reise Das verzauberte Tal D u fährst ins Fersental? Nie gehört, wo ist das denn? Und da sprechen sie Deutsch?“, fragt die Freundin. „Ja, so was Ähnliches jedenfalls. Und es liegt zwischen Bozen und dem Gardasee. Auf über 1000 Metern. Und an den Balkonen hängen Geranien. Außerdem soll’s dort aussehen wie früher. Etwas aus der Zeit gefallen.“ Zugegeben, bruchstückhafte Informationen aus dem Mund einer Hamburger Reise-Autorin, die noch nicht viel mehr darüber weiß. Der aber ein Satz des Schriftstellers Robert Musil im Ohr hängt. Der Österreicher kam 1915 ins Tal und fand es verzaubert. „Verzaubert – das Wort gibt es im Fersentalerischen nicht“, sagt Leo Toller und schaut mich über das Wörterbuch auf seinem Schreibtisch hinweg an. Ein paar Tage später und 1400 Meter höher. Der Schreibtisch hat seinen Platz im Kulturinstitut in Palai, und auf dem Vokabelwerk steht: „Das kleine Fersentaler Wörterbuch“. „Was Musil meinte, ist unsere wilde, schöne Natur“, erklärt der schlanke Mitt- 94 V I TA L 1 0 / 2 0 1 2 Großmutter Rosina Pompermaier erinnert sich noch gut an die harte Arbeit früher und zeigt Gästen ihre alte Kiepe. Links: der Ort Palai vierziger. „Auch die Menschen und ihre Tradition. Es ist hier schon sehr besonders.“ Und schon ist der Kulturreferent und Tal-Experte in seinem Element. Erzählt von der deutschsprachigen Minderheit, die im 13. Jahrhundert hauptsächlich aus Bayern kam und sich auf der linken Talseite ansiedelte. Auf sie gehen die winzigen Orte Palai, Florutz, Eichleit und Gereut zurück. Und die eigene Sprache, eine Mischung aus Bayerisch, Tirolerisch und Italienisch. Bersntolerisch nennen es die Einheimischen. Drei Jahrhunderte später seien dann deutsche Bergleute gekommen, um Kupfer zu schürfen. „Heute leben etwa 2000 Leute im Tal, 1000 davon sprechen noch immer den Dialekt.“ Die sind mittlerweile von Rom als Sprachminderheit anerkannt, und alle 35 Schüler der Grundschule haben Bersntolerisch als Unterrichtsfach. „Als ich Kind war, haben wir es nur in der Familie gesprochen und uns auf der Straße dafür geschämt. Ansonsten hat sich aber nicht viel geändert“, sagt Leo Toller. Die Höfe liegen noch immer verstreut am Berghang, einige haben erst vor Kurzem Straßen bekommen. Wo denn das Vieh sei, will ich von Leo Toller wissen. Noch habe ich auf den blumenbetupften steilen Wiesen keine Kuh entdeckt. „Tiere rentieren u sich kaum noch“, antwortet er. FOTOS Christiane Bloch (2), Bildagentur Huber So nannte der Schriftsteller Robert Musil das Fersental im italienischen Trentino. Klingt verlockend, fand VITALMitarbeiterin Christiane Bloch und machte sich auf zu einem Ort, den niemand kennt Ein Schmuckstück, innen so schön wie außen: das „B & B Gian“ in Sant’Orsola Terme reise A ber wo geht’s zum Klopfhof? „Ein schean to“, „einen schönen Tag“, begrüßt mich die alte Dame mit grauen Locken und Kittelschürze und schaut zum Autofenster hinein. „Die Karte gehört andersherum, und links müssen Sie herauf“, weist sie mir den Weg. Mit Gesten und äußerst freundlich, mein Bersntolerisch ist noch rudimentär. „Geltsgott“, „danke“, und die Serpentinen hoch. Vorbei an Holzgehöften, die aussehen wie historischen Fotos entsprungen. Der neue Bio-Hof von Barbara Pisetta dagegen ist durch und durch Gegenwart. Obwohl er, wie seine verwitterten Nachbarn, Holzschindeln auf dem Dach trägt. Darauf aber Solarzellen, und auf der Wiese vor dem Haus sonnen sich Lamas. „Die Kinder lieben sie“, sagt Barbara, 33, groß, hübsch und mit karierter Schürze. „Wir haben auch eine Kuh, Esel, Schweine, Ziegen und Hühner.“ Und einen Gemüsegarten. Zur Selbstversorgung und zum Kochen für Gäste, die in drei wunderschönen Zimmern wohnen. „Das Gelände war die Sommeralm meiner Großmutter“, erzählt sie. „Meine Eltern hielten mich für verrückt, als ich mit meinem Mann hierher zog: ,Du hast Erziehungswissenschaft studiert, und jetzt gibst du die Hirtin und Wirtin?‘ Aber reich werden ist uns nicht wichtig. Wir wollen gut und gesund leben.“ Das geht im Fersental ganz leicht: Ruhe, kaum Autos, kein Hotel, statt dessen endloser Bergwald und die beschützenden Gipfel der Lagorai-Kette ringsherum. Wie es den Menschen früher hier wohl erging? Etwa den Bergleuten in der „Gruab va Hardimbl“ vor 600 Jahren? Bei acht Grad Kälte und 95 Prozent Luftfeuchtigkeit 96 V I TA L 1 0 / 2 0 1 2 Die Leute im Tal sind überaus offen tropft es von der Decke des Schaubergwerks auf meine am Eingang geliehene Öljacke. Ich finde den Anblick gruselig: Steil geht es in der Dunkelheit herunter. Mittendrin ein nachgebildeter Mensch. Vielleicht 150 Zentimeter groß mit einer riesigen Hacke in der Plastikhand. Schlagartig wird mir klar, wie gut ich es habe – und wie schön die Sonne ist, die nach allgemeiner Meinung hier im Tal öfter scheint als anderswo. Auch Daniela Dalbosco stimmt dem zu. Sie ist meine Wirtin im „Bed & Breakfast Gian“, das in meinem Ranking top ist in der Kategorie: „Wer hat die schönsten Balkonblumen?“ Keine Geranien, sondern Petunien. Sowieso ist jede Ecke des 300 Jahre alten Hauses geschmackvoll eingerich- tet. Kein Wunder, Daniela, Mitte 40, gestaltet von Berufs wegen, ist Grafikerin aus Rovereto. Eine Zugezogene. Wie ist das als Fremde im Tal? „Kein Problem“, sagt Daniela, während ich beim Frühstück ihren Apfelkuchen verspeise. „Die Leute hier sind überaus nett und offen.“ Da fällt mir ein, was Tal-Experte Leo Toller erzählte. Dass auch das Wort „Einladung“ im Bersntolerischen nicht existierte. Weil früher alle Türen offen standen und jeder bei jedem zu Hause war. Das Kulturinstitut hat das Wort erst jetzt erfunden: „Innelou“. Bei Fiore Stefanie, 76, bin ich sofort zu Hause. In der Küche beim Espresso, wo er gemeinsam mit seiner Frau Maria fernsieht. Fiore heißt auf Italienisch Blume, da scheint es nur konsequent, dass auf dem Küchensofa und der Plastik-Tischdecke Rosen prangen. Und auf dem Hut, den Fiore aus einem Pappkarton mit der Aufschrift „Grappa Alpina“ hervorholt. Das gute Stück, über und über mit kleinen Plastikblumen, Kugeln und hinten mit seltenen Birkhahn-Federn verziert, ist eine Auftragsarbeit fürs Mu- Esel – heute eher Wander-Kumpel als Arbeitstier. Rechts: traumhaft schlafen im „B & B Gian“ Als er volljährig wurde, trug Sabrina Zampedris Zwillingsbruder Fabrizio den traditionellen „Kronz“ Lucanica – eine SalamiSpezialität in der „Macelleria Salumeria Fontanari Aldo“ (oben). Barbara vom Klopfhof macht Ziegenkäse (links) In bester Sonnenlage thront der Klopfhof auf 1450 Metern über dem Fersental seum. So ein Hut hat Tradition im Fersental. „Wenn ein Junge volljährig wird“, erklärt der Profi fürs Hutschmücken, „trägt er den ,Kronz‘.“ Ja, das stimme, ihr Bruder Fabrizio hätte auch so einen, sagt mir Sabrina Zampedri, 26, am nächsten Tag. Die Mitarbeiterin des Tourismus-Büros wandert mit mir zum See, zum Lago Erdèmolo. „Schau einmal nachher auf das Foto, das über dem Eingang zum Rathaus in Sant’Orsola Terme hängt. Da sind immer die Jugendlichen eines Jahrgangs abgebildet.“ Aber natürlich hätten ihre Eltern keinen Hut von Fiore gekauft. Viel zu aufwendig, kostbar und teuer. Mindestens 1000 Euro koste so ein Gebilde. D FOTOS Christiane Bloch (4), PR (2) Deshalb haben sich viele Bauern, vor allem auf der rechten, italienischsprachigen Talseite, auf die Zucht von Himbeeren, Blaubeeren oder Erdbeeren verlegt. Doch: „Immer mehr junge Leute halten wieder Vieh. Wie Barbara auf dem Klopfhof.“ ie Natur auf dem Weg zum See ist glücklicherweise umsonst und wunderschön: Bis auf 2005 Meter geht es hinauf durch einen lichten Wald aus Lärchen. In weniger trockenen Jahren flankiert von roten Rhododendron-Blüten. „In diesem Jahr blüht es einfach nicht“, seufzt Sabrina, die über eine Fersentaler Kooperation mit dem Goethe-Institut in Berlin Deutsch gelernt hat. Jetzt guckt sie etwas entsetzt, weil sie mir am Ziel einen sehr geschrumpften Lago Erdèmolo präsentieren muss. „Es hat zu wenig geschneit“, entschuldigt sie sich. Egal. Auch so finde ich den klaren Bergsee irgendwie magisch, und ich frage mich, warum bisher nur italienische Tagestouristen diese gut beschilderte Wandergegend entdeckt haben. „Übernachtungsgäste fehlen“, bedauert Sabrina. „Zurzeit haben wir gerade mal zehn Touristen. Im Winter oft noch weniger.“ Dabei erwartet die bestimmt ein Wintermärchen: kein Skirummel, keine Skilifte, nur ein paar Loipen. Dazu Kachelofen-Wärme. Im Tal wird weitgehend noch mit Holz geheizt. Wandern macht hungrig. Aber bevor wir bei Agnese Pintarelli in Sant’Orsola Terme einkehren, möchte Sabrina mir noch ihre Oma vorstellen. Rosina Pompermaier, Jahrgang 1927 und wohnhaft in Florutz. Ein u V I TA L 1 0 / 2 0 1 2 97 reise Zum Genießen: Wein und selbst gebackenes Brot auf dem Klopfhof (links). Kein Wandern ohne Pause: Autorin Christiane Bloch (unten) Der Erdèmolo-See – bei genug Regen mit Rhododendren sentaler Küche, 4-Gänge-Menü 25 Euro. Nicht-Hausgäste müssen vorbestellen. Schwarzer Adler in Gereut: sehr deftige Küche von Wild bis Kaninchen, das Lokal ist eine Institution, Tel. 00 39/04 61/ 54 90 90. Osteria Storica Morelli in Pergine: eines der besten Restaurants, Tel. 00 39/04 61/50 95 04, www.osteria 98 V I TA L 1 0 / 2 0 1 2 storicamorelli.it Was unternehmen Ausstellung „Musil en Bernstol“ in Palai unterhalb des Kulturinstituts, bis 30. Sept., 3,50 Euro; Filzerhof in Florutz – ein Museumshof aus dem 15. Jahrhundert, Mai bis Okt., 3,50 Euro; Museum Pietra Viva in Sant’Orsola Terme, Kultur des Fersentals, 5 Euro; Schaubergwerk VITALREISEPLANER Gruab va Hardimbl auf dem Weg zum Lago Erdèmolo, Juni bis Okt., 8 Euro; Eseltrekking mit Vea Carpi, z. B. MiniEsel-Treck, 9.30 bis 12 Uhr, Erwachsene Anreise Nächster Flughafen ist Verona. 20 Euro, 12 bis 17 Jahre 10 Euro, Kinder Tipp: Auto bei Autovia mieten, frei, Tel. 00 39/34 27 26 42 91, asinello einer kleinen, günstigen lokalen Agen- rosso.oneminutesite.it; Mikroerfahrun- tur, www.autovia.it. gen: Jeden Tag kann man im Tal etwas Weg finden Die Straßen im Fersental anderes erleben, von Käsemachen auf sind namenlos. Deshalb an den Orten dem Klopfhof (s. o.) bis zu Spaziergän- orientieren. Von Unterkunft bis Museum gen, Infos auf eventivalledeimocheni. ist alles ausgeschildert. blogspot.de; Wandern: sehr gut aus- Unterkunft Bed & Breakfast Gian gewiesene Wanderwege von einfach in Sant’Orsola Terme, Ü/F ab 32 Euro bis hin zu mehrtägigem Trekking. pro P., Tel. 00 39/04 61/54 00 29, Wellness-Tipp Wer das Fersental www.bebgian.com; Klopfhof in Florutz, mit Wellness kombinieren möchte, Ü/F 35 Euro pro P., Ü/HP 55 Euro pro P., besucht das Casa di Salute Raphael Tel. 00 39/04 61/55 15 96, www. in Roncegno, etwa eine halbe Auto- klopfhof.it. Weitere Unterkünfte unter stunde entfernt. Schwerpunkte: anthro- www.valledeimochenipirlo.it posophische Medizin sowie Homöo- Essen Macelleria Salumeria Fonta- und Phytotherapie nach europäischer nari Aldo in Sant’Orsola Terme: Tradition, www.casaraphael.com Hier kocht Agnese traditionelle Gerich- Allgemeine Infos Bernstoler te. Außerdem gibt es in der Fleischerei Kulturinstitut in Palai im Fersental, Spezialitäten zum Mitnehmen: Tel. 00 39/04 61/55 00 73, www.bersntol. Lucanica, eine Art Salami, z. B. mit Trüf- it; Tourismusbüro Consorzio Pro Loco feln oder Früchten. Außerdem Typi- Valle dei Mòcheni in Sant’Orsola Ter- sches wie Almkäse, Honig, Marmelade me, Tel. 00 39/04 61 55 14 40, oder Grappa. Tel. 00 39/04 61/55 11 23. www.valledeimocheni.it; Klopfhof (s. o.): moderne leichte Fer- Trentino: www.visittrentino.it FOTOS Christiane Bloch (2), Bildagentur Huber Laden, eine Kirche. „Fast genauso wie in meiner Jugend“, erzählt Rosina, die hier geboren wurde. „Aber natürlich war das Leben damals ganz anders. Wir haben viel getauscht, Eier und Butter gegen Mehl, Obst gegen Zucker … Die Arbeit war mühselig: An den steilen Hängen rutschte ständig die Erde runter. Wir mussten sie unten einsammeln und wieder hochtragen. In Kiepen, in denen wir auch das Heu transportierten.“ Es bringt Oma Rosina einen Heidenspaß, alte Kiepen aus der Garage zu holen und mir eine auf den Rücken zu heben. Dann reden wir über das Essen: „Polenta. Jeden Tag gab’s Polenta, im Kupferkessel auf Holzfeuer gerührt. Da hat sich nicht viel geändert, nur dass wir den Mais heute nicht mehr gar so oft essen.“ Bei Agnese in der „Macelleria Salumeria Fontanari Aldo“ verspeisen Sabrina und ich Almkäse, zarten Schinkenspeck, würzige Salami und Tagliatelle mit Weißkohlstreifen, geräuchertem Ricotta und Parmesan. Auf Plastikstühlen unter blauem Himmel. Köstlich! Zum Schluss schenkt die Köchin hausgemachten Pinien-Grappa ein. Reichlich. Spätestens jetzt bin ich im Zauberbann und resümiere: Die Menschen im Fersental sind wunderbar. Die Natur ist verwunschen. Das Bersntolerisch komplett verzaubert – ich versteh’s nicht. Immerhin kann ich sagen: „As an ònders vòrt.“ – „Bis zum nächsten Mal.“ Bis dahin sollte wirklich ein Wort für „verzaubert“ erfunden sein. p
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