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Autor:
Raith, Markus.
Titel:
Gregs Tagebuch. Vom Comic-Roman zum Film.
Quelle:
Josting, Petra / Dreier, Ricarda (Hgg.): Lesefutter für Groß und Klein.
Kinder- und Jugendliteratur nach 2000 und literarisches Lernen im medienintegrativen Deutschunterricht. kjl&m 14.extra. München 2014, S.
115-123.
Verlag:kopaed.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Die Zahlen in eckigen Klammern kennzeichnen das Seitenende der Originalausgabe.
Markus Raith
Gregs Tagebuch
Vom Comic-Roman zum Film
Die spezifische Qualität von Gregs Tagebuch
Ein Hollywood-Film im Deutschunterricht? Noch dazu ein äußerst erfolgreicher, der
auf einem genauso erfolgreichen Comic-Roman beruht? Ist das – um ein spezifisch
deutsches Deutungsmuster aufzugreifen – nicht zu flach? Wäre es nicht sinnvoller,
anspruchsvolle, vielleicht auf europäischer Ebene preisgekrönte Jugendfilme zu behandeln?
Hier soll die These vertreten werden, dass Gregs Tagebuch durchaus didaktisches
Potenzial hat, einmal ganz abgesehen von seinem Unterhaltungswert, der nicht gering
zu schätzen ist und in unseren Nachbarländern auch nicht gering geschätzt wird.1 Der
Unterhaltungswert des Hollywood-Films (vgl. Uka 2006) kann aber auch dazu beitragen, die hierzulande so lange gepflegte Einteilung in U und E, also Unterhaltung und
Ernsthaftigkeit, infrage zu stellen und dem Eindruck entgegenzuwirken, dass man im
Unterricht irgendwie wertvolle Bücher und Filme behandle, privat aber ganz andere
Themen und Formate, etwa Hollywood-Filme rezipiere; dass also schulischer Lektürekanon und individuelle Lese- bzw. Sehgewohnheiten nichts miteinander zu tun hätten
(vgl. Maiwald 2008).
1Vgl. well made play und pièce bien faite. Neben diesen kulturspezifischen Unterschieden in der
Produktion und Rezeption gibt es –w wie Mathis Kepser (2008, 23f.) feststellt – im Fremdsprachenunterricht Englisch und Französisch keine Scheu vor Publikumsmagneten und Blockbustern,
während im Deutschunterricht noch immer die Literaturverfilmung dominiert. In diesem Kontext
wären sicherlich Impulse aus den fremdsprachlichen Fachdidaktiken nützlich, die sich ja auch mit
dem Film, aber unter einem anderen Blickwinkel, beschäftigen.
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Die Qualität von Gregs Tagebuch – und mithin auch sein didaktisches Potenzial – zeigt
sich vor allem daran, wie er die altbekannten Figuren und Themen des HighschoolFilms aufgreift und variiert: die Geschlechterbeziehungen, das Verhältnis Individuum/
Gruppe (in diesem Fall Schulklasse, peer group u. ä.), den Umgang mit Emotionen,
eben all das, was zur biographischen Herausforderung des Erwachsenwerdens und
der schulischen Sozialisation gehört. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Verhältnis
von Buchvorlage und Verfilmung. Denn Elemente des Comics werden immer wieder
und von Anbeginn in den Film integriert und tragen so einerseits zu einer augenzwinkernden Derealisierung des Geschehens und in rezeptionsästhetischer Hinsicht zu
einer wiederholten Suspension der filmischen Illusionierung bei. Andererseits gestatten sie, die erzählte Geschichte mit Witz, Ironie, Sarkasmus, aber auch mit Klamauk
und slapstick zu versehen, so wie dies in einem bloß realistischen Film auf diese Weise
nicht möglich wäre. [115]
Diese spezifische Qualität von Gregs Tagebuch zeigt sich vor allem dann, wenn man
ihn mit deutschen Kinder- und Jugendfilmen vergleicht, die im selben Zeitraum entstanden sind und sich ebenfalls des Themas Schule als Sozialisationsinstanz und somit
auch als Ort sozialer Konflikte annehmen – im engeren oder weiteren Sinn. Drei seien
hier herausgegriffen: Paulas Geheimnis, Blöde Mütze und Prinz und Bottel. Diese Filme
ähneln sich alle in einem Punkt und unterscheiden sich hierin wesentlich von Gregs
Tagebuch. Alle drei Filme erzählen vom Aufeinandertreffen von Kindern bzw. Jugendlichen aus höchst unterschiedlichen sozialen Milieus, plakativ gesagt: aus Unterschicht
und Oberschicht. Alle drei Filme demonstrieren eine mehr oder minder gelungene
soziale Versöhnung, zeigen also, dass die jeweiligen Milieus sich trotz aller Unterschiede annähern und schließlich anfreunden. Im Falle von Paulas Geheimnis gerät dies
bisweilen zu einer unfreiwilligen Parodie. Es nähern sich nicht nur die Oberschichtentochter und der Hausmeistersohn an, beide befreunden sich auch noch mit Kindern,
die einer offensichtlich balkanischen2 Diebesbande angehören, von den Erwachsenen
in die Kriminalität gezwungen und schließlich von den beiden Schülern befreit werden. Hinter allen drei Filmen scheint sowohl der Wille nach politischer Korrektheit zu
stehen, als auch die rousseauistisch anmutende Idee vom guten Naturwesen Kind,
das sich mit seinesgleichen versteht, sind nur einmal die sozialen Masken gefallen. Im
Falle von Blöde Mütze und Paulas Geheimnis wird dabei ausgiebig auf Darstellungstechniken des romantisch-poetischen Erwachsenenfilms zurückgegriffen.
Gregs Tagebuch ist politisch nicht korrekt. Hier prallen soziale Milieus und unterschiedliche Individuen aufeinander und diese Konflikte werden auch am Ende nicht
oder nur teilweise aufgelöst. Vielmehr zeigt der Film humoristisch, bisweilen sarkastisch, wie und welche Strategien Jugendliche entwickeln, um in der Arena Junior High2 Im Film wird die Diebesbande, sowohl im Hinblick auf ihr Verhalten als auch auf ihre äußere Erscheinung, sehr stereotyp dargestellt und fügt sich so in den Rahmen dessen, was die bulgarische
Historikerin Maria Todorova in Anlehnung an Edward Said als Balkanismus bezeichnet hat. Dies ist
vor dem Hintergrund aktueller Debatten etwa über sog. Armutseinwanderung aus Rumänien und
Bulgarien umso problematischer.
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school zu bestehen. Dazu ein Beispiel: Als Greg von einem älteren Jungen beleidigt
wird (0:16:27), tröstet er sich mit einem imaginativen Zukunftsszenario: „In 20 Jahren
wird dieser Quentin für mich schuften” hören wir ihn sagen und sehen dazu eine hyperrealistische, bewusst übertriebene und in ihrer Künstlichkeit ausgestellte Szene, in
der ein mittlerweile arrivierter, erwachsener Greg am Pool eben diesen Jungen – auch
er mittlerweile ein Mann – für sich schuften lässt. Einerseits wird diese Szene filmästhetisch als Phantasie markiert (beide sprechen noch mit ihren Jungenstimmen),
andererseits tritt hinter den Revanchegelüsten des Jungen ein sozialer Mechanismus
zutage, der nicht nur in den USA sein reales Pendant findet.
Noch ein zweites Beispiel: Soziale Rangordnungen zeigen sich in der Highschool an
der Verteilung der Sitzplätze beim Essen in der Kantine. Greg gehört als Debutant
zu jenen, die noch nicht einmal einen Stuhl haben, sondern auf dem Boden essen
müssen. Die soziale Drastik dieser Szene wird aber humoristisch relativiert, indem
(0:15:42) im Film auf den Comic rekurriert wird und Greg die Seiten mit dieser Szene einfach herausreißt und in den Papierkorb wirft – was an seiner Situation freilich
nichts ändert. Es handelt sich also nicht um einen simplen Eskapismus, sondern um
eine Strategie im Umgang mit Enttäuschungen. [116]
Das Wechselspiel der Gattungen und Medien als besonderes Potenzial
Das genannte Beispiel illustriert ein zentrales Gestaltungsprinzip des Films, das auch
sein besonderes didaktisches Potenzial ausmacht: Intermedialität und das Spiel mit
den Gattungen. Zunächst zur Buchvorlage. Jeff Kinneys Bestseller enthält bereits
paratextuell drei verschiedene Gattungsangaben: das titelgebende Tagebuch und den
Comic-Roman, ein Kompositum, das zwei verschiedene narrative Gattungen zusammenbringt. Diese Hybridität setzt sich im Inneren fort. Formal wird auf das Tagebuch
rekurriert, indem es datierte Einträge gibt, die handschriftlich auf liniertes, als Tagebuch vorgefertigtes Papier geschrieben sind. Der eigentliche Text ist von einzelnen
Cartoons durchsetzt, die auf ihn Bezug nehmen. Sie bestehen aus extrem stilisierten
Figuren, auf Raumgestaltung wird weitgehend verzichtet. Die Schrift in den Sprechblasen ist durchweg in Großbuchstaben, unterscheidet sich also signifikant vom Fließtext
des Tagebuchs.
Zunächst verwirrend, aber gerade deswegen didaktisch ergiebig, ist die Zuordnung
der Gattungsangaben. Bei Gregs Tagebuch handelt es sich nicht im strengen, poetologischen Sinne um einen Comic und noch weniger um einen Roman. Es wäre also die
Frage zu stellen, was das Tagebuch denn mit dem Comic zu tun hat bzw. was an ihm
romanhaft ist oder sein soll. Und natürlich wäre auch die Frage nach den narrativen
Leistungen dieser ungewöhnlichen Kombination von Gattungen bzw. Gattungsangaben zu stellen. Hinzu kommt, dass der erste Eintrag des Tagebuchs lautet: „Zuerst will
ich etwas klarstellen: Das sind meine Memoiren und KEIN Tagebuch. Ich weiß, auf
dem Umschlag steht etwas anderes, aber als meine Mom das Ding besorgt hat, habe
ich ihr EXTRA gesagt, nichts zu kaufen, auf dem „Tagebuch” steht.” (Kinney 2008, 1)
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Kinney variiert hier einen alten literarischen Topos: die Anrede an den Leser und die
Relativierung von Rezeptionserwartungen. Zudem erweist sich der Tagebuchschreiber
gleich zu Beginn als unzuverlässiger Erzähler, legt man diese narratologische Kategorie
an. Und schließlich wird hier eine vierte Gattung ins Spiel gebracht, die Memoiren als
besondere Form des erzählten Lebens.
Dieses Spiel mit den Gattungen wird auch in der Verfilmung aufgenommen. Immer
wieder werden in den Film Comic-Elemente integriert. Gleich zu Beginn sehen wir,
wie ein Buch aufgeschlagen wird und ein Schriftzug erscheint. Danach erfolgt gleichsam ein Sprung in die eigentliche Filmhandlung – Gregs Bruder macht einen Scherz
mit ihm – und eine Rückkehr in die Comicwelt, wenn sich das Gesicht des Bruders
(Nahaufnahme) in ein Comicgesicht zurück verwandelt. Was also in didaktischen
Verfahren wie der intermedialen Lektüre (vgl. Kruse 2011) von der Lehrkraft inszeniert
wird, wird hier vom Film selber praktiziert: Innerhalb der erzählten Geschichte wechseln sich Comic-Elemente, realistische Filmpassagen und hyperrealistische (Phantasie-)Szenen ab, wobei gerade die Übergänge und Schnittstellen besonders interessant
sind.
Mit diesem Darstellungsprinzip geht der Film zentrale Fragen des Erwachsenwerdens
und der schulischen Sozialisation an, die auch für den Deutschunterricht relevant
sind, insbesondere vor dem Hintergrund identitätsdidaktischer Überlegungen (vgl.
Spinner 2001). Dazu gehören natürlich geschlechterspezifische Fragen, die ein zentrales Element des Films darstellen. Diese Fragen werden nicht nur auf inhaltlicher Ebene
verhandelt (etwa warum Jungs zu anderen Jungs nicht sagen: „so ein süßer Po”), sondern auch im Hinblick auf die Gattungen. Zu Beginn des Tagebuchs erklärt Greg: [117]
„Und dann will ich noch etwas klarstellen: Die Idee war von meiner MUTTER, nicht
von mir. Wenn sie glaubt, dass ich hier meine „Gefühle” oder so einen Quatsch reinschreibe, hat sie sich getäuscht.” (Kinney 2008, 1).
Die Gattung Tagebuch wird dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, genauso wie ein
bestimmter Umgang mit Emotionen. Die Memoiren hingegen sind nach Greg für berühmte Männer gedacht und genauso einer will er ja werden. Das heißt, es geht hier
ganz essentiell um geschlechterspezifische Formen des Lesens und Schreibens und
in einem allgemeineren Sinne um die Erzählbarkeit und Darstellbarkeit des eigenen
Lebens, ein Thema, das vor allem im Hinblick auf den medialen Superstar-Kult von
großer Bedeutung ist. Greg hat dabei, wie so oft in seiner Geschichte, eine ganz bestimmte Strategie entwickelt, indem er die Formvorgaben des Tagebuchs subvertiert
und daraus seine Memoiren macht. Im Film ist diese Szene so gestaltet, dass der reale
Greg in einer Comic-Welt (0:03:03) steht und seine Zuschauer direkt anspricht. Auch
hier werden seine Berühmtheitsfantasien collagehaft vorgeführt, wenn wir im Hintergrund fingierte Zeitschriftentitel sehen, die ihn als erfolgreichen Mann, aber immer
noch in Gestalt des Jungen zeigen.
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Fassen wir zusammen: Das besondere didaktische Potenzial von Gregs Tagebuch liegt
im Wechselspiel der Gattungen und Medien, das als zentrales gestalterisches Prinzip des Films aufgefasst werden kann. Es sorgt für die Balance zwischen Drastik und
Komik in der Darstellung sozialer Antagonismen. Comic-Elemente und Hyperrealismus
tragen dazu bei, die kleinen und großen Leiden von Jugendlichen augenzwinkernd
zu relativieren, auch und vor allem im Hinblick auf den Umgang mit Enttäuschung
und Frustration. Wenn Greg wieder einmal den Eindruck hat, dass ihn keiner mag,
sieht man, wie er als Comicfigur auf einer Beliebtheitsliste laut polternd nach unten
rutscht. Und mit hyperrealistischen Elementen wird die Sinnlosigkeit sozialer Ausgrenzungsmechanismen vorgeführt, etwa am Beispiel des Käsefluchs, worauf noch zurückzukommen sein wird.
An dieser Stelle kann also festgehalten werden: Gregs Tagebuch führt Strategien im
Hinblick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft vor, indem verschiedene
Gattungen und Medien auf originelle Art kombiniert werden. Auf diese Weise wird
auch das Erzählen selbst in seinen verschiedenen medialen Facetten thematisiert.
Dem kommt in Zeiten des storytelling eine immense Bedeutung zu. Überall werden
Geschichten erzählt, zu ganz bestimmten Zwecken und mit ganz bestimmten Funktionen. Dabei nehmen erzählte Biographien einen zentralen Platz ein, ob es sich nun um
das Leben erfolgreicher Unternehmer – paradigmatisch Mark Zuckerberg und Steve
Jobs –, Popstars, celebrities (vgl. Franck 2011) und C-Promis oder Helden des Alltags in
Firmenzeitungen handelt.
Didaktisch-methodischer Kommentar, Vorüberlegungen zum Einsatz im Unterricht
In der Unterrichtspraxis wird es folglich darauf ankommen, filmanalytische Ansätze in
Bezug zu inhaltlichen Fragen zu setzen (vgl. Maiwald 2008, 71). Wie dies zu bewerkstelligen ist, hängt in hohem Maße von den Vorkenntnissen der Schülerinnen und
Schüler ab. Sinnvoll für eine Beschäftigung mit Gregs Tagebuch wäre sicherlich, wenn
bereits Grundbegriffe der Filmanalyse vermittelt wurden, vielleicht an Formaten wie
Kurzfilm oder Videoclip, die als hervorragende Sehschule fungieren können. Auch
davon abhängen wird die Entscheidung, ob man sofort den Film in toto anschaut oder
sukzessive im Laufe der Unterrichtseinheit. [118]
Als übergeordnetes Lernziel wäre die Ausbildung einer medien- und in diesem Fall
auch gattungsübergreifenden Narrationskompetenz (vgl. Leubner/Saupe 2006, 235)
anzuvisieren. Dabei könnte man bei einer Unterrichtseinheit folgende Schwerpunkte
setzen: Zunächst gilt es, einen Überblick über die Gattungen und ihre formalen Spezifika zu bekommen, mit denen es die Leser bzw. Zuschauer zu tun haben: Tagebuch,
Memoiren, Comic, Roman, evtl. könnte man noch das im Film so wichtige HighschoolJahrbuch hinzunehmen, als besondere Form der Darstellung schulischen Lebens in
Text und Bild. Ergänzen ließe sich dies durch die Frage, wie Medien im Film selber als
Element der Handlung vorkommen. Neben dem erwähnten Highschool-Jahrbuch wird
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im Film auch eine Filmvorführung gezeigt und es wird von einem Comic-Zeichenwettbewerb erzählt.
Mit der Frage nach der Gattung Tagebuch verknüpft ist die Frage nach den Geschlechterrollen, denn laut Greg ist Tagebuchschreiben etwas für Mädchen. Auf diese Weise
ließen sich weitergehende geschlechterspezifische Themen entwickeln: Wie verhalten
sich Jungen und Mädchen im Film, wie sprechen sie untereinander und über das andere Geschlecht? Ein besonderes Augenmerk wäre dabei auf zwei weibliche Figuren
zu richten, mit denen es Greg zu tun hat: die rebellisch-alternative Außenseiterin, die
durchaus Sympathien für Greg hat, und seine Erzfeindin, die ihn u. a. im Ringkampf
besiegt. Es könnte aber auch ein themenzentrierter filmischer Vergleich angestellt
werden. In dem bereits erwähnten Film Paulas Geheimnis geht es um die Tagebuchschreiberin Paula und immer wieder werden phantastische, überromantisierte Szenen
gezeigt, die Tagebucheinträge visualisieren.
Ein weiterer thematischer Block könnten die sozialen Rituale vor dem Hintergrund
unterschiedlicher Peergroups sein. Vor allem der Käsefluch als sinnloses Ausgrenzungsritual, dessen Ursprünge in Vergessenheit geraten, ist nicht nur in gruppenpsychologischer Hinsicht hochinteressant, sondern auch filmästhetisch. Mehrmals wird
die Bild- und Tonsprache des Horror- bzw. des Science-Fiction-Films zitiert, wenn es
um den first contact mit dem Käse geht und um die Weitergabe des Fluches durch
Berühren, ähnlich der Infizierung mit einer Krankheit3. Leitmotivisch taucht der Käse
mehrmals in extremer Nahaufnahme auf, was seine verschiedenen Verwesungsstadien zeigt und so das Verfließen von Zeit vorführt: Lange Zeiträume auf der Ebene der
erzählten Zeit werden auf diese Weise im Bereich der Erzählzeit gerafft.
Nebenbei bemerkt: Wollte man einen Schwerpunkt auf die filmische Darstellung von
Zeit legen – vor allem Kontraktion und Extension –, könnte man diese Szenen mit
einem Erlebnis Gregs kontrastieren, bei dem deutlich wird, wie eine kurze Zeitspanne
subjektiv als extrem lang empfunden wird: Greg muss dringend aufs Klo, traut sich
aber nicht aus seinem Zimmer, da ihm sein erboster Bruder auflauert. Wie in dieser
Passage visuelle, auditive und narrative Ebene (vgl. Staiger 2008, 8f) zusammenspielen, um Gregs zunehmendes Bedürfnis zu zeigen, ist didaktisch sehr ergiebig. Mit der
Steigerung der Musik nimmt auch die Frequenz der Schnitte zu. Sieht man zunächst
Greg in verschiedenen Posen in seinem Zimmer, die überblendet werden, kommen
[119] dann kurze Sequenzen aus dem Vorgarten hinzu, die alle mit fließendem Wasser zu tun haben: ein Rasensprenkler, ein Gartenschlauch; schließlich im Zimmer das
3 Interessant ist in interkultureller Hinsicht auch, wie der Fluch verschwindet. Ein französischer Austauschschüler wird berührt und somit verflucht, versteht allerdings aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht, worum es geht und nimmt den Fluch gewissermaßen bei seiner Rückkehr nach
Toulouse mit. Es darf vermutet werden, dass hier auch ein ironischer Seitenhieb auf das US-amerikanische Deutungsmuster vorliegt, wonach Franzosen verschimmelten Käse essen. Die politischökonomische Dimension dieses Deutungsmusters ist bekannt. Immer wieder gibt es Diskussionen
um Einfuhrregelungen oder gar Verbote für französischen (Rohmilch-)Käse, weil er amerikanischen
Hygienenormen nicht entspricht.
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blubbernde Aquarium und ein tropfender Wasserhahn – in stetem crescendo, bis
Greg beschließt, aus seiner Falle auszubrechen und sich aufs Klo zu wagen.
Eine sehr enge und eindrückliche Verklammerung von Inhalt und Filmästhetik zeigt
sich auch in jenen Szenen, in denen es um Träume, Wünsche und Hoffnungen oder
aber Enttäuschung, Wut und Frustration Gregs geht. Die zentrale Frage im Unterricht
wäre etwa zu überprüfen, wann und wie dabei Comic-Elemente in den Film integriert
werden (in der Regel bei Enttäuschungen) und wie seine Wünsche gestaltet werden
(durch hyperrealistische Szenarien). Und was dies für die Rezeption bedeutet: Fühlen
wir trotzdem mit oder distanzieren wir uns deswegen?
Und schließlich – aber das hängt auch von der Möglichkeit der Kooperation mit anderen Fächern ab –, könnte ergänzend ein interkultureller Ansatz gewählt werden.
Was hat es mit der amerikanischen Highschool auf sich? Wieso ist der Highschoolfilm
international so erfolgreich und so präsent, während es nicht allzu viele bekannte
Schulfilme aus Deutschland gibt? Welche Rituale gibt es hier und dort (z. B. die Rolle
der Jahrbücher, Schul- und Abschlusszeitungen)? Neben diesen eher kulturbezogenen Themen könnten auch genuin sprachliche Themen angegangen werden. Wieso
braucht es im Deutschen den Zusatz Von Idioten umzingelt im Titel, während es im
Englischen Diary of a Wimpy Kid heißt? Überdies wäre es sehr reizvoll, die englischen
Namen der Schüler – die eher als Typen denn als Individuen aufzufassen sind – mit
denen in der deutschen Übersetzung zu vergleichen.
Überblick über eine mögliche Unterrichtseinheit zu Gregs Tagebuch
[120]
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Konkretisierung einer ausgewählten Unterrichtsstunde
Als erste oder eine der ersten Unterrichtsstunden liegt die vertiefte Arbeit mit dem
Filmanfang nahe. Filmanfang und Titelsequenz haben „das Potential, die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Modus der Filmerzählung einzustimmen.” (Decke-Cornill
2012, 327) und können in „Stil, Stimmung und Genre einführen” (ebd., 328).
Dieser Befund gilt in ganz besonderer Weise für Gregs Tagebuch. Die Anfangssequenz
von ca. viereinhalb Minuten – mit integriertem Vorspann – enthält in nuce die Ästhetik des Films und präsentiert die wichtigsten Themen und Figuren. Hier zeigt sich sehr
deutlich, welche Rolle das, was Decke-Cornill als „Akt der Verneinung” (ebd., 337)
bezeichnet, für den ganzen Film spielt. Der auf Wirklichkeitssuggestion basierende,
vorwärtsdrängende Erzählverlauf wird immer wieder interventionistisch unterlaufen
und verfremdet (ebd., 337). Der Aufbau dieser Sequenz stellt sich folgendermaßen
dar:
Beginn des Films
Vorspann und Ansprache Gregs (Greg hält sein Tagebuch in der Hand und befindet
sich in einer Comicwelt)
Vorschläge zur Arbeit mit dem Vorspann
a) Ganzer Vorspann
• (1) Ein Teil der Klasse schaut den Vorspann nicht an (SuS, die den Film gesehen haben bzw. kennen) und sieht sich stattdessen den Anfang eines anderen, konventionel8
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leren Highschoolfilms an.
• (2) Ein Teil schaut den Vorspann an (SuS, die ihn nicht kennen). [121]
Aufgaben:
• Gruppen (1) und (2) stellen jeweils ihren Anfang vor (Ergebnisse vergleichen und
begründen)
• Gruppe (2) erläutert, was die SuS vom weiteren Verlauf des Films erwarten und
warum
b) Die Wunschszenarien im Vorspann (vgl. Arbeitsblatt 1)
• Vergleich (Unterschiede und Gemeinsamkeiten): Wie werden Gregs/Ruperts Wünsche im Film dargestellt?
• Worauf beziehen sie sich, d. h. was wünschen sich jeweils die beiden Jungs? Wann
und wie sollen sich die Wünsche erfüllen?
• Handlungs- und produktionsorientierte zusätzliche Variante: Wie verbildlichen/ veranschaulichen SuS ihre Wünsche? Welche Wünsche haben sie und wann / wie sollen
sie sich erfüllen?
Anhand der Screenshots kann nochmals detailliert geklärt werden, worin sich Gregs
und Ruperts Wünsche unterscheiden. Ruperts Wünsche sind auf das Hier und Jetzt
bezogen, sie zielen auf rasche oder sofortige Bedürfnisbefriedigung ab und wirken
somit kindlich. Dies spiegelt sich in der Gestaltung der Szene wider, welche Rupert
in einer kitschig anmutenden Weihnachtsszenerie zeigt. Gregs Wünsche hingegen
sind abstrakt-umfassender, auf die Zukunft gerichtet und also von Bedürfnisaufschub
gekennzeichnet (wieder und wieder betont er, dass man einen langen Atem brauche,
um berühmt zu werden). Filmästhetisch werden sie durch die Vermischung von Comicwelt und realen Figuren bzw. durch Hyperrealität überzeichnet. Ihnen wohnt somit
ein Moment der ironischen Selbstdistanz inne, das den kindlichen Wünschen Ruperts
fehlt.
Ausgehend von dieser Eingangssequenz lassen sich die meisten weiteren Themen und
Motive des Films im Laufe einer Unterrichtseinheit entwickeln.
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Primärliteratur
Kinney, Jeff: Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt! Aus dem Englischen von Collin
McMahon. Köln: Baumhaus Verlag (Bastei Lübbe), 2008 [engl. EA: Diary of a Wimpy
Kid. New York: Amulet Books, 2007]
Sekundärliteratur
Abraham, Ulf: Filme im Deutschunterricht. Seelze 2009
Decke-Cornill, Helene: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne”. Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy. In: Hecke, Carola/ Carola Surkamp (Hgg.): Bilder im Fremdsprachenunterricht. Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden. Tübingen 2012, 325-340
Franck, Georg: Celebrities. Elite der Mediengesellschaft? In: Merkur 65 (2011) 4, 300-310
Frederking, Volker (Hg.): Filmdidaktik und Filmästhetik. München 2006. (Jahrbuch
Medien im Deutschunterricht 2005)
Kepser, Matthis: Brauchen wir einen Filmkanon? Ein Vorschlag für eine schulinterne
Initiative. In: Der Deutschunterricht 60 (2008) 3, 20-32
Kruse, Iris: Kinder- und Jugendliteratur intermedial erfahren, erleben, lesen. Intermediale Lektüren und ihr Potenzial für einen medienintegrativen Literaturunterricht. In:
Marci-Boehncke, Gudrun/ Matthias Rath (Hgg.): Medienkonvergenz im Deutschunterricht. München 2011. (Jahrbuch Medien im Deutschunterricht 2010), 200-210
Leubner, Martin/ Anja Saupe: Erzählungen in Literatur und Medien und ihre Didaktik.
Baltmannsweiler 2006 [122]
Maiwald, Klaus/ Willi Wamser: Schwerter, Liebe und mehr. Was Der erste Ritter aus
Hollywood mit medienkultureller Bildung zu tun und im Deutschunterricht verloren
hat. In: Der Deutschunterricht 60 (2008) 3, 64-73
Spinner, Kaspar H.: Kreativer Deutschunterricht: Identität–Imagination–Kognition.
Seelze 2001
Staiger, Michael: Filmanalyse – ein Kompendium. In: Der Deutschunterricht 60
(2008) 3, 8-19
Uka, Walter: Unterhaltungsfilm – Populärer Film – Blockbuster. In: Faulstich, Werner/
Karin Knop (Hgg.): Unterhaltungskultur. München 2006, 77-90
Filmographie
Freudenthal, Thor: Gregs Tagebuch. USA: Twentieth Century Fox 2010
Hattop, Karola: Prinz und Bottel. Deutschland: Oetinger Media 2009
Krää, Gernot: Paulas Geheimnis. Deutschland: Home Entertainment 2008
Schmid, Johannes: Blöde Mütze. Deutschland: Eurovideo 2009
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