Leseprobe - Aufbau Verlag

Zeno Diegelmann
Kaltengrund
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Zeno Diegelmann,1974 in Fulda geboren und dort
aufgewachsen, lebt und schreibt in Frankfurt am Main.
Er hat das Libretto für das Erfolgsmusical »Bonifatius«
geschrieben. Unter dem Namen Tim Boltz veröffentlichte er unter anderem die humoristische BestsellerTrilogie »Weichei«, »Nasenduscher« und »Linksträger«.
Bei Aufbau Taschenbuch erschienen die ersten beiden Rhön-Kriminalromane mit dem Helden Klaus
Seeberg unter den Titeln »Rhönblut« und »Finsterhain«.
Kommissar Seeberg und seine Kollegin, die Polizeipsychologin Franziska Hellmich, werden nach einem
Autounfall mitten im verschneiten Wald von der jungen Katrin Dänner gefunden. Sie gibt ihnen Hinweise
zu dem Fall eines toten Ost-Grenzers in der Rhön. Ausgerechnet ihr Vater scheint mehr zu wissen, denn er
war am Tag, an dem die Leiche gefunden wurde, mit
seinen Freunden zur Bockjagd in dem Grenzstreifen
aufgebrochen. Was erst wie ein Unfall aussieht, entpuppt sich schließlich als grauenhaftes, eiskalt geplantes Verbrechen.
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ZENO DIEGELMANN
EIN RHÖN-KRIMI
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ISBN 978-3-7466-3187-5
Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
1. Auflage 2015
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2015
Umschlaggestaltung www.buerosued.de, München
unter Verwendung eines Motivs von Jorn Areklett Omre, Plainpicture
Satz LVD GmbH, Berlin
Druck und Binden CPI books GmbH, Leck, Germany
Printed in Germany
www.aufbau-verlag.de
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»Schau zu mir herunter, du wirst einen Idioten sehen.
Schau zu mir hoch, du wirst deinen Gebieter sehen.
Schau mich direkt an, du wirst dich selbst sehen.«
Charles Manson, Serienmörder
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Prolog
Immer wieder stach er die Heugabel in das trockene
Stroh, welches auf der Schubkarre angehäuft vor ihm
lag. Die einzelnen Spitzen bohrten sich tief hinein.
Dann verteilte er es quer über den Boden der Stallung.
Staub wirbelte auf und ließ um ihn herum Wolken von
kleinen Partikeln durch die Luft tanzen, die in seiner
trockenen Kehle kratzten. Er atmete schwer, richtete
sich auf und hielt inne. Hier im Schweinestall war die
Sommerhitze wegen des einfachen Dachstuhls gar
noch schwerer erträglich als draußen in der prallen
Sonne. Das Dach spendete zwar Schatten und schützte
die empfindliche Oberhaut der Schweine so vor den
direkten Sonnenstrahlen, doch vermochte das einfache
Gewerk nicht die stickige Luft draußen zu halten.
Schweiß trat ihm auf die Stirn und tropfte von seiner
Nasenspitze herab ins Stroh.
Er hielt einen Moment inne und stützte sich auf der
Heugabel ab, während sich sein Brustkorb bei jedem
Atemzug hob und senkte. Es war eine schwere Arbeit,
die sich täglich in ewiger Monotonie wiederholte. Mit
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der geübten Routine von vielen Jahren erledigte er die
Arbeit ohne ein einziges Murren. Im Gegenteil, die
stoische Tätigkeit war für ihn mittlerweile weit mehr
als das nötige Tagewerk, sie war zu einer Art Meditation geworden. Seine Gedanken zerstreuten sich dabei
ebenso wie das Stroh. Die Schweine quittierten die
kurze Unterbrechung ihres gewohnten Ablaufs mit lautem Grunzen und Quieken und wuselten um seine
Beine herum. Mit einem Tritt vertrieb er die Viecher,
griff nach einem Blecheimer und schüttelte einige
wurmstichige Äpfel und Essensreste in den Verschlag.
Sogleich stieg der Geräuschpegel und die Tiere machten sich über das Futtergemisch her. Mit Wohlwollen
sah er, wie sie binnen kürzester Zeit alles verschlangen,
bis nichts mehr davon übrig war.
»So ist’s recht.« Er nickte und sammelte dabei mit
Schaufel und Heugabel das mit Fäkalien verdreckte
Stroh der Tiere im Nachbarverschlag auf, um es auf die
nun leere Schubkarre zu laden. Nachdem er auch den
letzten Verschlag so gesäubert hatte, schob er die Karre
hinaus zum Misthaufen, der sich in der Mitte des Hofs
türmte. Mit einem schwerfälligen Ächzen wuchtete er
die Schubkarre am hinteren Ende nach oben und entleerte den stinkenden Inhalt.
Sein Rücken schmerzte und er sah hinauf. Die Sonne
stand im Zenit und strahlte mit ihrer ganzen Kraft vom
wolkenlosen Himmel. Es war so heiß, dass alles Leben
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auf dem Hof wie in Zeitlupe vonstattenging. Selbst die
Wipfel der umliegenden Bäume bewegten sich keinen
Millimeter und sehnten sich nach jedem noch so lauen
Lüftchen, in dem sie ihre Äste und Zweige wiegen
konnten. Doch es war windstill und die Luft schien zu
stehen.
Er stellte die Schubkarre im Hof ab. Atmete tief
durch und füllte seine Lungen mit Sauerstoff. Er griff
in seine Hosentasche, holte ein Stofftaschentuch heraus und tupfte sich damit den Schweiß von der Stirn.
Dann schlug er die Ärmel seines Hemds auf und ging
hinüber zu dem Wasserbottich, der im schattigen Eck
hinter der Scheune stand. Langsam tauchte er seine
Arme bis zu den Ellenbogen ins kühlende Nass und
schloss für einen Moment die Augen. Die Frische
brannte wie kleine Nadelstiche auf seiner Haut. Er
wusch sich die Hände und das Gesicht und schüttelte
das Wasser nachlässig von seinen Armen. Er streckte
seinen Rücken, bis ein Wirbel seiner Brustwirbelsäule
knackte, der ihm seit einigen Wochen zu schaffen
machte. Erneut nahm er sein Taschentuch hervor,
schnäuzte sich und ging schließlich über den Hof hinüber zum Wohnhaus und trat ein.
Die Tür knarzte, und die Dielen knirschten unter
dem Gewicht seines Körpers, als er in die Küche trat.
Er goss etwas Wasser in ein Glas und trank es in einem
Zug aus. Im Anschluss nahm er aus der Speisekammer
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eine grobe Wurst von der Stange, die er selbst hergestellt hatte, und prüfte mit seinen Fingern, ob sie durch
das Trocknen schon die gewünschte Härte erreicht
hatte. Zufrieden mit dem Ergebnis nahm er sie, griff
nach einem Messer in der Schublade und füllte sein
Glas erneut mit Wasser. Dann platzierte er alles zusammen auf einem Holzbrett und ließ sich auf einen der
Stühle in der Stube nieder. Auch wenn es gerade erst
Mittag war, war er doch schon seit mehreren Stunden
auf den Beinen und hatte den Großteil seiner Arbeit
bereits erledigt. Erst am Abend würde er noch einmal
in den Stall gehen, um nach dem Rechten zu sehen.
Bis dahin galt es, die Reste der letzten Schlachtung zu
verarbeiten. Frisches Fleisch und hauptsächlich Wurstwaren sicherten der Familie schon seit Jahrzehnten ihr
Auskommen. Geräucherte und luftgetrocknete Wurst,
die sie am Stück oder kringelweise verkauften und für
die ihre Hausschlachtung bekannt war. Nicht wenige
Kunden aus der Stadt kamen nur deswegen auf die
Märkte in der Region. Zufrieden nippte er an dem
Wasserglas, stellte es vor sich auf den massiven Holztisch und schnitt sich ein Stück der groben Bauernwurst ab. Genüsslich kaute er darauf, schluckte es hinunter, trank den Rest des Wassers. Er stieß auf und
lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Dann erst sah er auf. Sein Blick wanderte hinüber zu
den beiden Stühlen an den Kopfseiten des Tisches in der
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Stube. Regungslos und stumm saßen sie ihm dort gegenüber und starrten ihn an. Sein Vater und seine Mutter. Endlich. Sie hielten die Schnauze. Gaben keine Widerworte mehr. Darauf hatte er sein ganzes bisheriges
Leben gewartet. Sechzehn lange Jahre. Sechzehn Jahre
der Unterdrückung, des nicht Genügens und der Missachtung. Diese Zeit war nun ein für allemal vorbei.
Zufrieden stand er auf und trat breitbeinig vor sie.
Mit vorwurfsvollem Blicken musterte er sie von oben
herab. Zuerst überlegte er noch, ob er einen giftigen
Spruch in ihre Richtung abgeben sollte, doch dann
grinste er lediglich und wandte sich wieder ab. Ein seltsames Geräusch drang an sein Ohr. Seine Augen wanderten nach unten. Der Boden klebte unter seinen
Schuhen, und er konnte sie nur schwer von der halbgetrockneten dunklen Masse lösen, in der er stand. Genervt schüttelte er den Kopf, ging in Richtung der
Haustür. Die Dielen knarrten bei jedem Schritt, und
seine Schuhsohlen hinterließen eine rote Spur aus Blut
auf dem Holzboden. Es war Zeit, in die Schlachtkammer zu gehen und den letzten Teil seiner Arbeit vorzubereiten.
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