ChefarztkritisiertBruderholz-Pläne

Basel.Land.
Baselland öffnet
Auffangzentren
Flüchtlinge für drei Gemeinden
Von Boris Gygax
Niederdorf/Münchenstein. Das Basel-
biet rüstet sich für die Aufnahme von
weiteren Flüchtlingen. In Niederdorf
haben Anwohner längst bemerkt, dass
Teile der Zivilschutzanlage für den
Bezug bereit gemacht werden. Einigen
stösst dies sauer auf. «Was läuft da?»,
fragte sich auch Marcel Enggist. Vom
Kanton habe er keine Auskunft erhalten. Gerüchte machen die Runde, dass
die Anlage demnächst nicht nur bereitgestellt, sondern auch in Betrieb
genommen wird.
Mitte November informierte der
Niederdörfer Gemeinderat darüber,
dass Arbeiten an der Zivilschutzanlage
an der Härgelerstrasse vorgenommen
werden. Sie ist eine von vier Anlagen,
die der Kanton als temporäres Auffangzentrum ins Auge fasste. Was bereits im
Sommer in einer Eventualplanung
angedacht wurde, ist nun Realität: Der
Flüchtlingsstrom reisst bis heute nicht
ab, die Unterkünfte der Gemeinden im
Baselbiet sind voll. Um ihnen mehr Zeit
für die Suche nach weiteren Unterbringungsmöglichkeiten zu geben, eröffnet
der Kanton sogenannte «Überlaufgefässe».
Nicht nur Niederdorf wird temporär
Flüchtlinge aufnehmen, sondern unter
anderem auch Münchenstein. Dies
teilte die Gemeinde auf ihrer Homepage
mit. Die Sanitätsstelle Ehinger hat eine
Kapazität von hundert Personen, das
Datum der Inbetriebnahme sei aber
noch nicht bekannt. Der Gemeinderat
schreibt weiter: Im Rahmen der
Einwohnerzufriedenheitsanalyse
im
September habe die Bevölkerung klare
Kritik an der Sicherheit und an der Integrationspolitik in der Gemeinde geäussert. «Der Gemeinderat hat den eindringlichen Wunsch an den Kanton
geäussert, dass in der Sanitätsstelle
Ehinger Frauen mit Kindern oder allenfalls Familien einquartiert werden.»
Wer in Niederdorf einquartiert
wird, ist noch nicht bekannt. Zwischen
der Gemeinde und dem Kanton laufen
noch immer Vertragsverhandlungen.
Recherchen der BaZ zeigen: Die Anlage
in Niederdorf wird in den nächsten zwei
Wochen in Betrieb genommen. Auch sie
bietet Platz für maximal hundert Personen. Für beide Anlagen, in Niederdorf
und Münchenstein, gilt eine Mindestlaufzeit von einem halben Jahr. Die
Durchlaufzeit der Flüchtlinge soll zwischen vier und acht Wochen betragen.
Zuweisungen über Weihnachten
Zu den einzelnen Gemeinden
möchte Asylkoordinator Rolf Rossi
keine Stellung nehmen. Er bestätigt
aber, dass «bei Bedarf vorzu Anlagen in
Betrieb genommen werden». Und dies
sei wohl bald der Fall, denn «noch
immer werden uns rund 160 Flüchtlinge pro Monat zugeteilt, das ist überdurchschnittlich». In den letzten Jahren
wies der Bund über Weihnachten und
Neujahr keine Personen zu. «Dies wird
dieses Jahr wohl anders sein.»
Der Niederdörfer Gemeinderat habe
immer transparent informiert, betont
Gemeindepräsident Martin Zürcher.
«Mehr wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht.» Am 14. Dezember, an der
nächsten Einwohnerversammlung, soll
die Bevölkerung weiter informiert werden. Unter anderem stehe dann auch
der Kantonale Krisenstab Rede und
Antwort. Zürcher weiss lediglich von
einer Nachfrage aus der Bevölkerung
gegenüber der Gemeinde. «Ich hoffe
darum auf wenig Widerstand und auf
eine grosse Mehrheit, die sich solidarisch zeigt und sich für die temporäre
Aufnahme von Flüchtlingen ausspricht.» Es gebe jedoch immer auch
einige, die dagegen sind.
Einer von ihnen ist Marcel Enggist.
Dass es bisher keinen Widerstand gegeben habe, hängt seiner Meinung nach
damit zusammen, dass niemand davon
weiss. Das Nachbardorf Hölstein hat
sich bereits gegen ein Bundesempfangszentrum gewehrt. Enggist glaubt nicht,
dass die Stimmung bei einer temporären Anlage in Niederdorf anders sei.
Das Tal habe mit anderen Problemen zu
kämpfen, die Öffnung der Zivilschutzanlage sei eine Bürde für das Dorf. «Am
14. Dezember werde ich mich darum
aktiv dagegen wehren», kündigt er an.
| Donnerstag, 3. Dezember 2015 | Seite 15
Chefarzt kritisiert Bruderholz-Pläne
Jonas Rutishauser begründet seine Kündigung – weitere Kaderärzte vor dem Absprung
Von Joël Hoffmann
Binningen. Ende Mai wird der Chefarzt
Medizin, Jonas Rutishauser, sein Büro
im «Hölzli» räumen. Hölzli nennt die
Belegschaft das Bruderholzspital liebevoll. Schweren Herzens verlasse Rutishauser den stadtnahen Standort des
Kantonsspitals Baselland (KSBL). Wie
die BaZ am Dienstag berichtete, verlassen mit ihm weitere Ärtze das Hölzli:
Bekannt sind bisher die Abgänge von
Andreas Zerz, Chefarzt Chirurgie, und
Bettina Hurni, Leitende Ärztin Rehabilitation und Altersmedizin. Wie die BaZ
aus mehreren Quellen erfahren hat,
sollen eine leitende Ärztin der Kardiologie, eine leitende Ärztin der Neurologie
sowie Horst Haack, leitender Arzt
Gastroenterologie, das Spital verlassen.
Letzterer teilt mit, dass sein Weggang
schon vor der neuen Strategie feststand
und nichts mit der aktuellen Entwicklung zu tun habe. Die beiden Ärztinnen
waren gestern nicht erreichbar.
In
einer
E-Mail
an
die
Ärztegesellschaft Baselland, die der
BaZ vorliegt, begründet Rutishauser
nun seine Kündigung. Der «schmerzende» Prozess, der zu Rutishausers
Abgang führte, begann am 29. Juni.
Damals präsentierten die Gesundheitsdirektoren Thomas Weber (SVP, BL)
und Lukas Engelberger (CVP, BS) ihre
Pläne für eine gemeinsame Spitalgruppe zwischen KSBL und Unispital
Basel. Aus dem Bruderholz soll das stationäre Angebot verschwinden, dafür
soll dort eine ambulatorische Tagesklinik (TOP) entstehen.
Schützenhilfe für TOP-Gegner
Damals begann die Unsicherheit,
die nun in diese Abgänge mündet. «Seit
dem 29. Juni musste ich jedoch akzeptieren, dass die strategischen und
operativen Verantwortungsträger im
Zukunftskonzept für unser Spital keine
Medizinische Klinik am Bruderholz
mehr vorsehen», schreibt Noch-Chefarzt Rutishauser. Man habe ihm keine
klare Perspektive geben können. «Unter
den gegebenen Umständen kann ich
auch meine Vorstellungen von glaubwürdiger Führung meiner Mitarbeitenden und der Klinik nicht mehr verwirklichen, denn hinter einem isolierten
TOP ohne begleitende internistische
und chirurgische stationäre Akutsomatik kann ich nicht stehen», schreibt er.
Neben seiner persönlichen Situation äussert er sich zu den regierungsrätlichen Plänen. Er sei etwa nicht
gegen eine gemeinsame Spitalgruppe,
aber gegen die Pläne für das Bruderholzspital. «Ich sorge mich um die
unmittelbare Zukunft des Bruderholz-
Vor dem letzten Schnitt. Mit stationären chirurgischen Eingriffen ist es am Bruderholz wohl bald vorbei.
spitals und damit um die Weiterbildung
der künftigen Hausärztinnen und -ärzte
an unserem Spital», so Chefarzt Rutishauser weiter.
Mit seinen Befürchtungen bezüglich
Versorgungssicherheit giesst er Wasser
auf die Mühlen der Gegner einer Redimensionierung des Bruderholzspitals. Insbesondere den Initianten der
wohl zustande kommenden Volksinitiative für den Erhalt des Bruderholzspitals dürfte diese chefärztliche Schützenhilfe noch grösseren Auftrieb verleihen. Ebenfalls bezog die Ärztegesellschaft Baselland diese Woche öffentlich
Stellung gegen den Abbau eines stationären Grundversorgungsspitals im
unteren Baselbiet. Dazu Rutishauser:
«Der offene Brief der Ärztegesellschaft
Baselland an Herrn Regierungsrat
Weber spricht mir aus dem Herzen.»
KSBL-CEO Jürg Aebi wollte zu diesen neusten Entwicklungen nicht Stellung nehmen. Das KSBL will den Standort Liestal stärken. Liestals Chefärzte
für Medizin und Chirurgie werden nun
für alle drei KSBL-Standorte zuständig
sein. Doch das Problem liegt darin, dass
das Bruderholzspital noch bis zu sieben
Jahre funktionieren sollte. Ob das mit
all den Abgängen möglich ist, wird von
Branchenkennern stark bezweifelt.
Foto Bettina Matthiessen
Regierungsräte verteidigen ihr Spitalkonzept
Liestal. Dienstag, 19.30 Uhr, Kaserne
Liestal, Filmsaal. Der Baselbieter
Gesundheitsdirektor Thomas Weber
(SVP) und sein Basler Kollege Lukas
Engelberger (CVP) stellten sich in der
ersten von insgesamt drei öffentlichen
Veranstaltungen den Fragen der
Öffentlichkeit zur Zukunft des Gesundheitswesens in der Region. Obwohl es
nicht alle Tage vorkommt, dass zwei
Regierungsräte der Bevölkerung Rede
und Antwort stehen, fanden nur gerade
50 Personen den Weg in die Kaserne.
Und von den Anwesenden waren
einige Mitarbeitende der beiden Regierungsräte. Auch sonst waren vor allem
Fachleute und Interessenvertreter da.
Gut präsent waren etwa die Gegner
der Abbaupläne auf dem Bruderholz.
Wer auf Neuigkeiten hoffte, wurde enttäuscht. Die Regierungsräte erklärten
bloss, weshalb eine gemeinsame
Spitalgruppe zwischen Kantonsspital
Baselland und Uni-Spital Basel notwendig sei, und weshalb der aktuelle Zeitpunkt eine sehr gute Chance darstelle.
Trotz des möglichen Leistungsabbaus
im unteren Baselbiet blieb die Stimmung in Liestal ruhig. Nur einmal
wehrte sich der ehemalige Chefarzt auf
dem Bruderholz, Hans Kummer, vehement gegen den Vorwurf der Regierungsräte, dass die Ärzte in der Region
auch unnötig operieren würden. Das sei
ein ungeheurer Vorwurf, schimpfte
Kummer. Doch Weber entgegnete, dass
man klare Indizien dafür habe und man
dies auch deutlich benennen müsse.
Der Bettenabbau auf dem Bruderholz
und Anreize für ambulante Behandlungen würden unnötige Operationen, und
damit Kosten, verhindern.
Ebenfalls angesprochen wurden die
Abgänge im Bruderholzspital. Es wurde
daran gezweifelt, ob die Gesundheitsversorgung gesichert sei. Kritik wurde
ebenfalls geäussert, dass kein roter
Faden, keine Strategie erkennbar sei.
Die Regierungsräte widersprachen,
beschwichtigten, doch die Fragen
konnten sie meist noch nicht konkret
beantworten, weil erst im Herbst 2016
die Fakten zu der zu gründenden
Spitalgruppe auf dem Tisch liegen.
Am Ende gab es für die Anwesenden
einen Bhaltis sowie einen Apéro mit
Lachs- oder Pilzrisotto und dazu Wein
und non-alkoholische Getränke. jho
Schmerzvolle Begegnung mit der Bestie
Angeklagter traf im Gericht auf seine Stieftochter, die er jahrelang vergewaltigte – es kam zum Eklat
Von Alexander Müller
Reinach. Als Toni Sorg* gestern vom
Nebenzimmer, wo er die Befragung
seiner Stieftochter Dalika* via Video
verfolgte, in den Gerichtssaal gebracht
wurde, verlor die gebürtige Thailänderin ihre Fassung und konnte die Tränen
nicht mehr zurückhalten. Vor ihr sass
der Mann, der die heute 27-Jährige
während Jahren unzählige Male sexuell
missbrauchte, als sie noch ein Kind war.
Zuvor schilderte die mittlerweile
verheiratete Frau, wie sie glücklich in
Thailand in ärmsten Verhältnissen bei
ihrer Grossmutter gelebt hatte, als ihre
Mutter, die mit Sorg verheiratet war,
nach zwei Jahren in der Schweiz plötzlich wieder auftauchte und sie und ihre
jüngere Tochter in die Schweiz holte.
Sie erzählte, wie sie von der Mutter
und vom Stiefvater regelmässig verprügelt wurde, wie sie mit ihrer Schwester
im Nebenzimmer wartete, während
ihre Mutter mit wechselnden Männerbekanntschaften intim war, wie die
beiden Kinder vom Stiefvater immer
wieder während vielen Stunden im
Zimmer eingesperrt wurden und ihre
Notdurft in irgendwelche Behältnisse
verrichten mussten, die sie gerade
fanden. Und wie ihr Stiefvater sie während über fünf Jahren alle paar Tage
missbrauchte, bis sie 14 Jahre alt war.
Dies hörte erst auf, als sie einmal von
der Mutter, die nach wie vor mit dem
Stiefvater liiert ist, in flagranti erwischt
wurden.
Ehemann wusste von nichts
Dalika konnte nur mit Mühe die
Fassung wahren, als sie erzählte, wieso
sie sich nach über zehn Jahren dazu
entschloss, ihren Peiniger anzuzeigen.
Sie vertraute sich der Frau von Sorgs
Bruder an, der sofort klar war, wovon
Dalika sprach. Sorgs Schwägerin
erzählte Dalika davon, dass ihr Stiefvater sich bereits an der Tochter seiner
ersten Ehefrau vergangen haben soll.
Und in jungen Jahren soll der Schweizer
sogar seine eigene Schwester missbraucht haben.
Beide Vorfälle wurden nie angeklagt
und sind mittlerweile verjährt. «In diesem Moment wurde mir bewusst, dass
es nicht nur mir passiert ist. Ich hatte
nun auch Angst um meine Tochter.» Sie
erzählte erstmals ihrem Ehemann von
ihrer Leidensgeschichte, der aus allen
Wolken fiel. Zu diesem Zeitpunkt
wohnte das Paar wegen finanzieller
Probleme zusammen mit ihren drei
Kindern nämlich wieder im Haus des
Stiefvaters – mit ihrem Peiniger unter
dem gleichen Dach im Laufental.
Dass Opfer und Täter überhaupt
direkt im Gerichtssaal aufeinandertrafen, war dem Wunsch des Täters
geschuldet, seine Reue zum Ausdruck
zu bringen. Unter Tränen entschuldigte
sich der 72-Jährige bei Dalika.
Und dann jammerte er: «Warum
tust du mir das an?» Er meinte damit die
Gewaltvorwürfe. In der Wahrnehmung
des 72-Jährigen war der Sex zwischen
ihm und seiner Stieftochter mehr oder
weniger einvernehmlich. Er habe nie
etwas gemacht, wenn sie nicht gewollt
hätte, sagte er dem Gericht bei jeder
Gelegenheit. Und er habe nie Gewalt
angewendet.
Die Kontrolle verloren
Für Dalika gab es danach kein Halten mehr. Tränenüberströmt fuhr sie
ihren Stiefvater an: «Warum heuchelst
du jetzt so? Ich wünschte mir, dass du
verstehst, was du mir angetan hast. Man
fasst ein Kind nicht an! Ich sage dir jetzt
leb wohl, Toni.» Danach stürmte die
junge Frau aus dem Gerichtssaal.
Gerichtspräsidentin Jacqueline Kiss,
die das Verfahren bis zu diesem Zeitpunkt unaufgeregt geleitet hatte, entglitt mit dem Zulassen des direkten Aufeinandertreffens von Opfer und Täter
ein wenig die Kontrolle. Später bezeichnete sie Sorg unter dem Eindruck des
Gehörten als «Bestie». Sie ärgerte sich
darüber, dass der Beschuldigte viele
Vorwürfe mit einem knappen «Ich habe
halt nicht so viel überlegt» abtat. «Sie
haben über Jahre mehrfach nichts
studiert», sagte Kiss. «Das ist doch keine
Antwort!»
Hohe Genugtuung gefordert
Staatsanwältin Caroline Horny
zeichnete von Sorg das Bild eines despotischen und sadistischen Mannes.
«Einem Kind das Kissen aufs Gesicht zu
drücken, um den Widerstand gegen den
ungewollten Geschlechtsverkehr zu
brechen, ist skrupellos und grausam.»
Sorgs Verschulden wiege ausgesprochen schwer, sagte Horny. «Die neue
Heimat, die Dalika nie gewollt hatte,
wurde für sie zur Hölle.» Der Beschuldigte, der seit einem Jahr im vorzeitigen
Strafvollzug ist, zeige eher Selbstmitleid als Reue. Sie wies darauf hin, dass
ein psychiatrisches Gutachten keine
verminderte Schuldfähigkeit feststellen
konnte.
Die Staatsanwältin forderte eine
unbedingte Gefängnisstrafe von 13 Jahren und zehn Monaten. Dalikas Opfervertreterin machte zudem eine Genugtuungsforderung von 70 000 Franken
geltend. Das Gericht eröffnet das Urteil
nächste Woche. * Namen geändert