Halbdunkel im Zimmer ließ ihn hoffen. Er stand auf und
tastete sich zum Fenster vor. Blickte hinaus und stöhnte erlöst auf:
Er stand noch da, majestätisch wie eine zum Start bereite Dreistufen-Rakete, leicht buckelig, als hätte er ein paar Space-Shuttles
geladen, vom Wind geschüttelt, aber unversehrt - der Baum der
Bäume.
Sobczak machte Licht. Er zog einen trockenen Pyjama über, goss
einen doppelten Cognac ein und ließ sich in den Ohrensessel sinken.
Der Traum war wieder so nahe, so gegenständlich gewesen, dass
seine Hände noch immer zitterten. In vier Tagen, wenn die anderen
Weihnachten feierten, war er selbst reif für eine Therapie. Aber im
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Irrenhaus befand er sich, wenn man es genau betrachtete, schon
jetzt. Seit jenem Freitag vor dem 1. Advent.
2
"Chef!", flüsterte Frau Herzig. "Kommen Sie! Dringend!"
Sobczak sah erstaunt auf. So lästig die Pressefritzen auch waren ohne sie konnte die Werbegemeinschaft Innenstadt einpacken und
er sich einen neuen Job suchen. Wie kam die Herzig nur dazu, hier
hereinzuplatzen? Äußerlich wirkte sie korrekt wie immer, aber unter der Schminke war sie kreidebleich. Teufel auch! Mit einer entschuldigenden Geste ließ er seine Gäste zurück.
"Was gibt es denn?"
Wortlos fischte sie einen Blatt von seinem Poststapel und hielt es
ihm hin. Ein Blick genügte, und er stand kurz vor einem Tobsuchtsanfall: "Sind Sie plemplem? Ein Gedicht? Und damit kommen Sie mir
jetzt?"
"Lesen Sie doch!", flehte sie. "Bitte!"
Er seufzte - und tat ihr den Gefallen:
Advent, Advent,
Ein Lichtlein brennt
Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier
Dann auch der Baum vor deiner Tür.
Denn wenn der Werbe-Sobczak spinnt,
Der grüne Wald auf Rache sinnt,
Und schafft er das auch nicht allein,
So werden wir die Rächer sein:
Ein lauter Knall, ein Feuerball,
Die City brennt dann überall,
Advent, Advent, der Bulle rennt,
Und diese Super-Tanne brennt.
Halb verärgert, halb belustigt starrte Sobczak auf den Text: "Und?
Das ist doch Quatsch. Da will uns einer ver..."
"Aber verstehen Sie doch, Chef: Die wollen unsern Baum anstecken!"
Zweifelnd blickte er aus seinem Büro auf den weiten Platz: Dort
stand das neue Wahrzeichen der Stadt, ein Publikumsmagnet, um
den das ganze Ruhrgebiet die Bierstädter beneidete: Keine andere
Maßnahme hatte das Weihnachtsgeschäft so in Schwung gebracht
wie dieser Baum.
"Unmöglich!", stammelte er. "Wer soll denn so etwas wollen?"
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Sie wusste es auch nicht. Bis auf ein paar grüne Spinner hatten alle
ihren Chef für diese Erfindung gelobt: OB, Politiker und Verwaltung,
die Inhaber der Kaufhäuser und die Schausteller, die Kneipiers und
Busunternehmer. Sie alle fanden den Baum so gigantisch, dass sie
sich wunderten, warum sie selbst nicht schon vor Jahren auf diese
Idee gekommen waren.
"Und was sollte ich Ihrer Meinung nach jetzt tun?"
"Was schon, Chef? Die Polizei einschalten!"
Sobczak stöhnte. Die Polizei hatte schon jetzt genug Ärger mit dem
Weihnachtsmarkt: Taschendiebstahl und Alkoholmissbrauch, falsches Parken und aggressives Betteln. Wie sollte sie auch noch den
Baum schützen?
"Die werden bekloppt", flüsterte Sobczak und stellte sich einen Augenblick lang vor, dieses komische Gedicht könnte doch keine Drohung sein. Vielleicht war es ja nur einer der makabren Scherze, die
sich dieser Kabarettist erlaubte, der einst die Grünen im Rat kommandiert hatte?
"Chef!", flüsterte sie. "Das war doch Ihre Lieblingsidee. Wissen Sie
noch, als Sie hier angefangen haben und alle dagegen waren?"
Er wusste. Aber jetzt stand der Baum zum zweiten Male, und sein
Name war mit diesem Kunstwerk untrennbar verbunden. Wenn er es
zuließ, dass ein paar Idioten die Tanne abfackelten, konnte er
diesen Job vergessen.
"In Ordnung", sagte er. "Rufen Sie im Präsidium an."
Sie nickte.
"Und noch eins: Kein Wort zu irgendwem!"
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Zwei Stunden später hatte der Polizeipräsident einen Krisenstab um
sich versammelt. Ernst blickte er seine Getreuen an und fragte:
"Also: Wie ernst muss man diese Drohung nehmen?"
Der Chef des Polizeibüros II meldete sich: "Wir halten das
Schreiben für echt. Es gibt seit Wochen Hinweise darauf, dass die
militante Linke den Weihnachtsbaum für ihre Zwecke nutzen wird
und sogar terroristische Anschläge in Erwägung zieht."
Die Männer vom Kriminalkommissariat 13/14 (Brand, Sprengstoff,
Waffen) blickten ihn aufmerksam an.
"Im Kreuzviertel hat sich zur Vorbereitung auf den
Weihnachtsmarkt eine Bürgerinitiative gegen den Waldfrevel
gegründet, eine Basisgruppe Grüner Norden fordert die
Umwandlung der Bornstraße in eine Blumenwiese, und rund um das
Freizeitzentrum West wurden aggressive Parolen gemalt ..."
Reinhard Junge: Advent … , S. 4
Zum Beweis verteilte er schmale Hefter mit Fotos, die seine Leute
in den letzten Tagen geschossen hatten. Hauptkommissar
Steigerwald vom KK 13/14 bekam sein Album als letzter und schlug
es ungeduldig auf. Eine Hauswand in der Tremoniastraße verriet:
"Schade, dass der Baum nicht brennt", eine Losung an der unteren
Sonnenstraße versprach: "Feuer und Flamme für diesen Baum", und
auf mehreren Stromkästen warben Plakate für einen Film, der schon
seit Jahren nur noch im Fernsehen lief: "Flammendes Inferno."
Mühsam unterdrückte der Hauptkommissar ein Grinsen: Die Brandstifter, mit denen er es zu tun hatte, kündigten ihre Taten, wenn
überhaupt, völlig anders an.
"Maßnahmen?", fragte der Boss.
"Für sieben Leute haben wir bereits eine lückenlose Observierung
organisiert", sagte der Mann von der Politpolizei. Die Porträts von
zwei Frauen und fünf Männern traten ihre Reise um den Konferenztisch an. Als sie bei Steigerwald ankamen, war der älteste Typ noch
immer keine zweiundzwanzig.
"Außerdem haben wir eine Telefonüberwachung für die sieben und
weitere fünf Leute beantragt."
"Wo wollen Sie denn am Freitag Nachmittag noch einen Richter
herbekommen?", fragte Steigerwald.
Der Mann vom Staatsschutz sah ihn mitleidig an: "Der Richter ist
mir schnuppe. Alles, was ich brauche, ist ein guter Techniker."
Ein ungutes Schweigen kam auf, aber der Präses sorgte dafür, dass
es nicht zu lange dauerte. Und eine halbe Stunde später war man
sich einig: An jedem Zugang zum Platz würde ein VW-Bus mit drei
erfahrenen Beamten postiert, zwei Dutzend Leute würden den Baum
und alle, die in seine Nähe kamen, nicht aus den Augen lassen, und
eine Einsatzgruppe des SEK würde in einer umfunktionierten
Verkaufsbude auf ihre Chance lauern.
"Aber - wie sollen wir denn den Baum bewachen?", fragte der Chef
der Inspektion Mitte. "Einige der Kioske stehen doch so dicht daneben, dass man den Baum mit einer Wunderkerze ..."
Der Polizeichef lächelte: "Gute Frage. Aber die löst gerade das
Ordnungsamt.“
4
"Wie bitte?", fragte Sobczak entgeistert. "Eine Bannmeile? Wie soll
das denn gehen?"
"Sehen Sie hinaus!"
Sobczak sprang auf und trat ans Fenster. Ein Dutzend Männer in
den bekannten orangefarbenen Regenanzügen hatte begonnen, rund
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zwanzig Meter vom Baum entfernt einen hohe Stahlzaun zu errichten. Die gefährdeten Kioske waren schon mit rot-weißen Gittern
vom Gewimmel auf dem Markplatz abgeschirmt, während die Besitzer bereits die Kabel aufrollten.
"Hören Sie", protestierte Sobczak. "Die Leute haben feste
Verträge. Sie können denen doch nicht einfach das Geschäft
verhageln. Das gibt eine endlose Kette von Prozessen ..."
"Keine Bange!", beschwichtigte ihn der Mann. "Alle Buden, die weniger als dreißig Meter vom Baum entfernt stehen, werden verlegt.
Morgen früh stehen die hier."
Er rollte einen Stadtplan aus und tippte mit seinem Kugelschreiber
auf den freien Platz vor dem Rathaus.
"Aber – damit wird doch der Weihnachtsmarkt völlig auseinandergerissen."
"Ach was. Die Leute verteilen sich eben besser. Sie werden sehen der Umsatz wird noch steigen."
Sobczak hielt es nicht länger in seinem Büro. Er zog seinen Mantel
an und lief hinaus. Dicht am Baum erhob sich ein hallenähnliches
Bauwerk mit den blinkenden Reklameleuchten. Was aus der Ferne
wie ein Auto-Scooter wirkte, entpuppte sich von Nahem als eine
transportable Kunsteisbahn. Doch die weiße Fläche lag verwaist vor
ihm.
"Herr Sobczak!" Der Betreiber der Eisbahn packte ihn am Kragen.
"Können Sie mir erklären ..."
Sobczak nickte: "Ich kann, aber ich darf nicht. Aber es ist zu
Ihrem Besten!"
"Zu meinem Besten?" Der Mann spuckte aus. "Bis das Eis hier abgetaut ist und die Bahn woanders wieder steht, vergehen mindestens
vier Tage. Damit kann ich das erste Adventswochenende komplett
abhaken."
"Sie werden den Ausfall wieder hereinholen!", tröstete Sobczak,
und der Mann nickte heftig: "Ja. Aber vor Gericht!"
5
Am Morgen des ersten Adventssonntag war der Weihnachtsmarkt
umgebaut: Der Baum hatte seine Bannmeile und den Stahlgitterzaun,
rund dreißig Geschäfte standen nun vor dem Rathaus, und sogar der
Wiederaufbau der Eishalle war fast abgeschlossen. Jetzt musste
nur noch das Eis frieren.
Sobczak war bis um drei Uhr morgens unterwegs gewesen und hatte
sich persönlich darum gekümmert, dass alles klappte. Als er um vier
ins Bett kletterte, wälzte er sich zunächst eine Stunde lang von
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einer Seite auf die andere. Und als er endlich weggesackt war,
hatte ihn zum ersten Mal der Alptraum vom brennenden Baum gequält.
"Du siehst gar nicht gut aus", konstatierte seine Frau, als sie ihm um
elf das Frühstück servierte.
"Diese Gangster wollen meine beste Werbe-Idee abfackeln", verteidigte er sich. "Und das lasse ich nicht zu."
Sie goss ein und schob ihm den Teller mit dem Rührei zu: "Ich weiß
nicht. Ist dieses Monster wirklich so wichtig? Hätte es nicht auch
eine normale Tanne getan?"
Er sah sie an, als wäre sie plötzlich von Wahnsinn befallen: "Bist du
jetzt bei den Waldhütern von Eving gelandet? Oder beim Sauerländischen Gebirgsverein?"
"Ach, Gotthold!"
Sobczak fuhr es eiskalt durch die Glieder. Wenn Ulrike ihn bei seinem zweiten Vornamen nannte, war mit ihr nicht mehr zu spaßen.
"Hast du mal den Leuten zugehört, die sich den Baum ansehen?",
fragte sie. "Macht doch mal eine Umfrage, was man mit dem vielen
Geld statt dessen hätte machen sollen."
Er stach mit der Gabel in ihre Richtung, als wäre sie ein Bajonett:
"Die haben alle keine Ahnung. Wir stehen in harter Konkurrenz zu
Essen und den anderen Städten. Und wir wollen die Nummer eins
werden. Nicht nur im Ruhrgebiet, sondern in ganz Westfalen. Die
Leute sollen diesen beschissenen Weihnachtsmarkt von Münster
vergessen und lieber zu uns kommen."
"Gotthold, es geht um Weihnachten. Das hat doch mit diesem Rekorddenken eigentlich nichts zu tun."
"Frau!" Er riss sich die Serviette vom Hals. "Mit dem zweiten Platz
kann man sich auf diesem Posten nicht zufrieden geben. Die Werbegemeinschaft und die Stadt erwarten mehr von mir. Aber wenn du
willst, können wir das ja alles aufgeben: Die schöne Wohnung mit
Blick auf den Markplatz. Die absolut geile Lage: Mitten in der Stadt,
in einem historischen Haus, statt Zug- und Verkehrslärm die
Glocken der Reinoldikirche im Ohr ..."
"Und das Grölen der Betrunkenen, die nachts durch die Straßen irren. Mann, Gotthold, mach die Augen auf: In dieser Stadt hungern
Menschen. Und ihr ..."
"Erzähl das dem Gysi!", brüllte er. "Oder zieh wieder zu deiner Mutter!"
Als die Tür hinter ihm ins Schloss krachte, bereute er diese
Aufforderungen schon. Ulrike war es zuzutrauen, alle beide zu
befolgen.
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Auf der Straße saugte ihn sofort eine ungeheure Menschenmenge
auf. Sobczak konnte sich an keinen Adventssonntag erinnern, an dem
es schon mittags solch ein Gedränge gegeben hatte. Aber er hörte
kein Murren und kein Schimpfen. In den Gesichtern schimmerte
eher so etwas wie Freude und Erwartung.
Sobczak kämpfte sich auf die andere Straßenseite vor und wollte
auf dem Markplatz nach dem Rechten zu sehen. Doch hier bewegte
sich gar nichts mehr.
Gigantisch, dachte Sobczak und wollte schon abdrehen, um sich zum
Westenhellweg schieben zu lassen. Doch dann fiel ihm auf, warum
der Markt so voll war: Kaum einer kümmerte sich noch um
Waffelbuden und Märchenbahn, alle standen da mit hochgerecktem
Kinn und starrten auf den Baum. Sie warteten darauf, dass die
grüne Rakete brannte.
6
Der 1. Advent ging ohne Zwischenfälle vorüber, brachte dafür aber
einen Umsatzrekord der Extra-Klasse. Selbst die auf den Rathausplatz ausgelagerten Geschäfte verdienten, als hätte die Stadt gerade eine zweite Belagerung durch den Bischof von Köln und Graf
Engelbert überstanden: Tausende, die gar nicht mehr bis zum Markt
vordringen konnten, schlugen sich gleich dort die Bäuche und die
Blasen voll.
"Vielleicht stammt der Brief ja doch nur von ein paar Spinnern!",
vermutete Sobczak, als er am Montag Morgen im Präsidium anrief.
Doch der Pressesprecher wehrte ab: "Werden Sie bloß nicht unvorsichtig. Die lassen uns vermutlich noch ein bißchen zappeln ..."
Dieselbe Meinung vertrat auch das Polizeibüro II, als der
Krisenstab gegen Mittag zusammentraf. Bei den Baumschützern, so
hätten
Vertrauensleute
berichtet,
herrschten
hektische
Aktivitäten: Telefonate, Versammlungen, parallel dazu Großeinkäufe,
als wolle man bald untertauchen. Und für die Mitte der Woche seien
Sondierungsgespräche
mit
militanten
Gegnern
der
Massenviehhaltung
geplant:
"Wenn
beide
Gruppen
zusammenarbeiten, wird es Ernst!"
"Sie meinen: Wer Hühner befreit, der fackelt auch Tannenbäume
ab?", fragte Steigerwald.
"Spotten Sie nicht: Immerhin haben wir gestern zwei von den sieben
Hauptverdächtigen festgenommen, als sie mit Kanistern Benzin von
der Tankstelle holen, obwohl sie gar kein Auto besitzen."
"Wie alt waren die denn?"
"Siebzehn und achtzehn."
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Steigerwald grinste: "Habt ihr mal nachgeprüft, ob die ein Moped
haben?"
Der Präsident warf ihm einen Blick zu, der mindestens drei Jahre
Beförderungssperre verhieß. Anschließend ordnete der Boss eine
Fortsetzung der Rundumbewachung des Baumes an.
"Die ganze Woche über?", fragte der Chef der Schutzpolizei entsetzt.
"Gerade unter der Woche!", bestätigte der Staatschutz. "Vielleicht
soll das Gedicht uns nur vom eigentlichen Tattag ablenken!"
Von diesen Theorien wusste Sobczak nichts. Aber als er am Nachmittag an den Verkaufsbuden entlang lief, klopften ihm die Inhaber
auf die Schulter: "Hören Sie, wir waren gestern abend platt wie die
Flundern. Aber solch einen Umsatz haben wir noch nie gemacht.
Prima Idee das."
"Was ist eine prima Idee?"
Der Fischverkäufer zwinkerte ihm zu: "Ich kenne Sie doch. Den
Drohbrief haben Sie doch selber geschrieben. Bin gespannt, was Sie
sich im nächsten Jahr einfallen lassen."
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An den nächsten Tagen war Sobczak bis zu vierzehn Stunden auf
den Beinen. Doch die Hoffnung, abends zu erschöpft für den Alptraum mit dem brennenden Baum zu sein, erfüllte sich nicht. Nach
zwei Nächten war seine Cognacflasche leer, aber Ulrike hatte die
Nase voll: "Wie wär's, wenn du in den nächsten Wochen im Wohnzimmer schläfst?"
"Wie bitte?"
"Ja. Ich halte das nicht mehr aus: Jede Nacht brüllst du
mindestens einmal Feuer!, und wenn ich morgens aufwache, bin ich
genauso nass geschwitzt wie du."
Er zog ins Wohnzimmer um, schlief schlecht und war morgens doch
zuerst wach. Dadurch bot sich ihm die Chance, die Zeitung lesen zu
können, ohne dass die Gattin ihn mit lästigen Zwischenfragen
störte. Aber die Lektüre brachte dennoch keine Erholung: Leitartikler und Kommentatoren, Lokalreporter und Leser interessierte
nichts mehr als die Frage, wann der Baum brannte. Als die Rundschau am Mittwoch eine tägliche Sonderseite mit Leserpost einführte, schlug Sobczak das Blatt gar nicht mehr auf.
Gleichzeitig lief der Ausbau der Sicherungsmaßnahmen. Die Bannmeile um den Baum wurde nach und nach auf vierzig Meter erhöht,
so dass weitere Buden vom Markt auf den Rathausplatz umziehen
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mussten. .Da aber selbst die Eisbahn inzwischen Rekordgewinne
abwarf, hielt sich das Murren bei den Schaustellern in Grenzen.
Am Freitag endlich flatterte der nächste Brief in die Büroräume
der Werbegemeinschaft:
Advent, Advent, das zweite Licht brennt,
Bald fliegt ein drittes Licht herbei
Machtlos staunt die Polizei,
Und wenn erst das große Feuer brennt
Tritt ab das Rathausparlament.
Sobczak las den Brief dreimal, bevor er ihn ins Präsidium faxen ließ,
und schüttelte den Kopf: Der unbekannte Dichter ließ merklich
nachDie Polizei hingegen achtete weniger auf das Poetische und verfiel
in geradezu hektische Reaktionen: Auf den Dächern der umliegenden Häuser wurden Scharfschützen platziert, die Bannmeile noch
vor dem Wochenende auf fünfzig Meter erweitert und die Zahl der
in Uniform und Zivil in die Stadt geschickten Polizisten auf achthundert erhöht.
Doch alles kam, wie Sobczak es erwartete: Mehrere hunderttausend
Besucher stürmten die Stadt und sorgten für Umsatzrekorde, von
denen keiner der Schausteller je geträumt hatte. Zugleich stieg die
Zahl der Platzverbote gegen Wohnungslose und störende Jugendliche in den vierstelligen Bereich, und am Samstag Abend wurden
zur Sicherheit zwei komplette Jugendgangs festgenommen und
einem Schnellrichter zugeführt. Am Sonntag bot eine englische
Agentur erstmalig Wetten darüber an, wann der Baum endlich
brannte.
Doch als es Montag ward, stand die Tanne immer noch.
8
In der Woche vor dem dritten Advent trat das Thema Weihnachtsmarkt ganz unvorhergesehen in den Hintergrund: Die seit Langem
geplante Neuwahl eines Oberbürgermeisters ging so gründlich daneben, dass die Dortmunder es in diesen Tagen nicht einmal bemerkt hätten, wenn jemand den Fernsehturm abgebaut und das
Westfalenstadion blau-weiß angestrichen hätte.
Sobczak jedoch stand weiterhin unter Stress und wurde zudem
Nacht für Nacht von seinem Alptraum heimgesucht. Er war mit seinen Nerven am Ende, und mit seiner Ehe sah es, argwöhnte er, kaum
besser aus: Zwar verrieten Schminkrelikte im Bad und der täglich
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wachsende Haufen weiblicher Schmutzwäsche, dass auch Ulrike hin
und wieder noch die Wohnung betrat - aber sie selbst bekam er
eigentlich nicht mehr zu Gesicht.
Dafür stieg die Spannung vor dem 4. Advent ins Unerträgliche.
Hansaplatz und Markt waren inzwischen komplett geräumt und abgesperrt. Wer den Baum aus der Nähe sehen wollte, musste sich unter Vorlage seines Personalausweises einer Besichtigungsgruppe anschließen; diese wurde unter Polizeibewachung bis an den Rand des
Platzes geführt und bekam maximal eine Minute Zeit, um das grüne
Wunder zu bestaunen – die Mitnahme von Fotoapparaten und anderen technischen Geräten war dabei strengstens verboten.
Auch für die Anlieger gab es strenge Auflagen: Etwaige Besucher
kamen überhaupt nicht mehr zu ihnen durch, sie selbst wurden mit
Sonderausweisen ausgestattet, damit sie ihre Wohnungen oder Arbeitsstätten noch erreichen konnten.. Bei jedem Passieren der
Checkpoints mussten sie sich und ihr Gepäck einer genauen Kontrolle
aussetzen.
Doch diese Leibesvisitationen erwiesen sich mehr und mehr als Tortur: Die Polizisten wurden aus Wut über die vielen Überstunden
schließlich so ruppig, dass viele Bewohner der Sperrzone es vorzogen, bis zum Fest bei Freunden und Bekannten in den Vororten zu
übernachten. Zugleich sprachen die am Markt gelegenen Läden,
Gaststätten und Hotels die ersten betriebsbedingten Kündigungen
aus: In der verbotenen Zone gab es niemanden mehr, der noch für
Umsatz sorgen konnte.
Am Samstag vor dem vierten Advent erlebte Sobczak eine herbe
Überraschung: Als er aus der Haustür trat, wandte er sich wie gewohnt nach rechts, um an der Apotheke vorbei auf die Betenstraße
zu gelangen. Doch nach wenigen Schritten prallte er gegen eine
Wand. Als der Schmerz vorüber war, sah er sich irritiert um: Den
Durchgang zur Kleppingstraße gab es noch, und er hätte auch noch
in die Marienkirche zum Gottesdienst gehen können - aber der
Markt war zugenagelt.
"Ja, da staunsse, Meister!"
Einer der Männer in Orange stand vor ihm.
"Ham wir alles dicht gemacht heute Nacht. Jede Gasse, die zum
Markt führt, iss abgesperrt. Drei Meter hoch, 24 Millimeter stark.
Da kommt keiner durch, der den Baum ..."
Gegen Mittag meldete das lokale Radio, dass etwa eine Million Menschen in die Bierstadt gekommen waren. Dennoch waren die Autobahnen rund um Dortmund verstopft und etwa tausend Polizisten
damit beschäftigt, alle Abfahrten zwischen Mengede und Kamen,
Oespel und Unna abzusperren. Gegen ein Uhr konnte man den Fahrer
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des Wagens beglückwünschen, dem der hundertste staubedingte
Auffahrunfall gelungen war.
Sobczak vergrub sich, bis der Weihnachtsmarkt seine Lichter abschaltete, in seinem Büro. Halbstündlich brachte ihm Frau Herzig
die Faxe mit den Polizeimeldungen, und sie lasen sich wie Nachrichten vom Tag des jüngsten Gerüchts: Viertausend eingesetzte Beamte, drei Dutzend Festnahmen von Verdächtigen, zwei Menschen
starben im Gedränge an Herzinfarkt, ein dritter geriet unter die
Räder eines Rettungswagens.
9
Am Sonntag verhängte der Polizeipräsident für die gesamte Innenstadt ein Ausschankverbot für Alkohol. Das Gebiet innerhalb des
Walles wurde abgeriegelt, und die Postenketten ließen nur noch
solche Menschen zur Klepping- oder Kampstraße durch, die sich als
Dortmunder Bürger ausweisen konnten.
Dennoch war der Westenhellweg schwarz von Menschen. Mit wehmütigen Gesichtern schoben sie sich an den geschlossenen Glühweinständen vorbei, Döner, Gyros und Fisch schmeckten an diesem Tag
auch nicht so recht, und die zahlreichen Kioske mit Kleidung oder
Kunstwerk blieben fast unbeachtet. Alle lauerten nur darauf, ob die
Attentäter ihre Drohung wahr machten. Aber angesichts der
Scharfschützen auf Dächern und Türmen gab ihnen kaum jemand
eine Chance.
Sobczak hatte gehofft, zumindest die Kinder würden an diesem Tag
zu ihrem Recht kommen. Aber ohne den Alkohol ließ auch die
Spendierfreudigkeit vieler Väter und Mütter deutlich nach. Fast
leer drehten sich die Karussells, und ihre Musik wurde ebenso vom
Jaulen der Polizeisirenen übertönt wie das Posaunenspiel auf den
Plätzen.
Am späten Nachmittag hatte noch immer niemand versucht, zum
Baum durchzubrechen, und die Polizeiführung wurde nervös: Wo
blieben die Rächer des geschändeten Waldes?
"Jeden Verdächtigen kontrollieren!", ordnete der Präses an, und
dann ging es los: Omas mussten ihre Handtaschen öffnen, Opas ihre
Spazierstöcke abgeben. Polizisten rissen selbst Babys aus den Kinderwagen und suchten unter den Decken nach Bomben und Brandpfeilen. Ein zwölfjähriger Junge mit Plastik-Maschinenpistole wurde
drei Stunden lang von zwei Polizistinnen und einer Kinderpsychologin
verhört, während seine Eltern Interviews am laufenden Band gaben.
Abnehmer für diese Statements gab es zur Genüge: Vierzig
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Fernsehteams aus aller Welt und rund 150 Bildreporter waren im
Einsatz.
Am Abend stand der Baum noch immer.
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Mühsam goss sich Sobczak einen neuen Cognac ein. War es das, was
er gewollt hatte? In einer putschähnlichen Aktion hatte ihn die
Werbegemeinschaft fristlos beurlaubt, und als er nach Hause kam,
lag dort eine weitere Kündigung – von seiner Frau.
Nach dem dritten Cognac löschte Sobczak das Licht und spähte hinaus: Tot und leer der Platz, wo sonst die Märchenbahn fuhr. Hotel
und Kneipen seit Tagen geschlossen. Kein Fußgänger auf dem Weg
nach Hause oder zur nächsten Theke. Was einst ein Weihnachtsmarkt gewesen war, glich einer vom Feind eroberten Stadt.
Wehmut beschlich den Mann. Wo waren sie geblieben, die Weihnachtsmärkte
seiner
Kindheit?
Mit
Holzkarussells
und
Zuckerwatte? Mit großen Kinderaugen und gespannter Erwartung
auf die Bescherung? Mit O du fröhliche und Vom Himmel hoch?
Heute dachten selbst die Blagen nur noch an den Mammon ...
So, wie es lief, ging es jedenfalls nicht weiter. Aber was konnte man
gegen diese Entwicklung tun?
Nach reiflichem Grübeln zog er sich an, ging in den Keller und
suchte ein paar Dinge aus der Campingausrüstung zusammen, die
dort eingelagert war. Wartete hinter der Haustür, bis die nächste
Streife vorbei war, und betrat die leere Straße, einen
Benzinkanister in der Hand. Er hatte noch neunzehn Minuten, um
das Wenige zu tun, das er tun konnte: ein Zeichen zu setzen. Und er
wusste auch genau, welches.
© Reinhard Junge, 1998