„Jetzt das Leben genießen“: Kunst für Menschen mit Demenz

Foto: Arthur Schall, Goethe-Universität Frankfurt
Parlando
Kunstvermittler führen Artemis-Projektteilnehmer durch das Städel Museum Frankfurt am Main
„Jetzt das Leben genießen“:
Kunst für Menschen mit Demenz
Das Artemis-Projekt im Frankfurter Städel Museum
Das Gemälde am hinteren Ende des blauen Saals ist sinnlich und morbide zugleich.
In opulenter Fülle sind tote Fische in unterschiedlichen Farben und Größen auf einem Holztisch drapiert. Sie wirken frisch,
ihre Schuppen glänzen. „Welche Gegenstände sehen Sie auf dem Bild?“, will
Kunsthistoriker Pascal Hess von seinen
Zuhörern im Städel Museum wissen. Das
Thema seiner Führung ist „Stillleben“ –
von Werken niederländischer Meister des
17. Jahrhunderts bis hin zu Arbeiten der
Moderne. Margarete W. entdeckt ein Gefäß aus Holz. „Was ist das?“, fragt Hess
nach. Ingrid P. legt ermunternd den Arm
um ihren Mann Walter, der vom Rollstuhl
aus das Ölgemälde von Jacob van Es betrachtet. „Ein Eimer“, gibt sie an seiner
Stelle zur Antwort. Reimert W. zählt die
abgebildeten Fischarten auf: Scholle, Aal,
Teilnehmer gesucht
Für das Jahr 2015 sind weitere Führungen geplant, für die noch Teilnehmer gesucht werden. Die Teilnahme an Artemis
ist für die Studienteilnehmer kostenfrei.
Informationen im Internet unter www.
staedel.de. Anmeldung und Auskünfte
zum Projekt:
Dr. rer. med. Dipl-Psych. Valentina Tesky
und Dipl.-Psych. Arthur Schall M. A.
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Institut für Allgemeinmedizin
Arbeitsbereich Altersmedizin
216 | Hessisches Ärzteblatt 4/2015
Fon: 069 6301-83621 und -7657
E-Mail:
[email protected]
furt.de;
[email protected]
furt.de.
Übrigens: Auch die Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim bietet Kunstführungen für Menschen mit Demenz an.
Informationen unter http://www.opelvil
len.de/service/aeltere-menschen/
Kabeljau… Seine Frau Margarete muss sich
erst auf den Namen des Fisches besinnen,
den sie erkannt hat: „Lachs“, sagt sie
schließlich.
Beide Paare gehören zu einer aus vier Demenzpatienten und je einem begleitenden
Angehörigen bestehenden Gruppe, die
Hess durch die Ausstellungsräume des Museums führt. Welcher Partner ist erkrankt?
Die Antwort erschließt sich nicht auf den
ersten Blick, da unterschiedliche Demenzstadien – von leicht bis mittelschwer – vertreten sind. Im Sommer 2014 haben der
Arbeitsbereich Altersmedizin am Institut
für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt unter der Leitung von Prof.
Dr. med. Johannes Pantel und das Frankfurter Städel Museum ein bis März 2016
als Pilotstudie angelegtes psychosoziales
Forschungsprojekt für Menschen mit Demenz gestartet. Im Oktober 2014 begann
die praktische Umsetzung mit den ersten
beiden Gruppen. Nach Auskunft der Wissenschaftler ist Artemis (Art Encounters: a
Museum Intervention Study) die erste randomisierte und kontrollierte Studie zum
Einfluss von Museumsbesuchen, zur inter-
aktiven Kunstvermittlung und den therapeutischen Möglichkeiten von Kunst bei
Demenz im deutschsprachigen Raum.
Knapp zwei Jahre lang werden 120 Teilnehmer – Demenzkranke und Angehörige
– beobachtet.
sie. „Aber das Thema, ach....!“– mitten im
Satz bricht der Redefluss ab. „Sie meinen
die Vergänglichkeit?“, wirft Hess ein. Francesco C. nickt. Joelle, seine Frau, streichelt
ihm über den Arm. Einer von vielen berührenden Momenten an diesem Nachmittag.
Zu kreativem Gestalten anregen
Gemeinsam Freude empfinden
„Wir haben ähnliche Projekte gesichtet,
Fehler korrigiert und eigene Ideen entwickelt: Daraus ist Artemis entstanden“, erzählt Dr. rer. med. Dipl.-Psych. Valentina
Tesky vom Frankfurter Institut für Allgemeinmedizin. Im Rahmen des Projekts soll
mithilfe einer Interventionsgruppe und einer Kontrollgruppe untersucht werden,
wie sich die Beschäftigung mit Kunst und
kreativem Gestalten auf das Wohlbefinden der Erkrankten und die Beziehung zu
den betreuenden Angehörigen auswirkt.
Sechs Wochen lang nehmen sie einmal
wöchentlich an den thematischen Führungen durch extra geschulte Kunstvermittler des Städel Museums teil und werden in
den Atelierräumen zu kreativem Gestalten
angeregt. Die Arbeiten mit Ton, Collagen
und einfachen Drucktechniken erfordern
keine künstlerischen Vorkenntnisse.
Vor und nach dem Museumsbesuch werden
in einer Kurzbefragung Daten zur Stimmung und zum Gedächtnis der Menschen
mit Demenz erhoben. Auch die Angehörigen erhalten einen Fragebogen. In der Interventionsgruppe werden außerdem bei jedem Atelierbesuch Ausschnitte des gemeinsamen kreativen Schaffens streng vertraulich videografisch dokumentiert und in Bezug auf Kommunikationsfähigkeit, Wohlbefinden und emotionales Ausdrucksverhalten
einzelner Teilnehmer ausgewertet. Ziel des
Projekts ist es, durch Kunstbetrachtung die
erhaltenen Fähigkeiten von Menschen mit
Demenz zu wecken und zu fördern.
Bildwechsel: Die Gruppe um Pascal Hess
hat sich vor Weenix’ Stillleben „Toter Hase
und Vögel“ eingefunden. Wieder fragt der
Kunsthistoriker, was auf der Leinwand abgebildet sei. Unruhig bewegt Francesco C.
seine Hände und sucht nach Worten: „Un
capretto“ (ital.: ein Zicklein) sagt er nach
längerem Zögern. Doch plötzlich, so als
sei ein Damm gebrochen, fließen die Sätze
über seine Lippen. Maler wie dieser seien
Metzger gewesen, empört sich der Italiener. Tote Tiere malen, das sei keine Fanta-
„Eine Demenzerkrankung ist weder Todesurteil noch das Ende einer Partnerschaft“,
sagt Dipl.-Psych. Arthur Schall, M.A., der
das Projekt gemeinsam mit Tesky betreut
und die Gruppe an diesem Tag begleitet.
„Natürlich ist es auch für den gesunden
Partner nicht leicht, die Demenzerkrankung des anderen zu akzeptieren. Auch
der Alltag verändert sich. Vieles, was früher selbstverständlich war, geht nicht
mehr.“ Dennoch könne ein Paar weiter gemeinsam Freude empfinden. Der kreativtherapeutische Ansatz mache alternative
Kommunikationsformen möglich. „Die
Nachmittage in der Gruppe bedeuten nicht
nur eine anregende Abwechslung, sondern
erzeugen zugleich ein Gemeinschaftsgefühl, das dazu beitragen kann, die Isolation
im Alltag aufzubrechen“, erklärt der Psychologe und Musikwissenschaftler Schall,
der auch Kunstgeschichte studiert hat.
Interessiert folgen die vier Paare Hess in einen weiteren Ausstellungsraum und bauen
ihre Klappstühle vor einem Werk Max Beckmanns auf: „Stillleben mit Saxophonen.“
„Was hat der Künstler gemalt?“, fragt
Hess. Aufmerksam betrachtet Margarete
W. das Bild, denkt eine Weile nach und
sagt. „Musik.“ Auch andere inspiriert das
Sujet zu Reaktionen. „Die Roaring Twenties“, kommentiert Francesco C., und Walter P. glaubt, dass Beckmann Jazzmusik
gemocht habe. Die sonst eher stille Margarethe K. lächelt: Ja, ihr gefalle das Bild.
„Für mich ist mein Mann nicht
dement“
Er habe durch einen Zeitungsbericht von
dem Projekt erfahren, sagt Dieter B., der
seine Mutter zu den Terminen begleitet.
„Mein Mann ist in einer Selbsthilfegruppe
für Alzheimer-Patienten auf Artemis aufmerksam gemacht worden, deshalb sind
wir hier“, erzählt Joelle F., die wie Francesco C. offen über seine Erkrankung spricht.
Bemerkbar mache sich diese durch Wort-
Foto: Arthur Schall, Goethe-Universität
Parlando
Artemis-Projektteilnehmer bei der kreativen Arbeit mit Kunstvermittlern in den Atelierräumen
des Städel Museums Frankfurt
findungsstörungen; vor einem Jahr sei die
Diagnose gestellt worden. „Für mich ist
mein Mann nicht dement, bis dahin ist es
noch ein langer Prozess. Es ist sehr wichtig, dass die Menschen dies begreifen.“
Im Atelier herrscht eine entspannte und
fröhliche Atmosphäre: In dieser Woche
sollen die Teilnehmer der Gruppe Drucke
herstellen. Dafür werden zunächst mit
dem Bleistift Bilder in Styroporplatten
geritzt, die Platten anschließend mit Farbe bestrichen und zuletzt auf eine Leinwand gedruckt. Blumenvasen, Autos,
Häusersilhouetten, Früchte – die Motive
sind so unterschiedlich wie die Teilnehmer selbst. Joelle F. hat einen Tisch mit
Weinglas und einem Kochtopf gezeichnet, Francesco C. einen Garten: „Er blüht.
Aber wie lange? Für mich ist die Erde
wichtig; dort komme ich später hin“, sagt
der ehemalige Lehrer für Geschichte und
Italienisch. „Wie lange kann man mit dieser Krankheit leben? Zehn, fünfzehn Jahre? Ich weiß es nicht, daher muss man
jetzt das Leben genießen.“
Katja Möhrle
Filmtipp: Still Alice
Es kann jeden treffen. In der Regel sind
es Menschen höheren Alters, die mit
der Diagnose Alzheimer konfrontiert
werden. Doch in Richard Glatzers und
Wash Westmorelands einfühlsamer Annäherung an die Krankheit versucht die
erst 50-jährige Linguistik-Professorin
Alice Howland (Julianne Moore), sich
gegen das Entgleiten der eigenen Identität zu stemmen. Das bemerkenswerte
moeh
Kino-Drama läuft seit März.
Hessisches Ärzteblatt 4/2015 | 217