Die Avantgarde und ihre Forderung der Verschränkung von Kunst und Leben oder auch Die Realisierung der Kunst Jennifer Bennett 2012 Ich fange an mit philosophischer Fiktion und der Behauptung, dass künstlerische Tätigkeit den individuellen und gesellschaftlichen Handlungsspielraum erweitert, bzw. diesen sogar zu setzen vermag. Dazu ein kleiner Exkurs zu Überlegungen über Subjektivität und Selbstbewusstsein. Den Gedanken an das Selbstbewusstsein, welches sich seiner selbst bewusst wird, finde ich bei Hegel, den Gedanken, des menschlichen Geistes, als die Vollendung der Natur bei Schelling. Von solcher Vollendung kann Schelling sprechen,- da dieser Geist die Natur erstmalig reflektieren und so hervorbingen kann und ihr als etwas Benennbarem, erst zur Wirklichkeit verhilft. Dazu muss ich anmerken, dass sich in mir die folgenden Gedanken durch Lektüre hervor gebracht haben, diese Lektüre kann in Beispielen Jahre zurück liegen und hat sich mit meinem eigenen Denken verwoben, so dass ich in einigen Fällen leider auf Literaturhinweise verzichten muss. Die Bücher besitze ich nicht, sie sind mir in verschiedenen Kontexten zu gekommen, sei dies aus Bibliotheken, öffentlichen und solchen von Freunden, Bekannten oder in Ferienhäusern, sei dies in Auslagen oder bei Vorträgen. Manchmal schlägt man ein Buch auf und findet auf den ersten Blick einen oder mehrere Sätze, welche genügen um sein eigenes Denken sofort anzuregen. Vorträge überhaupt, welche Ahnungen wecken, die im eigenen Denken aus zu arbeiten sind. Dies setzt eine Form von Selbstbewusstsein voraus und die Erkenntnis und das Vertrauen auf die eigene Denkfähigkeit. Dies ist antiwissenschaftlich, es lässt sich nicht beweisen. Mir wird es hier also nicht darum gehen, Theorien zusammen zu fassen und zu erklären, sondern meine eigenen Gedankengänge zur Idee der Avantgarde und deren Potential zu Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu formulieren. Dann möchte ich lieber von Fiktion als von Utopie sprechen, da mir scheint, der Welt des Science Fiction näher gekommen zu sein, als der der Utopie, also hat die Fiktion vielleicht das grössere Verwirklichungspotential. Der Begriff Utopie bedeutet ja auch der Nichtort, die Fiktion bedeutet etwas Erdichtetes, Vorstellbares, auch abgeleitet von fingere; gestalten, formen. In einem vor Kurzem gehaltenen Vortrag von Markus Steinweg erläuterte er unter dem Titel "Das Subjekt in der Wüste" das Verschwinden der Subjektivität, verknüpft mit dem Tod Gottes, von Nietzsche abgeleitet. Er beschrieb uns Heutige als fliegende Architekturen über dem bodenlosen Grund, der Grund wäre zuvor gewesen, die Subjektivität, gesetzt durch eine Höhere, von allen anerkannte Ordnung. Diese Ordnung ist zum Einsturz gebracht, durch die in unserer Zeit ziemlich umfassende Gewissheit des Fehlens einer übergeordneten Instanz. So gibt es also in Steinwegs Denken nur noch ein Subjekt ohne Subjektivität. Meine Gedanken dazu sind einfach und nachvollziehbar und betreffen eben diese philosophische Fiktion des Subjekts in der Zukunft, wenn diese Erkenntnis des Verlusts erstmal verarbeitet ist und daraus neue Möglichkeiten erkannt werden. Gerade befinden wir uns, zwar erstaunlich, aber wie es scheint, noch immer in der Trauerphase über diesen Verlust. Es ist kein Übergeordnetes da, das all unsere Taten sieht und bewertet und also auch nichts, dem wir beweisen dürften, ein "guter" Mensch zu sein. Wenn wir traurig und allein sind, gibt es nichts von Oben, was uns allein über die Vorstellung, es wäre da und würde uns ebenfalls wahrnehmen, Trost verspricht. Wir sind allein. Wird dieses Allein-sein aber als positive Ursache unserer Selbstbestimmung erkannt, können wir uns selber entscheiden, wie wir unser Selbst bestimmen, welchen Grund wir selber setzen. Das die Welt erst hervorbringende Selbstbewusstsein wird sich als solches selbst bewusst, erkennt sich als Setzendes. Ich würde also nicht behaupten, die Subjektivität, als Orientierung gebende Grundlage eines Ichs, wäre auf Nimmerwiedersehen verschwunden, sondern es besteht so überhaupt erst die Möglichkeit, sie in vollständiger Freiheit selbst zu schaffen. Ein Subjekt welches sich seinen Grund selber zu geben vermag, ist also ein schöpferisches und kreatives und wird sich so seines Handlungsspielraums erst bewusst. Diese Erkenntnis könnte auch Selbsterziehung zur Freiheit bedeuten, was allerdings weniger einfach ist, als es klingt, denn die subjektive Freiheit ist ein Paradoxon, welches dann erkannt ist, wenn die selbstauferlegten Regeln, durch die eigene Freiheit konstant kompromittiert werden müssen. Widersprüchlichkeit ist nun einmal eine Grundlage menschlichen Daseins; Leben gibt es nur in Verbindung mit demTod, welcher eben nicht erlebt werden kann. Man könnte nun aber zu bedenken geben, dass dies zu sofortigem Rückfall in barbarische Zeiten führte, was als Befürchtung nicht ganz unberechtigt ist, würde dabei aber vergessen, was für eine Geschichtlichkeit und kulturelle Erziehung hinter uns als Menschheit liegt. Will sagen, es gibt kein Zurück hinter etwas einmal Erkanntes, auch können diese Einsichten nicht negiert, sondern nur verändert, respektive erweitert werden. Die Fiktion wären also Subjekte, welche sich ihren Grund selber setzen und diesen selbstbewusst leben, im Bewusstsein, dass jeder Andere dasselbe tut und darin unangreifbar ist, denn würde ich den Anderen darin angreifen, wäre gleichzeitig meine eigene Souveränität der Setzung in Frage gestellt. Der Andere nimmt mir dadurch nichts weg, und ich ihm auch nicht, der Andere verdient in seiner Souveränität der Setzung seiner Subjektivität meinen vollständigen Respekt, wie ich seinen. Das ist wichtig, wenn ich mir meiner selbst als Setzendes bewusst bin, muss ich wissen, dass jeder andere dies genauso ist und so, mit mir verbunden. Er nimmt mir nichts weg, da seine Setzungen mir Aspekte des Anderen eröffnen können, welche wiederum meine eigenen Vorstellungen erweitern oder in Abgrenzung an seine, überprüfbar machen. Nun kommen wir zum Problem der Avantgarde und damit verknüpften Utopie, welche eben diesem Anderen sehr wohl auch eine gewisse Berechtigung abspricht, behauptet; die Verhältnisse bessern zu können, mit dem Wunsch verbunden, zu einem idealen Endpunkt zu gelangen. Es ist allgemein bekannt, dass Avantgardistische Bewegungen oftmals auch nicht weit weg von totalitären Vorstellungen sind. Als Paradebeispiel seien hier die Fututristen genannt, wobei unklar bleibt, wer ihre Ideen in die Richtung von Kriegsverherrlichender Propaganda gewendet hat, aber es lassen sich überhaupt viele der Ideen von Veränderungswünschen totalitär vereinnahmen, da erst mit dem Willen zu Veränderung gesagt wird, es ist da etwas, das anders sein soll und auch behauptet wird, es gäbe so etwas wie ein für alle gültiges Ideal. Die Demokratie könnte ein Versuch sein, dieses Denken zu überwinden. Partizipatorische Demokratie könnte bedeuten, die Andersheit, die Verschiedenheit zu verhandeln und zu akzeptieren. In meinen Augen wird das Mehrheitsprinzip in der Demokratie überbewertet und dabei vergessen, dass es um eine Verhandlung und auch Empathie für die verschiedenen simultan existierenden Mehrheiten geht. Es sollte vermehrt beachtet werden, dass diese differenten Mehrheiten nur in sehr offen gehaltenen Strukturen friedlich und konstruktiv nebeneinander existieren können. Dabei fällt mir de Sade ein, der bemerkte, in einem idealen Staat sollte es genau nur ein Gesetz geben und zwar dies, dass jeder machen dürfen soll, was seinem je eigenen Wollen entspricht, wozu auch Mord und Verbrechen gehören. Nun gut. Gehen wir davon zu Schiller und seiner ästhetischen Erziehung, welche in dieser das Potential der Bildung von einer tatsächlich verstandenen bzw. über diese Erziehung empfundenen Moral sieht, wären Mord und Verbrechen sozusagen aus dem Individuum verbannt, da es intuitiv über sein Moralempfinden davon abgeschreckt wäre. Dazu später mehr, da ich in Schillers ästhetischer Erziehung ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Potential der Realisierung der Kunst sehe. Schiller sagt, im Kunstwerk würde die Wahrheit gerettet über die Zeiten. In der Kunst, wie wir sie heute hauptsächlich und auch zu seiner Zeit kennen, geschieht das im Material. Dieses verpackt die Wahrheit, bringt sie zur Anschauung und ist archivierbar/haltbar. Heute haben wir es aber auch zunehmend mit vielerlei unhaltbarer, ephemerer Kunst zu tun, welche uns hilflos vor die Probleme der Archivierbarkeit und Restauration stellt. Hilflos insofern, als das wir, ohne es verhindern zu können, mit dem Verfall des Materials konfrontiert sind, was wiederum im Widerspruch zu den Aufgaben des Museums und der Archivierbarkeit steht. Neue Materialien, welche die alten, haltbaren Medien, wie Ölfarbe oder Marmor ergänzen oder Kunstformen wie Performance, welche auch von den Avantgarden in die Kunst eingeführt wurden, sind nicht im gleichen Masse über die Zeit und ihre Transformationsprozesse zu retten. Es ist nun nicht so, dass die Vergänglichkeit nicht bereits in der Kunst thematisiert worden wäre, vielmehr sind gerade Vanitas Symbole beliebtes Motiv der klassischen Kunst, trotzdem wird der Vergänglichkeit ihre Abbildung entgegengesetzt, die als Solche nicht vergänglich sein soll. Das nun Formen in die Kunst eingeführt sind, welche sich der Vergänglichkeit ebenso preisgeben, ist womöglich ein Hinweis auf ein tiefer gehendes Verständnis der konstanten Transformation von Material und auch Bedeutung. Dieses neue Verständnis einer Wahrheit welche über die Zeit gerettet werden könnte, wie Schiller es formuliert, ist also nicht materiell manifestierbar, da dies ja genau im Widerspruch zu dieser Wahrheit stünde, wo also Form und Inhalt auseinander drifteten, sondern hat etwas mit Denkprozessen und Bewusstsein zu tun. Das könnte eine neue Wahrheit für die Kunst sein, welche sie zu formulieren hat und die Künstler schauen müssen, welche Formen diese Wahrheit über die Zeiten mitnehmen könnte, wo ich dann wieder zum Subjekt und der von ihm kreierend gesetzten Subjektivität komme, welches als Träger dieser Wahrheit vorstellbar wäre. Also wieder zur Fiktion einer Kunst, welche sich im Subjekt formuliert und entäussert, welche nicht das Material beseelt, formt, bedeutsam und gleichwohl zweckfrei macht, sondern den Menschen und mit ihm die Gesellschaft. Programm der meisten Avantgarden war die Verknüpfung von Kunst und Leben. Dabei frage ich mich, an wessen Leben sie dabei dachten. An ihr eigenes oder an das von den anderen ebenso, denn seit Duchamp wissen wir, kein Kunstwerk ist fertig ohne Betrachter. Wenn also nun aber der Betrachter diese Verbindung nur ansieht und selber nicht voll-führt, wie für das Kunstwerk der Verbindung von Kunst und Leben notwendig, kann er dieses nie ganz fertig stellen, solange er nicht versteht, dass er kein getrenntes vom Kunstwerk ist. Die Formulierung der Avantgarde kann sich immer nur in ihr selber erfüllen und nie auf den Betrachter überspringen, bzw. nie tatsächlich vollendet werden oder wir betrachten die Avantgardekünstler als alleinige wirkliche Betrachter ihrer Kunst. Wie kam es aber dazu, dass die Betrachter seit dem Aufkommen dieser Forderung ungefähr zeitgleich mit dem Beginn der Moderne, davon abgehalten wurden, diese Kunst tatsächlich durch ihre in Aktivität gewandelte Rezeption zu vollenden? Hat es zu tun mit den alten romantisierten Künstler und Genie Begriffen und damit, dass sich keiner vorstellen kann, wie das aussieht, wenn die Künstler sich ihres eigenen Vorrechts von künstlerischem Talent und Könnerschaft bewusst entziehen, indem sie die Fähigkeit zur Kunst jedem anderen auch zu sprechen? Das kann ich auch, sagen die Museumsbesucher und sie haben recht, der Unterschied ist nur, sie machen es nicht. Trotz Duchamp sind die Kunstwerke der Avantgarden also nie durch den Betrachter vollendet worden, sondern warten immer noch darauf. Auch in den 1970ern oder 1950ern war die Forderung nach der Verbindung von Kunst und Leben laut und doch wurde sie immer zurück gestuft in den White Cube und das archivierbare Material. Und das nicht nur von Galeristen und Systemen, deren ganzer Kreislauf des Existierens auf der Verkäuflichkeit von Kunst basiert, sondern ebenso von den Künstlern selber. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, Paradebeispiel Guy Debord, haben auch die Künstler wacker weiter in Material produziert, dieses in Kunstkontexten ausgestellt und entweder bei sich gelagert oder in den Käuferkreislauf gebracht. Natürlich gibt es bestimmt zahlreiche Beispiele von Künstlern, welche diesen Weg nicht gewählt haben, welche an der Verbindung von Kunst und Leben immateriell arbeiten oder gearbeitet haben, nur ist es schwierig, von denen etwas zu wissen, da sie eben dadurch auch nicht archivierbar und dadurch schwer vermittelbar sind. Exemplarisch möchte ich auf den Dadaismus eingehen und wie da die Forderung der Kunst als Lebenspraxis an den bürgerlichen, sich selber nicht als Künstler bezeichnenden Betrachter heran getragen wurde. Die Textquellen stammen hauptsächlich aus dem Netz und werden von mir der Einfachheit halber überwiegend nicht genauer angegeben. Die Gründung des Dadaismus wird allgemein mit der Gründung des Cabaret Voltaire in Zürich durch Hugo Ball in Verbindung gebracht. Dieser lud 1916 die junge Künstlerschaft Zürichs durch eine Pressenotiz ein "sich ohne Rücksicht auf eine besondere Kunstrichtung mit Vorschlägen und Beitragen an den Programmen der von ihm gegründeten "Künstlerkneipe Voltaire" zu beteiligen". (aus Reinhard Döhl "Dadaismus", http://www.reinhard-doehl.de/dada.htm). Mit der Gründung einer eigenen Kneipe, wird eine Unabhängigkeit der bestehenden Einrichtungen bewiesen, wie sie bis heute in der, auf der ganzen Welt verteilten "Off-Raum" Kultur weiter besteht. Ball dachte für sein Cabaret an Künstler aller Stilrichtungen, der Name Dada entstand angeblich beim zufälligen Blättern durch ein deutsch-französisches Wörterbuch: Dada, der erste verbale Ausdruck eines Kleinkindes und französische Bezeichnung für ein Holzpferdchen, sollte einen Neubeginn ausdrücken, die Einfachheit darstellen und den Anfang aller Kunst symbolisieren. Diese Forderung nach Neuanfang findet sich auch ca. dreissig Jahre später wieder bei der Neoavantgardistischen Bewegung der Künstlergruppe "Zero". Nietzsche war eine wichtige Figur für den Dadaismus, wobei nicht so sehr der Gedanke der Erhöhung des Menschen im Mittelpunkt stand, vielmehr wurden seine Reflexionen über Vernunft und Unvernunft thematisiert, der Nihilismus wurde zum Instrument dadaistischer Strömungen und die Balance zwischen Widersprüchen gesucht. (aus Gesellschaftliche, kommunikative und ästhetische Faktoren der Kunstrichtung des Dadaismus: Systemtheoretische Betrachtungen, Christopher Klein, Studienarbeit, 2007) Obwohl das Cabaret Voltaire nur sechs Monate bestand, breitete sich die dadaistische Idee schnell international aus, was ein prägnantes Kennzeichen der meisten Avantgardistischen Kunstströmungen ist, die ideelle Verbindung über Landesgrenzen hinweg. Gleichzeitig verweist es auf die Situation der dadaistischen Künstler von denen sich einige im Exil befanden. Die Dadaisten, waren nicht so sehr durch einen Gruppenstil, sondern durch ihre künstlerisch-politische Haltung und durch das gemeinsame Exil zusammengebracht. Häufig unterschieden sich ihre individuellen Herangehensweisen sogar sehr stark voneinander, was Herbert Braun in seiner Magisterarbeit mit der Gegenüberstellung von Hugo Ball und Kurt Schwitterst deutlich macht (http://woerter.de/hb/texte/ball-schwitters.html). Gegen Ende des Ersten Weltkriegs entstanden in Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten Dada-Galerien, wurden Dada-Zeitschriften gegründet und Dada-Manifeste geschrieben, es entwickelte sich eine internationale künstlerische Bewegung, die als Protest gegen die Verheerungen des Weltkriegs, die Institutionalisierung der Kultur, die Zweckgebundenheit der Kunst und die Perfektion der Technik eine Hinwendung zum scheinbar Sinnlosen forderte. Zufall und Spontaneität wurden zum Gesetz dieser, gegen bürgerlichkonformistische Kunstideale rebellierenden Künstler. Arp nannte mit Hinweis auf die Schlächtereien des Weltkrieges das Ziel, die verlogenen und scheinheiligen Werte und Ideale der bürgerlichen Gesellschaft zu enttarnen und zu zerstören. Dada ist der Ekel vor der albernen verstandesmässigen Erklärung der Welt, so Arp. Ebenso sagten die Dadaisten den etablierten Kunstformen den Kampf an. Durch eine ironische Synthese von Primitivem, Banalem und moderner Technik versuchten sie die Sinnlosigkeit von Logik, Intellekt und bürgerlicher Kultur zu verdeutlichen. Lärmmusik, Simultanvorträge, Zufallsgedichte, Photomontagen und Collagen aus Zeitungsausschnitten, Photos und Alltagsgegenständen gehörten zu ihren Ausdrucksmitteln. DADA ist die schöpferische Aktion in sich selbst. Dada zerstörte die getrennten Ausdrucksweisen der Künste und führte verschiedene künstlerische Disziplinen zusammen, die z. T. anarchisch miteinander verbunden wurden: Tanz, Literatur, Musik, Kabarett, Rezitation und verschiedene Gebiete der Bildenden Kunst wie beispielsweise Bild, Bühnenbild, Grafik, Collage, Fotomontage. Auch das macht Dada vergleichbar mit anderen Avantgarden, wie beispielsweise dem russischen Konstruktivismus, wo Malevitsch um 1921 forderte: "... Für das Leben arbeiten und nicht für Paläste und Tempel, nicht für Friedhöfe und Museen! Arbeiten unter allen, für alle und mit allen. Es gibt nichts Ewiges, es ist alles vergänglich. Bewusstsein, Erfahrung, Ziel, Mathematik, Technik, Industrie und Konstruktion- das steht hoch über allem. Es lebe die konstruktive Technik, es lebe die konstruktive Haltung bei jeder Tätigkeit, es lebe der Konstruktivismus!" (Kat. Rodtschenko/Stepanowa, Duisburg/Baden-Baden, 1982/83, S. 96) Dada muss ebenso, als radikale Entfesselung der Künste und ihrer Möglichkeiten gesehen werden, die Gesellschaft zu verändern und eine neue Ordnung zu schaffen. Als der Dadaismus sich zu festigen begann, riefen die Dadaisten dazu auf, diese Ordnung wieder zu vernichten. " Mit der konsequenten Weiterführung und Radikalisierung setzte nun die dritte Phase in der Entwicklung des Dadaismus ein. Dazu war das inzwischen vorhandene und stark ausgeprägte Selbstverständnis als eigenständiger künstlerischer Gemeinschaft ebenso Voraussetzung wie eine wenigstens ungefähr gemeinsame Vorstellung dessen, was man nun eigentlich wollte und mit der eigenen Produktion bezweckte. Es ist bezeichnend, daß die bisher bekannt gewordenen Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und ähnliches eine immer stärkere Tendenz zur kollektiven Argumentation [= Wir] zeigen, ohne dabei auf gegenseitige Abgrenzung zu verzichten. Entsprechend charakterisiert auch Huelsenbeck: Die Größe Arps bestand in seiner Beschränkung auf die Kunst. Was er dachte und wollte, die Gefühle, die ihn bewegten, die Träume, die ihn schüttelten - alles das hatte bei ihm nur einen Sinn, den der Kunst. Arp war und blieb der Künstler per se. Infolgedessen wurde er der größte Kunstler im Dadakreise. Gerade weil er weder links noch rechts sah, wollte er die Kunst ändern, mehr als alles andere, und nur durch die Kunst, so glaubte er, könne sich auch das menschliche Leben ändern. Der Affront gegen das Bürgertum und eine ihm als zugehörig verstandene Literatur mußte bald jegliche Kunstideale negieren, jegliche bisher gültigen ästhetischen Wertmaßstäbe und Spielregeln der Kunst für ungültig erklären." (aus Reinhard Döhl "Dadaismus", http://www.reinharddoehl.de/dada.htm). Auch das ist ein wichtiges Merkmal, welches den Avantgarden zugesprochen wird, nämlich der Bruch mit allem Bisherigen, weswegen heute gemeinhin von einer Unmöglichkeit einer neuerlichen Avantgarde ausgegangen wird, da wir uns im Status des legitimen Nebeneinander von allen Stilen und Richtungen befinden. Für die Dadaisten damals bedeutete das "aber auch, daß man - wollte man über die pure Provokation, die überraschende Konfrontation, das Täuschen der Erwartung, über die Parodie hinaus - neue Wege finden musste, indem man zum Beispiel vorhandene zeitgenössische Tendenzen, aber auch Techniken auf andere Kunstarten übertrug, verschärfte, aber auch umfunktionierte. Ball spricht in diesem Zusammenhang von dem emphatischen Schwung unseres Zirkels, von dessen Teilnehmern einer den andern stets durch Verschärfung der Forderungen und der Akzente zu überbieten suchte. Die Gespaltenheit der Interessen wurde in den sich jetzt überall in Europa bildenden dadaistischen Gruppierungen schnell sichtbar. Jedes dieser neuen "Dada-Zentren" zeigte ein spezifisches Gesicht, das es von den anderen unterschied. War, um es wenigstens an der Oberfläche zu skizzieren, der Kölner Dadaismus (1919/1920) - abzulesen etwa an Max Ernsts "Biographischen Notizen (Wahrheitsgewebe und Lügengewebe)" (1963) - vor allem eine Angelegenheit der bildenden Kunst, so wurde der Pariser Dadaismus (1919-1922) wesentlich eine Sache der Literaten. Und während Schwitters in Hannover (seit 1919) aus den künstlerischen Intentionen des Züricher Dadaismus und den Theorien des "Sturm" eine Art Privatdadaismus entwickelte, dem er - auch um ihn von anderen dadaistischen Strömungen zu unterscheiden - mit "Merz" bald einen eigenen Namen und unter diesem Namen seit 1923 eine eigene Zeitschrift gab, praktizierte Huelsenbeck in Berlin (19181920) zusammen mit John Heartfield, Wieland Herzfelde, George Grosz, Raoul Hausmann, Hannah Höch, Walter Mehring und dem "Oberdada" Baader eine zwischen anarchistischer und kommunistischer Argumentation pendelnde Spielart, in der, wie die zwölf Veranstaltungen des "Club Dada", die von Hausmann herausgegebene Zeitschrift "Der Dada" und die am 5. Juni 1920 eröffnete "Internationale Dada-Messe" deutlich machen, die rein künstlerische Betätigung eine nur sekundäre Rolle spielte." (aus Reinhard Döhl "Dadaismus", http://www.reinharddoehl.de/dada.htm). Kurt Schwitters, der zum Berliner Dadaismus nicht zugelassen wurde, jedoch zentrale Figur des Hannover-Dada war, prägte, wie erwähnt, einen eigenen Begriff für seine Kunst, "Merz". "Merz ist für Schwitters eine Weltanschauung, die im wesentlichen für Toleranz und Freiheit (im Gegensatz zu Willkür) plädiert. Der Abschnitt über Schwitters' Dichtkunst ist charakteristisch: Elemente der Dichtkunst sind Buchstaben, Silben, Worte, Sätze. Durch Werten der Elemente gegeneinander entsteht die Poesie. Der Sinn ist nur wesentlich, wenn er auch als Faktor gewertet wird. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich den Unsinn. (DLW 5/77) In 24 Stunden lernte ganz Holland das Wort dada. Jeder kann es jetzt, jeder weiß eine Nuance des Wortes, wie er es blöde schreien kann, so blöde wie möglich. Das ist ein enormer Erfolg. Der sonst so würdig scheinende Kulturmensch erkennt plötzlich, wie blöde er sein kann, und wie blöde er also im Grunde seiner Seele ist. Das ist ein enormer Erfolg. (DLW 5/131) Die bewußte Provokation offenbart sich im Verständnis Schwitters' als aufklärende Tätigkeit über die enorme Stillosigkeit in unserer Kultur (DLW 5/132), die ihn sogar von Dada als dem sittlichen Ernst unserer Zeit sprechen läßt283. Hier setzt nun der neue Stil ein – ein Stil, der sich von seinen dadaistischen Beigaben gelöst hat und das Chaos durch strengste Ordnung zu überwinden sucht. Der Künstler der Zeit hat ein dadaistisches und ein konstruktivistisches Gesicht284. Er ist Dadaist, weil er das Kind einer dadaistischen, wirren, unsinnigen Zeit ist, und er ist Dadaist, weil er sich einer dadaistischen Kunstäußerung bedient, um das Publikum durch extreme Stillosigkeit anzugreifen, es zu Dadaisten zu machen. Diese bewußte Barbarisierung dient dazu, den Rezipienten den Unwert der eigenen Kultur nicht nur zu zeigen, sondern auch fühlen zu lassen. Erst nach dieser kathartischen Behandlung erwacht im Rezipienten die Sehnsucht nach dem neuen Stil, der die Kunst wieder bei null anfangen läßt, bei den einfachsten Elementen – also z.B. den Grundfarben gelb, rot, blau, als Kontraste schwarz und weiß, als Formen nur sich in Rechtecke schneidende vertikale und horizontale Linien" (Herbert Braun, http://woerter.de/hb/texte/ball-schwitters.html). Der Betrachter wurde also im Dadaismus hauptsächlich provoziert, manchmal beschimpft und durch diese Provokation auf sich selber zurück geworfen. Rein rezeptionsästhetische Momente, rückten im Dadaismus verstärkt in den Fokus der Kunstproduktion. Der Betrachter konnte nicht mehr auf gängige Kunstschemata zurück greifen, über die Beobachtung des Betrachters und die Spiegelung dieser Beobachtung, wurde der Betrachter gezwungen sich selbst und seine Reaktion zu beobachten. Im Laufe der Zeit ist jedoch passiert, was die Dadaisten wahrscheinlich selber am wenigsten wollten, ihre Werke hängen im Museum und zählen zum Etablierten. Ihre Rezeption erfolgt, im Kontext des an der musealen Kunstrezeption geschulten Blicks. In den zwanziger Jahren kam es zunehmend zu Streitigkeiten zwischen verschiedenen Dada Protagonisten, eine gemeinsame Gangart konnte immer weniger gefunden werden und führte schliesslich zur Auflösung von Dada bzw. seiner Zersplitterung in verschieden andere Kunstrichtungen. Ich würde allerdings behaupten, dass die Ideen von Dada, wie beispielsweise die Produktion von Unsinn, nach wie vor lebendig sind und sich verschiedene Dada-Ausdrucksformen in vielen, vor allem medialen Bereichen wiederfinden lassen. Auch der Aspekt, dass der Dadaist ein Künstler ist, bei dem das Produkt als solches nebensächlich ist- er ist ein Geistesreisender, der immer neue Erfahrungen macht- ist aus heutiger Perspektive interessant und führt mich zu Boris Groys. Dieser spricht von der Einsamkeit des Projekts. Künstler müssen sich während der Phase der Herstellung von Kunst zurück-ziehen, abgrenzen vom Leben der Anderen. Zusätzlich müssen sie vor der Umsetzung, diese Umsetzung als Projektbeschrieb vorab formulieren und den Verlauf in Form einer Resultatvorhersage beschreiben. Groys beschreibt, wie der Künstler im Projekt, die Zukunft vorher sagt und verweist auf Sartre, welcher einst sagte, jede Person lebe aus der Perspektive seiner individuellen Zukunft heraus, welche notwendigerweise vor dem Blick der Anderen verborgen sei. Die eigentliche ontologische Kondition menschlicher Existenz sei der Status des im Projekt seins. Dazu nochmal genauer Groys selber: Warum ich an diesem Punkt so genau auf Groys eingehe, ist die Frage, ob die oben beschriebene Forderung der Verbindung von Kunst und Leben womöglich bereits geschehen ist, ohne überhaupt von der immer noch am Kunstwerk und dem geniös bildenden Künstler orientierten Kunstwelt bemerkt worden zu sein. Als von Groys formulierte Bestrebung der Biopolitischen Technologie, die Lebensdauer selbst zu gestalten, das Leben als Event in der Zeit zu organisieren und eigentlich simultan zu reflektieren. Ein weiteres Paradebeispiel ist Facebook, wo an einem modifizierbaren Realzeitarchiv gebaut wird, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen fallen; auf einen Blick erfassbar werden. Weiter möchte ich an diesem Punkt nicht auf ihn eingehen, sondern seine Gedanken des Lebens im Projekt, um die Vorstellung des zweckfreien Lebens, analog zum zweckfreien Kunstwerk, ergänzen und seine eher negative Formulierung, einer von aussen auferlegten Technologie, der sich das Individuum über den Medienkonsum fast gezwungenermassen unterwirft, hin zu einem positiven Bild wenden, zurück zur Fiktion der selbst gesetzten Subjektivität. Dazu möchte ich einen Abstecher zu Lucius Burkhardt machen. Dieser hat die Spaziergangswissenschaft erfunden und einige Texte über Design verfasst. Beim Lesen seiner Texte fühlte ich mich oft in meine Kindheit versetzt, kein Wunder, hat er doch hauptsächlich in der Zeit meiner Kindheit geschrieben. Er beschreibt sehr ausführlich wie die Bewohner von der Welt, sagen wir einfachheitshalber der westlichen Welt, an deren Mitgestaltung verhindert werden, indem viele Bereiche des Lebens den Spezialisten zugesprochen werden. So wird man oft gezwungen, für die Reparatur nicht mehr funktionierender Kleinigkeiten im Haushalt jemanden zu konsultieren, der das in Ordnung bringt. Burkhardt glaubte zu seiner Zeit scheinbar sehr an das Bedürfnis des Individuums mit-zu-gestalten. Ich aber las seine Texte genau in der Zeit, als ich bei meiner Mutter in der Schweiz zu Besuch war. Meine Mutter wohnt in einer Kleinstadt etwas ausserhalb in einer Strasse mit Häusern, welche in den 1920ern gebaut wurden. Jedes Haus hat zwei oder drei Stockwerke und einen kleinen Garten, welcher ums ganze Haus führt. Das Nachbarhaus war lange Zeit von einem älteren Ehepaar bewohnt gewesen, diese waren nun in eine Wohnung gezogen, ins Haus eingezogen war eine junge Familie. Der Garten, der früher neben einer Wiese, Blumenbeete und Gemüsegarten enthielt, war auf eine Ebene aufgestockt worden, mit grossen Steinen bestückt und das Kernstück war nun ein Rasen. Gemüse und Blumen waren verschwunden. Der Garten sah konstruiert und in einem Guss gemacht aus. Ich erinnerte mich, wie ich als Kind, vielleicht sechs Jahre alt, mit meiner Grossmutter im selben Garten, der nun meiner Mutter gehört, ein kleines Beet für Erdbeeren angelegt hatte. Die Grossmutter hatte lange Bordsteine besorgt, und wir gruben eine Rille in die Erde, um die Steine darin zu versenken. Dann pflanzten wir Erdbeeren an, und ich war noch Jahre später, wenn ich daran vorbei ging, von einer wundersamen Begeisterung diesem Beet gegenüber ergriffen, weil ich dessen Entstehung nicht nur erlebt, sondern erwirkt hatte. Ich erinnere mich genau an dieses plötzliche Begreifen, dass fast alles, was mich umgab von irgend jemandem einmal gemacht worden war. Der neue Garten der Nachbarn zeigte wenigstens mir von der anderen Seite des Zauns keine Spur von individueller Aktion, sondern die pragmatische Planung für beschäftigte Eltern, deren Kinder im Garten spielen können sollen. Dieser neue Garten verlangt nicht nach Pflege, sondern nach Instandhaltung. Als ich das sah und gleichzeitig Burkhardt las, war ich der Überzeugung, dass der von ihm attestierte Wille des Individuums mit-zu-gestalten zum Erliegen gebracht sei. Das ist natürlich furchtbar generalisierend und daher unhaltbar, es gibt aber Aufschluss über Zeiten und ihre Utopien. Ich nehme jetzt mal an, Burkhardts Utopie um 1980 herum, wäre gewesen, eine Umgebung, die zeigt, wer sie bewohnt, die eigentümliche Abweichungen und Verschiedenheiten aufweist, eine Umgebung, die nicht starr an eine Funktion gebunden, eher offen für das Wechselspiel der Zeit und den in ihr entstehenden Bedürfnissen wäre. Dann könnte ich annehmen, die Utopie oder vielmehr Dystopie meiner Zeit, wäre, keine mehr zu haben, der Abgesang auf alle Utopie, was bei genauerer Betrachtung eben auch wieder utopisch ist. Auch apokalyptische Phantasien sind utopisch, da sie ein mögliches Ende herauf-beschwören, was gleichzeitig als Erlösung empfunden wird. Ich werde nun nochmal genauer auf den Begriff Avantgarde und verschiedene Vertreter eingehen. Wie allgemein bekannt, stammt der Begriff aus dem militärischen Bereich, wie überhaupt sehr vieles, was als Neuerung eingeführt wurde, ursprünglich fürs Militär entwickelt wurde, jüngstes und tiefgreifendes Beispiel ist das Internet. Es scheint also, dass Neuerungen an Kämpfe gebunden sind, sie sind Setzungen und Setzungen beinhalten auch eine aggressive Geste. Avantgarde heisst also vor der Garde, bezeichnet die, welche als Erste in den Kampf ziehen, dem Feind als Erste begegnen und Kämpfen hat mit Erobern zu tun. Da muss es aber auch einen Gegner geben, der das zu erobernde Gebiet für sich beansprucht, im Fall der Avantgarde ist der zu Bekämpfende das bürgerliche Subjekt mit seiner Definitionsmacht, die Bourgeoisie, die die Gesetze macht. Das ist auch heute noch oder vielmehr wieder verstärkt der Fall, durch den eklatanten Einfluss der Wirtschaft auf die Politik, oder die Bevorzugung wirtschaftlicher Interessen,- in Hamburg gibt es eine Bürouberschuss, jedoch einen Wohnungsmangel und mir ist nicht einsichtig, warum es richtig sein soll, dass Leute, die ein menschliches Grundrecht beanspruchen, wieder anderen Leuten zu einem erheblichen finanziellen Gewinn verhelfen sollen,- und somit ist es auch nicht verwunderlich, dass die für alle verbindlichen Gesetze gewisse Lebensvorstellungen und -bedingungen stützen, aber gewisse andere Vorstellungen verbieten. Ein einfaches Beispiel ist die Krankenkasse, eine solche haben zu müssen, ist gesetzlich verankert, auch wenn sich ein Individuum dagegen entscheiden würde, weil es beispielsweise misstrauisch ist, gegen den von der Kasse gestützten Gesundheitsapparat, ist jeder gezwungen seinen Beitrag zu leisten. Es wird eine Form der Behandlung bevorzugt bezahlt - ebenso ist es ein offenes Geheimnis, das Vorstandsmitglieder oder Aufsichtsräte von Pharmaunternehmen, häufig ebenso gewissen Versicherungsunternehmen vorstehen - andere Behandlungsformen werden jedoch ausgeschlossen bzw. nicht anerkannt, so dass diese entweder durch zusätzliche Versicherungsbeiträge abgedeckt- oder selbst bezahlt werden müssen. Die Gesetze werden so formuliert, dass sie positiv ausgelegt sind und den Anschein von Gerechtigkeit haben. Die Gesetzesbücher werden ständig erweitert und verbessert und ausdifferenziert, was aber nicht zu weniger, sondern natürlich zu mehr Gesetzesverstössen führt. Die Gesetze und deren Einhaltung, sind an die Übereinkünfte innerhalb eines Staates gebunden. Für Hegel ist "die Geschichte, in der sich der Geist entwickelt und in der er zu sich selber kommt, und der Staat, der den sich in der Zeit entfaltende Geist in eine bestimmte, nämlich in die Ordnung des Geistes integriert, sind die beiden Grunddimensionen der Wirklichkeit des Geistes. Für Hegel ist die Geschichte des Menschen eine Folge von Manifestationen, in denen der Mensch sein Streben nach Freiheit und Vernunft demonstriert. Die Freiheit und die Vernunft des Menschen betrachtet er als vollbracht, wenn der Mensch sich im vollen Verstande als Selbstbewusstsein, wenn er sich als Wissen von sich selbst realisiert. Die Wirklichkeit, in der sich der Mensch als ein freies und vernunftbestimmtes Subjekt realisiert, ist nach Hegel die bürgerliche Gesellschaft; ihre Struktur bildet so der moderne Staat." (Hartwig Zander "Hegels Kunstphilosophie", Wuppertal, Ratingen, Kastellaun, A. Henn Verlag 1970, S. 58) Das heisst, Hegels Philosophie steht im Widerspruch zur Avantgarde, bzw. Hegel denkt keine Entwicklung nach dem bürgerlichen Subjekt. Trotzdem ist seine Theorie in Anbetracht der Avantgarden für mich brauchbar, vor allem angesichts des Begriffs "Aufheben", der in Hegels Denken eine wichtige Rolle spielt und auch in den Formulierungen der Avantgarde zu finden ist. Das Bestreben der Avantgarden der bildenden Kunst war die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis. Nun dazu nochmal H. Zander über Hegel: Natürlich ist klar, dass ich Hegels Theorie hier meinen Bedürfnissen anpasse, ihn verwende in dem Sinne, wie ich es gerne verstehen möchte, um ihn als Grundlage meiner Formulierung der Realisierung der Kunst verwenden zu können. Der Begriff Aufheben enthält in Hegels Denken drei Bedeutungen, nämlich 1. im Sinne von beseitigen, 2. im Sinne von bewahren und 3. im Sinne von hinaufheben. Hegel erklärt das dialektische Prinzip nicht nur zu einem Ordnungsprinzip des Denkens, sondern zu dem des ganzen Seins. Wenn ich dies nun mit der Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis vergleiche, könnte dies folgendermassen aussehen. 1. die Kunst des bürgerlichen Geschmacks muss beseitigt werden. Dies haben die Avantgarden mit ganzer Kraft betrieben, indem sie, wie etwa die russischen Konstruktivisten, die gegenständliche Malerei aufgehoben haben und Frechheiten wie Monochrome Quadrate oder Bewegungsprinzipien durch Form und Farbe malten, oder die Dadaisten, welche in wilden Collagen Elemente aus ihren Bedeutungszusammenhängen lösten und Unsinn vor Sinn stellten. 2. die Kunst als solche muss bewahrt werden, die Avantgarden haben weiterhin am Begriff Kunst festgehalten, Dinge aus- und hergestellt und sich Künstler genannt. 3. im Sinne von hinaufheben, die Kunst sollte elementarer Bestandteil des Lebens sein und das Leben als solches nicht nur reflektieren, sondern ebenfalls bestimmen. Dazu ein Ausschnitt aus einem Dada Manifest von 1918 von R. Huelsenbeck Ausrufe, die sich ganz dezidiert auf eine Verwirklichung im Leben richten, finden sich vielerlei in Manifesten, so auch bei W.W. Majakowski, ein Dichter des russischen Futurismus, die Überschrift "Tagesbefehl an die Kunstarmee". Auch haben sich die Avantgarden nicht mit Ausstellungen begnügt, sondern haben Plakate und Zeitschriften zur Verbreitung ihrer Ideen hergestellt und haben es aus heutiger Sicht tatsächlich geschafft, unsere Wahrnehmung zu verändern. Ihre Formensprache wurde jedoch auch von der Populärkultur vereinnahmt. Man könnte also im Prinzip sagen, die Utopien der Avantgarden sind bei der Masse angelangt, haben sich erfüllt und sind nicht, wie oft attestiert, gescheitert. Aber durch die Vereinnahmung des bloss ästhetischen Ausdrucks, aber nicht von dessen Inhalten, ist ein wesentlicher Aspekt unter den Tisch gefallen, nämlich die tatsächliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese befinden sich nach wie vor im Zustand des Herren und Sklaven, auch wenn das durch vielerlei Ablenkung, Gesetze und Demokratiebehauptungen gerne vertuscht wird. Den Avantgarden ging es um eine Selbstbestimmung des Subjekts unter den Bedingungen der Freiheit, welche sie durch die Instrumentalisierung des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft gefährdet sahen. In Peter Bürgers Buch "Theorie der Avantgarde" findet sich ein Hinweis auf die Bevorzugung des Ästhetischen vor den Inhalt, welche er auch von Hegel ableitet. Und damit auch ein Entkräften der Avantgarde zugunsten einer Vereinnahmung ihrer Formensprache in die Tradition der bürgerlichen Kultur. In der Kultur des Bürgertums ist die Kunst der Ort der Fiktion von humanen Werten, und deren Realisierung wird von der tatsächlichen Wirklichkeit abgespalten. Es ist der Ort der Entlastung von der Wirklichkeit, indem sie innerhalb der Kunst reflektiert wird und darin auch das Bild einer besseren Ordnung enthalten ist. Hegels ästhetische Theorie beinhaltet drei Entwicklungsstufen der Kunst. Die Symbolische, die Klassische und die Romantische. Danach entwirft er das Bild der Auflösung der Kunst oder ihrer Aufhebung in der Philosophie, so zumindest eine gängige Interpretation seiner Aussagen. Hegel entwirft aber auch ein Szenario nach der Romantischen Kunst, welche er in seiner Epoche erkannte und zwar die des ästhetischen Scheins und sagt damit eigentlich eine Entwicklung voraus, die erst nach dem "Scheitern" der Avantgarde tatsächliche künstlerische Praxis wurde, nämlich "..das legitime Nebeneinander von Stilen und Formen, von denen keine mehr den Anspruch erheben kann, als die avancierteste zu gelten..." (P. Bürger "Theorie der Avantgarde", Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 1974, S. 130) . Eine Kunstpraxis welche "...die subjektive Geschicklichkeit und Anwendung der Kunstmittel zum objektiven Gegenstande der Kunstwerke herauf hebt." (ebd.) Hegels Satz vom Ende der Kunst ist umstritten, und es gibt zahlreiche Denkweisen, damit umzugehen. Ich möchte hier versuchen, sein Denken um meine Gedanken der Realisierung der Kunst zu erweitern und ziehe dafür einen Paradeavantgarde Künstler, nämlich Duchamp hinzu. Seine Kunst, welche vor allem dann viel später erlaubte, einen tatsächlichen Bruch in der Kunstentwicklung auszumachen, bringt eine wichtige Sache zum Vorschein, nämlich die Verschiebung der visuellen Kontemplation eines materiellen Werkes, hin zur gedanklichen Entwicklung und Nachvollziehung des Kunstwerks; das Ready made wirkt im Denken und nicht primär als Objekt. Das ist klar, wird aber meiner Ansicht nach zu wenig berücksichtigt, was das für die Wirkung von Kunstwerken, deren Rezeption und hervor-bringung tatsächlich ausmacht, und welch emanzipatorische Bedeutung das für den Betrachter hat. Wenn er nämlich in der Lage ist, ein Kunstwerk im Denken zu vollenden, bedeutet das auch eine Vorbereitung darauf, dass der Betrachter durch seine Wahrnehmung Kunstwerke hervor bringen könnte. Der Betrachter wird konsequent weiter gedacht, zum Künstler. Das Pissoir zeigt sich nicht als ästhetischer Gegenstand, sondern als Verweisendes auf die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst und stellt diese gleichzeitig in Frage. Gegenwärtig scheint mir eher ein Zurück-fallen hinter das Ready made erkennbar zu werden, als ein Weiter-schreiten. Dies setzt meinerseits aber voraus, dass ich davon ausgehe, dass sich die Kunst in Richtung Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis entwickelt. Ich gebe zu, ich sehe die Kunst als Kraft, welche sich als Modus das gesamte Leben aneignen will, welche sich realisieren will und nicht in der abgespaltenen, abgetöteten Welt des Museums und im bloss materiellen Werk verharren will. Ich verfolge so also nach wie vor einen Avantgarde Gedanken, der sich durch die Wiederholung lebendig hält und diese notwendige und nicht nur von mir betriebene Wiederholung straft auch das Ende der Avantgarde Lügen. Das der Avantgarde zugeschriebene Bestreben, die Kunst als Institution aufzulösen, was mit deren Kritik anfängt, gibt es immer, nur ist es mal mehr und mal weniger präsent in der Aufmerksamkeit des Kunstbetriebs. Natürlich unterscheiden sich historische Avantgarde und Neoavantgarde, vor allem was die provokative Kraft ihrer Aussagen angeht, dennoch sehe ich in der konstanten Wiederholung des avantgardistischen Willens eine Notwendigkeit und auch eine Art Realisierung des Plans, ohne dem Irrglauben an eine mögliche ideale Gesellschaft aufzusitzen. Ich denke das ist vor allem heute eine wesentlicher Unterschied, da die Fragmentarisierung durchs Internet so deutlich für alle sichtbar zu Tage tritt, sind gewisse Irrtümer zum Stillstand gebracht. Einer dieser Irrtümer wäre gleiches Recht für alle. Dies führt über kurz oder lang zur Möglichkeit der Fragmentarisierung von Lebensentwürfen und Lebensgestaltung, die sich nicht mehr unter die bürgerliche Gesellschaft unterordnen lassen und im weitesten Sinne auch nicht unter den von Hegel proklamierten Staat als der Vernunft Struktur gebendes Gebilde. Die Aussage, es könne keine Avantgarde mehr geben, ist eigentlich ein bürgerlicher Wunsch, den sich das Bürgertum durch die einfache Vereinnahmung der formalen Erscheinung der avantgardistischen Kunstwerke stets von Neuem realisiert. Es ist der Wunsch, die bürgerliche Ordnung möge endlich eine Totale sein, welche der Beunruhigung durch sie in Frage stellende, andere Kräfte, nicht mehr länger ausgesetzt wäre. Es ist die Ordnung einer Ängstlichkeit vor dem Anderen, sie kann nur bestehen, indem andere Ordnungen ausgeschlossen, oder korrumpiert und eingefügt werden. Die Vorsteher der zeitgenössischen Museen sind Bürger, welche bereits in der Gegenwart bestimmen, was ins Archiv gehört und was nicht, was der Betrachtung und Beschäftigung wert ist und was nicht. Parallel dazu die zeitgenössischen Künstler, welche nichts lieber wollen, als schon zu Lebzeiten Werke ins Museum zu bringen und sie so untätig und ungefährlich zu machen. Was im Museum, also in der Sammlung landet, ist in sich geschlossen und der Veränderbarkeit entzogen. Es wird praktiziert, was eigentlich als Irrtum entlarvt ist, dass es nämlich etwas gäbe, was unveränderbar wäre- Sol LeWitts einmal gemachte Aussage, der Künstler müsse jederzeit das Recht haben, seine Kunstwerke zu verändern oder zu zerstören, wird bisher meines Wissens nicht berücksichtigt- es ist der Versuch, die Historie dingfest zu machen, wobei verschiedene Perspektiven nur bedingt berücksichtigt werden. Nun sind wir derzeit sogar an dem Punkt der Kunstentwicklung, indem sich die Utopie der Aufgabe der Kunst in Lebenspraxis insofern realisiert, als der Künstler und sein Arbeitsgebiet zum bürgerlichen Feld erklärt werden. Ich spreche hier von der Akademischen Kunst, deren primäres Ziel es ist, verkäufliche, den Künstler zum Bürger machende zu sein. Auch ist im finanzstarken Kunstbetrieb derzeit weniger von Idealen oder humanen Werten zu sehen, sondern es findet ein Ausleben hochgradig ausdifferenzierter Dekadenz statt, welche in der narzisstischen Selbstbespiegelung zelebriert wird. Nicht ohne Grund sind die Oberflächen so vieler zeitgenössischer Kunstwerke und auch zeitgenössischer Architektur spiegelnd. Wo ein Spiegel ist, wird alles, was nicht unter seinen Schein fällt unsichtbar. Nochmal zurück zur Situation, in der die historische Avantgarde auf den Plan tritt. Was man dabei ebenso nicht vergessen darf, ist das Selektive in der Geschichte, diese wird von den Massgebenden Kräften bestimmt. Es kann also durchaus sein, dass es bereits vor den bekannt gewordenen Avantgarden, Künstler gab, welche im selben Sinne arbeiteten, diese sind aber durch die Raster der selektiven Historie gefallen und uns daher unbekannt. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Kunst bestimmt als der von der Wirklichkeit abgespaltene Raum, Museen waren spätestens seit der französischen Revolution der Ort wo sich die gesamte Bevölkerung dem Kunstgenuss hingeben konnte, die Kunst war, wie Peter Bürger beschreibt, eine Institution geworden, Gott war soeben von Nietzsche tot gemacht, das christliche Dogma, dass es eine wahre Welt gebe und klar definiert Gutes und Schlechtes brach nach mehr als hundert Jahren denkerischer Vernunft Geschichte vollends zusammen. Das Bürgertum heute hält jedoch vor allem politisch noch immer daran fest, was sich beispielsweise im Kampf gegen den Terror zeigt oder in dem hilflos penetranten Versuch, so etwas wie das Copyright aufrecht zu erhalten. Nun stellt sich die Frage, wer war das Bürgertum damals, wer ist es Heute. Ich werde diese Frage nur anschneiden können, da sie mir, wo sie sich nun in meinem Denken so einfach formuliert gestellt hat, gleichzeitig unglaublich umfangreich erscheint. Ich kann mich gut erinnern, als ich Anfang 20 notierte, "also sind meine Grosseltern Kleinbürger." Das zu erkennen war für mich damals sehr eigenartig, da ich mit einem finanziell schwachen Vater ausgestattet, mich selber nicht zum Bürgertum zählen konnte. Nicht weil wir nicht innerhalb des städtischen, gesellschaftlichen Rahmens gelebt hätten, aber dieser Rahmen schien mir durch unsere relative Armut stets brüchig und bedroht. Als kleines Mädchen wurde mir von der Tochter der Vermieter gesagt "sei froh, dass ihr überhaupt hier wohnen dürft." Diese mir implizite Gewissheit, der jederzeit möglichen Abtretung eines Anspruchs "dazu zu gehören", ein Dach über dem Kopf zu haben, hatte es mir bis dahin verunmöglicht mich zum Bürgertum zugehörig zu fühlen, obschon ich sogar zwei Pässe habe. Sieht man den Ursprung des Bürgertums im 16. Jahrhundert innerhalb der Stadtmauern, könnte dies bzw. müsste sich dies heute innerhalb der Landesgrenzen befinden. Und fast genau so heisst es auch: "Eine erste moderne Definition zu den rechtlichen Bestimmungen des Bürgerstandes stammt aus dem Jahre 1794 und findet sich im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR): § 1. Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats unter sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel, noch zum Bauernstande gerechnet werden können, und auch nachher keinem dieser Stände einverleibt sind."(WIKIPEDIA) Ich würde die Erstarkung quasi Bewusstwerdung des Bürgertums mit den Bauernkriegen, also um 1524, in Verbindung bringen, da damals versuchte wurde, in Abgrenzung an die Privilegien des Adels, so etwas wie allgemeine Menschenrechte zu formulieren, historisch wird es später manifest, in der Zeit seiner Ausbildung um Achtzehn Hundert herum, also in Verbindung mit der französischen Revolution. Die Bauernkriege beschränkten sich auf die Schweiz, Deutschland, Österreich und Ungarn, die Trubel der Revolution und vor allem deren Nachwirkungen trugen sich weiter. Und im eigentlichen Sinne gibt es das Bürgertum auch schon im antiken Griechenland, übersetzt mit dem Volk, dem durchaus nicht alle zugehörten. Das Bürgertum hat sich bis heute so ausdifferenziert, dass es sich unter dem Begriff eigentlich gar nicht mehr fassen lässt, heute würde man wahrscheinlich eher von der demokratischen Gemeinschaft, die sich durch Repräsentanten durchsetzt, sprechen. Wer die Personen sind, diese Delegierten der Gemeinschaft, lässt sich dann auch wieder auf das Bürgertum zurück-führen. Mit der Einführung des Grossbürgers, der über erheblich mehr Wohlstand verfügt und somit für seine Bürgerschaft mehr zahlt- heute prägt sich das aus in Form von Steuern- wird eine Person geschaffen, die über leicht verbesserte Zugangsbedingungen verfügt als der Kleinbürger, es wird eine Spaltung ins Bürgertum eingeführt, vergleichbar mit der Bestimmung einer Bourgeoisie. Dazu nochmal Wikipedia: "Es ist umstritten, ob es sich bei dem Großbürgerrecht im eigentlichen Sinn um eine von der sog. kleinen oder normalen Bürgerschaft rechtlich verschiedene Bürgerstellung handelt oder lediglich um eine Handelskonzession. Denn jeder, der in den Städten Handel großen Umfangs betreiben wollte, bedurfte dazu des großen Bürgerrechts.[2] Anders lagen die Dinge in Hamburg. „In Hamburg wurde sehr genau zwischen dem großen und dem kleinen Bürgerrecht unterschieden, und nur wer dank seiner ökonomischen Verhältnisse imstande war, das große Bürgerrecht zu erwerben, verfügte über die uneingeschränkte Handels- und Gewerbefreiheit, durfte in den Senat, die Bürgerschaft und andere Ämter gewählt werden – und das waren nur wenige. Die vermögenden Großkaufleute gaben in den Hansestädten den Ton an.“[3] „Sie sicherten aus eigener Verfügungsgewalt die Macht ihres Standes und ihrer Klasse, grenzten sich in Rang und Habitus gegen die kleinen Kaufleute, die ‚Krämer‘ ab und betrachteten sich mit einigem Recht als Herrscher ihrer Stadt.“[4] • [3]↑ Matthias Wegner: Hanseaten, Berlin 1999, S. 34 • [4] ↑ Wegner, S. 35" Heute wollen wir den Anschein erwecken, dass solche kapitalbedingten Bevorzugungen keine Praxis mehr sind. Es wird suggeriert, jeder habe die gleiche Startbedingung durch die für alle zugängliche Bildung. Das ist in meinen Augen, Augenwischerei. Ich habe vor kurzem einen jungen Mann kennen gelernt, der der standfesten Überzeugung war, es sollte wieder eine Monarchie geben, dann sei wenigstens bekannt, wem man Vorkommnisse zu verdanken habe. Die Augenwischerei einer vorgegaukelten Demokratie, welche komisch aber offenbar mit Gleichheit übersetzt wird, ist längst jedem Gross-, Klein- oder gar nicht Bürger klar. Aber das Bürgertum heisst es weiter, ist ausschlaggebend für die politische Stabilität eines Staates oder einer Staatsgemeinschaft. Im Moment ist diese Stabilität wichtig für ein durch die Länder geschaffenes System und das dreht sich um symbolische Werte. Ich wiederhole, zum Zeitpunkt der historische Avantgarde befand sich die Kunst in einem Autonomiestatus, dazu nochmal P. Bürger bzw. Habermas, den er zitiert (aus J. Habermas "Bewusstmachende oder rettende Kritik - Die Aktualität Walter Benjamnis" in "Zur Aktualität Walter Benjamins" Hrsg. v.S. Unseld (Suhrkamp Taschenbuch, 150). Frankfurt 1972, S. 190): Nun mutet es etwas wunderlich an, dass sich die Avantgarde anschickt, die Kunst wieder in den Dienst des Lebens stellen zu wollen, also in einen Gebrauchszusammenhang. Wie sah diese Forderung aus und an wen richtete sie sich? Wie weiter oben bereits im Rahmen der Aufhebung beschrieben, ging es darum, die Kunst aus der Isolierung der Wirkungslosigkeit heraus in die Erzeugungskraft zu holen. Sie fängt an, indem sie Selbstkritik übt und erst einmal das Kunstwerk vom Körper, vom Genie des Künstlers trennt. Dies geschieht wie bereits erwähnt bei den Dadaisten mittels der Collage, am eindringlichsten dann bei Duchamp. Gleichzeitig verbündeten sie sich mit dem "Arbeiter" gegen den Bürger. Im italienischen Futurismus wurde die Zerstörung der Museen, Akademien und Bibliotheken gefordert und die Künstler des Dadaismus erfanden neue Gedichtformen, die auf Lauten basierten. Auch die Sprache ist letztlich eine Institution und gerade an ihr lässt sich ablesen wie teilweise schmerzlich wandelbar Institutionen bleiben müssen, wenn sie sich erhalten wollen. Dazu ist die Wikipedia Definition aufschlussreich: Als Institution (lat. institutio, „Einrichtung, Erziehung, Anleitung“) wird ein mit Handlungsrechten, Handlungspflichten oder normativer Geltung ausgestattetes Regelsystem bezeichnet, das soziales Verhalten und Handeln von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften in einer Weise konditioniert, dass es für andere Interaktionsteilnehmer vorhersehbar oder zumindest erwartbar ist. Im weiteren Sinne werden unter Institutionen auch feste Einrichtungen verstanden, wie Behörden, Gerichte oder Organisationen. Das nun also die Vorhersehbarkeit in der Kunst kritisierbar ist, würde ich auch heute noch unterstreichen, auch daran liesse sich ablesen, dass die avantgardistische Forderung nach wie vor wach ist oder die Frage stellen, ob die Kunst noch immer Institution ist. Diese Frage ist jedoch schwierig zu beantworten. Im Moment kann wahrscheinlich gar nicht mehr von "der Kunst" gesprochen werden. Das wird spätestens da deutlich, wo Dieter Bohlen bei "Deutschland sucht den Superstar" die Kandidaten als Künstler anspricht. Ich denke nicht, dass ein junges, aufstrebendes, dem medialen Startum verpflichtetes "Gesangstalent" wörtlich direkt mit Michelangelo verglichen werden kann, genau das wird aber heute im Alltag mit dem Begriff Kunst getan. Kunst ist zu einen Becken geworden, indem alles schwimmt was nicht direkt brauch- oder anwendbar ist, manchmal hört man eine ironische Bemerkung wie, "ich weiss nicht was das ist, dann ist es wahrscheinlich Kunst." Auch so könnte man also sagen, die Verbindung von Kunst und Leben hat sich realisiert, jeder kann ein Künstler sein und alles Kunst, was im Auge des Betrachters liegt. Das dem so ist, liegt nicht zuletzt an den Avantgarden und es wäre die Frage aufzuwerfen, in wie fern dieser Umstand den von mir behaupteten Wandel vom gesetzten/vorgegebenen Subjektiven, zum sich selber setztenden Subjektiven begünstigt. Was dies für eine Art Freiheit oder auch Überforderung für das Individuum bedeutet, lässt sich vielleicht anhand des Internet, oder besser des sogenannten web 02 veranschaulichen. Das Netz wie wir es heute kennen, ist ein Medium, was weniger eine hierarchische Struktur hat, sondern es bildet sich durch die daran Beteiligten. Das ist seit dem existieren interaktiver Plattformen wie Facebook oder Myspace offensichtlich, war es aber eigentlich vorher schon, durch die Möglichkeit, dass sich jeder, der sich etwas Platz auf einem Server leisten konnte, die von ihm gewünschten Inhalte im Netz verfügbar machen kann. Der "User" kann nun natürlich auf die Suchergebnisse von Google, das sich im Westen als Marktbeherrscher der Suchmaschinen behauptet, vertrauen und sich einfach jeweils nur die ersten zehn Ergebnisse anschauen, anders liegt der Fall beispielsweise bei einer Musik Plattform namens Soundcloud. Auf Soundcloud können Musiker jeder Couleur, ihre Musik hochladen und für andere verfügbar machen. Die Seite wurde ursprünglich für einen vereinfachten Austausch von Musik entwickelt. Nun ist es auch da so, das Soundcloud, Seiten von Musikern vorschlägt, aber viel eher suchen sich, die so miteinander verlinkten, anhand der "Follower" die Musik, die sie interessieren könnte. Jeder, der auf Soundcloud eine Seite hat, hat die Möglichkeit, andere zu "followen" oder "gefollowt" zu werden. Anhand eines Fotos und des Namens sind diese jeweils am Seitenrand aufgelistet. Durch die schier endlose Anzahl von Seiteninhabern- es wird von drei Millionen gesprochen- könnte man meinen, es würde jedem schnell vergehen bei der Suche, da ausser Foto und Name erstmal keine Angaben vorhanden sind und es auch keine Hitparade oder sonst eine regulierende Anzeige von wichtig oder unwichtig gibt. Aber so wird jeder, der auf Soundcloud Musik sucht, sozusagen zum Musikredakteur und kann seine Auswahl für die anderen zugänglich machen. Dies ist generell verstärkt so im Internet, beispielsweise durch die Tatsache, dass sich Seiten wie Facebook unaufhaltsam übers ganze Netz ausbreiten, in Form von like Buttons, die die Facebook Nutzer betätigen können. Wenn ich davon nun zu Duchamps Ready made gehe, der mit dem Ready made die blosse Selektion des Künstlers von etwas als Kunst in den Vordergrund stellt, und davon zu Beuys, der behauptet "Jeder ist ein Künstler", dann könnte man auf die online Tätigkeiten der vielen Nutzer und gleichzeitig Kreierer, auch einen anderen Blick werfen. Ich will damit nicht sagen, dass es reicht, eine Seite als Beobachter anzuklicken um bereits künstlerisch tätig zu sein und natürlich kann man das auch mit den drei alten Faktoren zur Bestimmung von Kunst nicht so darstellen, nämlich Bildhaftigkeit, ästhetische Erfahrung und Zustimmungsfähigkeit, welche gerade durch den Faktor der Zustimmungsfähigkeit an die Institution Kunst gebunden sind und damit das Bestreben der Avantgarde negieren, diese Institution zu sprengen- die Avantgarde selber, wurde sogar in diese Institution eingeführt-, doch zeigt sich vielleicht genau in dieser redaktionellen Mitbestimmungslust, dass dieser Wille des Menschen als Künstler lebendig ist. Die Betrachter haben von den Künstlern gelernt- wie das auch B. Groys in seinem Buch "Going public" deutlich macht- wie künstlerische Praxis funktioniert, durch Beobachtung, Schulung der Wahrnehmung und die Eigenermächtigung, daraus eine Handlung abzuleiten. Man kann Robert Filliou heranziehen, mit seiner Arbeit "gut gemacht, schlecht gemacht, nicht gemacht", oder Duchamp, der einmal die Kunst mit Gefühlen verglich, indem er sagte, schlechte Gefühle seien, nur weil sie schlecht sind, ja nicht keine Gefühle, was auch auf die Kunst übertragbar sei. So könnte auch meine Behauptung von weiter Oben in Frage gestellt werden, es hätte nicht funktioniert, dass die Betrachter die Forderung der Avantgarde- die Verbindung von Kunst und Lebenspraxis- erfüllt hätten. Vielmehr ist es vielleicht wie bereits erwähnt, unbemerkt vonstatten gegangen und das auch, weil es unter den Künstlern zu allen Zeiten Avantgarde Künstler gibt, welche diese Forderung wach halten. Künstler, die das Bestehende erweitern, und hierarchische Grenzen aufweichen wollen. Die Geschichte der Kunst könnte so betrachtet werden, dass darin ein ständiges Wiederaufkommen des Avantgardistischen Willens beinhaltet ist und die Avantgarde stets wirksam ist. So wären dann auch die Neoavantgarden, wie beispielsweise Fluxus oder Konzeptkunst, als solche Wiederholung mit der grösst möglichen Differenz zu sehen. Es mutet eigenartig an, das zu lesen, da gerade Lucio Fontana uns allen sehr gut materiell bekannt ist, in vielen Museen finden sich seine zerstörten Leinwände, also wieder ein materielles Werk, welches aber eigentlich über sich selber hinausweist. Dass sich die Rezeption von Kunst, vielmehr zu einem geistigen Akt, als zur Kontemplation der materiellen Erscheinung hin entwickelt hat, habe ich schon anhand von Duchamps Ready made veranschaulicht. Auch später, in den Werken der Konzeptkunst, wird dies häufig sehr deutlich gemacht. Nun möchte ich überlegen, ob die Forderung der Avantgarde vielleicht umkehrbar wäre, also nicht das Aufgehen der Kunst in Lebenspraxis, sondern das Aufgehen der Lebenspraxis in Kunst. Schiller hat in seiner Schrift "Über die ästhetischen Erziehung des Menschen" bereits 1794 den Gedanken dargelegt, das vollständigste aller Kunstwerke, wäre der Bau einer politischen Freyheit (Friedrich Schiller "Über die ästhetischen Erziehung des Menschen", P. Reclam jun., Stuttgart 2000, S.9). In seinen Briefen versucht er darzulegen, wie über die ästhetische Erziehung, das Empfindungsvermögen und der Verstand, gleichsam geschult und gebildet werden, wie das freie Spiel der Kunst, welches den "Stoff- und den Formtrieb" gleichermassen anspricht, beide ausbildet, ohne den Einen auf Kosten des Anderen zu bevorzugen. Er spricht eine Balance an und sieht die Kunst als Mittel, zur Veredelung des Charakters. Erst wenn dieser edle Charakter ausgebildet ist, wird der Staat, wie von ihm herbei geschwärmt, ästhetisch, dynamisch und frei sein "-auch das dienende Werkzeug ein freyer Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat..."(ebd. S.123). Und in seinen Schlussworten ist auch die Forderung enthalten, welche sich gut mit meinen Ausführungen zum fiktiven Subjekt welches sich seinen Grund selber setzt, in Verbindung bringen lässt, die fremde Freiheit sich genauso ausbilden zu lassen, wie die Eigene. Schiller kritisierte bereits zu seiner Zeit die Arbeitsteilung und sah in ihr die Gefahr, das Ganze und die Teile, in ein nicht ausgleichbares Ungleichgewicht zu bringen. Diese Gefahr wollte er durch die ästhetische Erziehung bannen und letztlich sprach er vom Künstler Ordnungsübergreifend, brachte den politischen-, wie den pädagogischen- oder mechanischen Künstler ins Visier. "Freyheit zu geben durch Freyheit, ist das Grundgesetz dieses Reiches" (ebd. S. 120), und es scheint fast, als hätte er den oben beschriebenen Zirkeln- die eher nicht zu den einfachen Bürgern zählten- damit manipulativ schmeicheln wollen, indem er unterstellt, sie könnten bereits soweit sein, ihre eigene Freiheit nicht durch die Einschränkung der Freiheit anderer zu erhalten. Es ist nicht möglich im Rahmen diese Texts näher darauf ein zu gehen, ob dies geschehen ist. Aktuelle politische Ereignisse aber, lassen auf jeden Fall nicht darauf schliessen, wir wären dem von Schiller beschriebenen grössten Kunstwerk wahrer politischer Freiheit näher geraten. Gerade die Selbstermächtigung westlicher Mächte zur Justiz über andere, lässt eher das Gegenteil vermuten. Und wenn der Staat das Gebilde sein sollte, was der Vernunft Struktur gibt, zweifle ich derzeit am Verständnis dieser Vernunft. Die gegenwärtige Situation macht einmal mehr deutlich, wie wichtig künstlerische Avantgarden sind, sich in die Aktualität der Ereignisse einzumischen, zur Wahrheitsbildung beizutragen. Wie es allerdings stets war, wurden diese Avantgarden zu ihrer eigenen Zeit nicht von vielen, sondern nur von Wenigen gesehen und in ihrer Bedeutung erkannt. Wo sich diese heute finden lässt, kann ich nicht sagen, ich gehe aber davon aus, dass sie abseits des Kunstbetriebs, bzw. in dessen prekären Nischen zu finden sein müssten. Der Betrieb ist Institution und integriert seine Gegner erst dann, wenn von ihren Ansprüchen keine Gefahr mehr ausgeht. Oder, die uns heute näher gebrachten sogenannten Avantgarden, auch die, die ich beschrieben habe, sind gar keine wirklichen, weil sie sich so mühelos in die Institution einfügen lassen. Die Fiktion, des Subjekts was sich seinen Grund selber bildet, was bildend auf seine Lebensrealität einwirkt, indem es eigene Grundsätze und Verbindlichkeiten für sich hervor bringt und mit anderen austauscht, kann sich nur da realisieren, wo Hierarchien abgebaut sind. Im Kunstbetrieb ist das nicht der Fall, sondern wird sogar gerade durch die Produktion von "Künstlerstars" und hoch dotierten Kunstwerken noch gestärkt. Aber die Einsicht vieler, dass dies Umstände kreiert sind, um eben genau Hierarchien zu erhalten, führt möglicherweise dazu, dass ein neues Selbstbewusstsein erwacht, welches sich von solchen Hierarchien nicht klein halten lassen will. Die künstlerische Avantgarde von Heute, müsste sich also vor allem der Angst annehmen, die in jedem kleinen Staatsmitglied geschürt wird, es könnte etwas verlieren, wenn es sich nicht an vorgegebene Ordnungen anpasst, wenn es versucht neue Ordnungen zu bilden. Dies ist nicht der Fall, es kann jedoch etwas gewinnen und das ist die Souveränität über sein Selbst. Das Internet ist einer der Orte, wo diese Souveränität spielerisch geübt werden kann, solange man sich nicht dem Zwang zur "Authentizität" preis gibt. Ich habe viel ausgelassen, was meine Überlegungen zur Avantgarde und der Realisierung der Kunst, noch hätte bereichern können. Generell würde mich der Einfluss der Musik auf die bildende Kunst interessieren und die Vermischung der Gattungen überhaupt. Auch das war ein Kennzeichen der meisten Avantgarden und lässt sich auch heute bei vielen Künstlern beobachten, wie beispielsweise bei Miranda July. Gerade Frauen sind wahrscheinlich dazu prädestiniert, die Grenzen aufweichen zu wollen, da sie noch stärker als Männer mit Grenzen konfrontiert sind. Auch das ist ein Punkt den man in Bezug auf die Avantgarde näher beleuchten könnte, inwiefern und wann die Avantgarde auf den Plan trat oder treten wird, welche die Institution der Geschlechter aufbrach/-bricht, und ob diese dann genau wie künstlerische Avantgarden im Verlauf der Historie, wieder in die Institution eingeführt werden, bzw. ob solche Brüche die Institution verändern. Wie die Kunst den Handlungsspielraum setzt, habe ich insofern aufzuzeigen versucht, als das die Künstler selber, die Entwicklung der Kunst bestimmen. Der Künstler sollte mit dem Aufkommen der Idee der Autonomie der Kunst von jeglicher Auftragslage befreit sein. Für Schiller war die Autonomie der Kunst grundlegend, er sah die Reflexion als das erste liberale Verhältnis zur Welt. Die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis, bedeutet nun nicht, dieses liberale Verhältnis aufzugeben, sondern, das eigene Leben selbst, in ein freies Verhältnis zur Welt zu bringen. Das eigene Leben hat das Potential, sich selber hervor zu bringen und steht nicht im Dienst eines Gottes, einer Macht von Aussen oder sonst einer auferlegten Bestimmung. Diese Einsicht, sofern es sich denn wirklich um eine Einsicht handelt, bedeutet, sich seinen Handlungsspielraum selbst zu setzen, und so auch für sich selbst zu bestimmen, welche Wichtigkeit scheinbare Zwänge, wie Geld oder Anerkennung für das eigene Leben haben, sie macht das Individuum zu einem freien Subjekt im Verhältnis zur Welt. Auch meine Fiktion habe ich noch zu wenig ausgeführt und mir wurde gesagt, meine Fiktion des Menschen, der sich seinen Grund selber gibt und den Anderen dadurch nicht bedrohe, sei utopisch, was heute und immer schon das gleiche heisst, wie; nicht in dieser Welt realisierbar. Ich bestehe jedoch auf dem fiktiven Potential, der Möglichkeit der Friedfertigkeit gegenüber Unterschieden und werde daran weiter arbeiten.
© Copyright 2024 ExpyDoc