„Noch nie in der Moderne gab es mehr Kunst, war die Kunst sichtbarer, präsenter und prägender in der Gesellschaft als heute. Noch nie war die Kunst so sehr ein Teil des gesellschaftlichen Prozesses wie heute. Noch nie in der Moderne war die Kategorie des Ästhetischen so zentral für das kulturelle Selbstverständnis, wie die gegenwärtige Epoche. UND Noch nie war das Ästhetische so sehr ein bloßes Mittel im ökonomischen Verwertungsprozess.“ Christoph Menke in seinem 2013 erschienenen Buch „Die Kraft der Kunst“. Es ist hier nicht der Ort, die Schlussfolgerungen zu diskutieren, die Menke aus dieser Analyse zieht. Ohne Zweifel ergeben sich aus komplexen Situationen – wie so oft – Chancen und Gefahren. Die unleugbare Kraft der Kunst, die uns die Kunstgeschichte lehrt, gepaart mit der ubiquitären Präsenz der Künste, hat jedenfalls das Potenzial zur Verstärkung sowohl von Chancen als auch von Gefahren. Und Potenziale kann man noch gestalten. Unsere Welt ist in der paradoxen Situation, dass sie einerseits immer monopolarer und andererseits immer komplexer wird. Politische Prinzipien, Instrumente, Interessen und Wirkungskräfte werden durch ökonomische verdrängt. Allein die Tatsache, dass im Rahmen eines Handels-Abkommens Kunst und Kultur zu einem Thema werden, dass es notwendig scheint, Kunst und Kultur vor den negativen Auswirkungen eines Handels-Abkommens zu schützen, spricht Bände - nicht nur über den Zustand von Kunst und Kultur, sondern damit zusammenhängend 1 auch über den Zustand unserer Gesellschaft. Gleichzeitig zeigt sich hinter den glatten Fassaden von Globalisierung und Ökonomisierung, dass unsere Gesellschaften auch noch von zahlreichen anderen, als nur wirtschaftlichen Faktoren beeinflusst werden, deren vielfach ignorierte Zusammenhänge oft unerwartete politische, soziale und ökonomische Wirkungen entfalten. Die Tatsache, dass die Komplexität unserer Gesellschaften und der menschlichen Lebensbedingungen in dramatisch anwachsender Geschwindigkeit zunimmt, wird immer deutlicher sichtbar. Und es steigt das Bewusstsein, dass diese Komplexität mit der linearen Fortsetzung dessen, was existiert, in kurzer Zeit nicht mehr beherrschbar sein wird. Einer aktuellen Studie der Oxford University zufolge, werden in den USA in den nächsten 20 Jahren 47% der derzeit bestehenden Arbeitsplätze verschwunden sein. Man braucht nicht allzu viel Phantasie, um zu erkennen, welch enorme soziale und politische Sprengkraft es hat, wenn in kurzer Zeit, in viel weniger als einer Generation, die Hälfte dessen wegbricht, was wir derzeit unter Arbeit verstehen. Die Gründe dafür liegen in der technologisch bedingten Veränderung von Produktionsprozessen durch Digitalisierung und Automatisierung. Überall, wo Arbeiten oder Arbeitsschritte, standardisierbar sind, durch Algorithmen determiniert werden können, überall dort werden Menschen von Maschinen ersetzt werden. Computer und Roboter sind schneller, anpassungsfähiger, präziser - und vor allem billiger als menschliche 2 Arbeitskraft. Das wird nicht nur Produktionsbetriebe treffen, sondern auch die Transportwirtschaft, die Finanzwirtschaft und weite Teile des Dienstleistungssektors bis hinein ins Management. Nicht nur in den USA und Europa, sondern weltweit. In Asien, einschließlich der klassischen Billiglohnländer, gibt es die weltweit größte und schnellste Robotisierungsquote. Was hier auf uns zukommt, wird nicht nur Arbeit für wenig Qualifizierte betreffen, sondern weit hinein in die gebildete Mittelschicht reichen. Damit einhergehend werden auch die gesellschaftlichen und politischen Strukturen einer tiefgreifenden Veränderung unterliegen. Was wir in naher Zukunft unter Arbeit – und unter Bildung – verstehen müssen, wird neu zu definieren sein. Und das ist keine technokratisch zu lösende Aufgabe, sondern eine Kulturaufgabe. Wenn Politiker und Industrieverbände in dieser Situation mit Schlagworten wie „Re-Industrialisierung“ Amerikas oder Europas herumwerfen oder glauben, dass Industrie 4.0 die ausreichende Antwort auf die anstehenden Herausforderungen sein kann, dann grenzt das an fahrlässige Realitätsverweigerung. Jean Monnet, zitiert von Jack Lang, soll einmal gesagt haben: „Wenn ich noch einmal etwas mit der Gründung der Europäischen Union zu tun hätte, würde ich mit der Kultur beginnen.“ Jean Monnet wäre sich dessen noch sicherer, wenn er sähe, dass uns gerade sowohl die europäische Wirtschaft als auch die so genannten Europäischen Werte der Aufklärung um die Ohren zu fliegen drohen. 3 Die Zukunft der Arbeit, so die eben angesprochene Oxford-Studie und mehrere anderem Studien, die Zukunft der Arbeit liegt in den Bereichen Kreativität und Soziales. In einer von Digitalisierung und Robotik geprägten Welt, wird - von Menschen – gesellschaftliche und wirtschaftliche Wirkungskraft nur mehr durch kreative Denkprozesse herstellbar sein, also durch Prozesse, die auf bisher ungedachte oder als undenkbar gehaltene Weise Verbindungen zwischen bekannten und daher zunehmend automatisierten Handlungsund Wissensfeldern herstellen. Die Veränderung von Arbeit, Bildung und Freizeit wird, ebenso wie die Veränderung unserer Gesellschaften durch demographische Entwicklungen und durch Migrationsbewegungen, neue soziale Prozesse im Zusammenleben der Menschen als Handlungsfelder eröffnen. Friedrich Kiesler, der 1926 aus Österreich in die USA ausgewanderte visionäre Denker, Architekt und Designer, entwickelte in den 1930er Jahren seine Theorie, die unter Aufhebung aller Kunstgattungen und unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, Mensch und Umwelt als ganzheitliches System komplexer Wechselbeziehungen versteht. Correalismus nannte er diese Theorie, die heute von ungeahnter Aktualität ist. Kieslers Überzeugung, dass visionäres Denken zugleich realistisches Denken ist, macht Mut in Zeiten zunehmender Mutlosigkeit. Mehr noch: Kieslers Denkansatz wird immer wichtiger je mehr unsere Welt von Unsicherheit und Ambiguität gekennzeichnet ist, weil diesen Herausforderungen nicht mit der Anwendung von Algorithmen und Robotern begegnet werden kann, sondern nur mit visionärem, 4 korrelativem Denken, das der herrschenden Dominanz von Standardisierung und Fragmentierung kühn entgegengesetzt wird. Wenn man sich die Wirkungsparameter und die handelnden Personen im Zeitalter der Renaissance ansieht, dann stellt sich die Rolle der Kunst in dieser multikausalen Konstellation als beeindruckend aber letztlich als gar nicht so überraschend dar: Weltliche und klerikale Machtpolitik, Handelsinteressen, Wissenschaft und Kunst. - Signifikant war die Verschränkung und Verzahnung der genannten Sphären, ohne dass man immer genau sagen Interessenssphären konnte, gerade die ob, wann Oberhand und welche dieser als gesellschaftliche Wirkungskraft hatte. Gesellschaftliche Wirkung entfalteten sie jedenfalls alle und insbesondere alle zusammen. Das gilt auch und gerade für die Kunst. In diesem Sinne halte ich – wenn man schon in dieser Terminologie spricht - Renaissance 2.0 für wesentlicher als Industrie 4.0! Kunst, Architektur und Design, Wissenschaften, Wirtschaft und Politik sind angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen mehr denn je aufgerufen, die Potenziale ihrer Wechselwirkungen nicht mehr nur als zufälligen Kollateralnutzen zur Kenntnis zu nehmen, sondern diese Potenziale frei zu legen. Die notwendige Neudefinition von Arbeit und Bildung wird ohne Kunst und ohne Kunstinstitutionen nicht möglich sein. Nach Ludwig Marcuse ist die Welt der Kunst die eines anderen Realitätsprinzips, in der es um Verfremdung geht. Als Verfremdung erfüllt die Kunst eine Erkenntnisfunktion; sie spricht Wahrheiten aus, die in keiner anderen Sprache auszusprechen sind. 5 Es wird und muss auch weiterhin Künstlerinnen und Künstler geben, die sich mit ganzer Leidenschaft der so genannten autonomen Kunst in den unterschiedlichen Sparten der Künste widmen. Es wird auch weiterhin spezialisierte Märkte, Arbeitsfelder und Einkommensmöglichkeiten für Kunst, Architektur und Design geben. Aber es wird und muss auch neue, correlative Bildungsgänge und Berufsbilder geben, ganz andere andere Formen von Arbeit und Einkommen, als die derzeit bekannten. Diese gilt es zu entwickeln und zu implementieren. Und auch dabei wird der Kraft der Kunst, dabei wird KünstlerInnen, ArchitektInnnen, DesignerInnen, WissenschafterInnen eine entscheidende Rolle zukommen. Denn der Schlüssel für die Erneuerung von Arbeit und Bildung, für die Erneuerung von Gesellschaft und Wirtschaft, in der der Mensch noch eine Rolle spielt, liegt bei den creative skills: Bei der Fähigkeit unkonventionell zu denken, Vertrautes zu hinterfragen, neue Szenarien entwickeln zu können, in Zusammenhängen denken, kommunizieren und handeln zu können, Kommunikation auch non-verbal zu pflegen, Staunen hervorzurufen. Die „creative skills“ werden zur zentralen Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts werden. Und die Expertise dafür liegt bei den Kunstuniversitäten und bei ihren Absolventinnen und Absolventen: Die Basis für diese Expertise bilden • die bestehenden und noch zu entwickelnden Studien- und Weiterbildungsprogramme, 6 • die Zusammenarbeit unterschiedlicher Universitäten und Disziplinen • und die Zusammenarbeit der Universitäten mit ihren Absolventinnen und Absolventen. Zukunft, meine Damen und Herren, Zukunft kann man erleiden, erdulden oder gestalten. Wir sind diejenigen, die die Zukunft gestalten. Wir, die MitarbeiterInnen und Studierenden der Angewandten - und insbesondere Sie, die Absolventinnen und Absolventen. Ich wünsche Ihnen alles Gute dabei. Rektor Gerald Bast, 26. Juni 2015 7
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