Gut, böse, blind «Die Gewalt an Frauen ist subtiler geworden»

4 Schweiz
WOZ Nr. 22 28. Mai 2015
25 JA H R E F R AU E N - N OT T E L E F O N
«Die Gewalt an Frauen
ist subtiler geworden»
Als Beraterinnen beim Frauen-Nottelefon Winterthur unterstützen
Kristin Murpf und Doris Binda Frauen, die Opfer von physischer
oder psychischer Gewalt geworden sind. Hierfür wird ihnen auch schon
mal «Emanzentum» vorgeworfen.
VON NINA LAKY (INTERVIEW) UND ANDREAS MADER (FOTO)
Die Beraterinnen Doris Binda (links) und Kristin Murpf lassen sich den Humor nicht nehmen.
Sie lachen viel, die beiden Frauen von der Bera- Gewalt. Die Mitarbeiterinnen des Nottelefons
tungsstelle Frauen-Nottelefon in Winterthur. sind ihrerseits verpflichtet, mit den Betroffe«Wir haben trotz der Thematik den Humor nicht nen Kontakt aufzunehmen. Die Täter werden
verloren», sagt Doris Binda. Die 47-Jährige sitzt ans Mannebüro vermittelt.
mit ihrer Mitarbeiterin Kristin Murpf an einem
Holztisch im Sitzungszimmer an der TechniKeine ideologischen Gespräche
kumstrasse 38 und erzählt von ihrer Arbeit, in
den Nebenräumen finden die Beratungen statt. «Ich war acht Jahre alt, als wir unser altes PupDas Schönste sei, wenn eine Frau ihr Büro ge- penlädeli dem Frauenhaus spendeten», erinstärkt verlasse, fügt Murpf hinzu: «Ich arbeite nert sich Kristin Murpf. «Dass es so etwas gibt,
hat mich nicht mehr losgelassen.»
gerne hier. Auch wenn ich viele
erschütternde Geschichten höre.»
Ihr Gerechtigkeitssinn habe sie
Vor 25 Jahren richtete eine «Wir helfen
schliesslich dazu getrieben, nach
Gruppe von Fachfrauen aus dem Frauen,
dem Psychologiestudium einer
Umfeld des Winterthurer Frau- ihre Rechte
Arbeit im Bereich der O
­ pferhilfe
enhauses eines der ersten Fraunachzugehen. Eine Frau solle selwahrzunehmen,
en-Nottelefone der Schweiz ein.
ber über ihr Leben und ihre ZuDie 24-Stunden-Hotline sollte das ist alles.»
kunft entscheiden können, nicht
Frauen in akuten Notlagen zur Kristin Murpf, Psychologin
ihr Chef, nicht ihre Familie und
nicht ihr Ehemann. Murpf arSeite stehen, zum Beispiel unbeitete in verschiedenen Frauen­
mittelbar nach einer Vergewaltihäusern, vor eineinhalb Jahren
gung. Aus dem Telefondienst von
kam die heute 36-Jährige zum
damals ist mittlerweile eine gemäss Opferhilfegesetz anerkannFrauen-Nottelefon Winterthur.
te Beratungsstelle mit sieben Mitarbeiterinnen Doris Binda ist gelernte Sozialpädagogin und
und regulären Büroöffnungszeiten geworden. seit 2011 beim Frauen-Nottelefon, zuvor hatte
Die Stelle kostet die öffentliche Hand 628 000 sie jahrelang in einem Mädchenhaus gearbeitet:
Franken im Jahr, zehn Prozent des Gesamtbud- «Ich war schon immer ein politischer Mensch
gets kommen von privaten SponsorInnen.
und bin mit feministischen Grundideen aufgewachsen.» Auch das Frauen-Nottelefon bezeichnet sich als feministische Organisation. Immer
Steigende Klientinnenzahl
wieder werde ihnen deswegen «Emanzentum»
Seit 1993 sind die Kantone gesetzlich verpflich- vorgeworfen, von Ehemännern, aber auch von
tet, kostenlose Opferhilfe zu gewährleisten. An- Politikern. «Dabei führen wir keine ideologispruch darauf hat jede Person, die durch eine schen Gespräche auf der Beratungsstelle», sagt
Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder Kristin Murpf. «Wir helfen Frauen, ihre Rechte
psychischen Integrität unmittelbar beeinträch- wahrzunehmen, das ist alles.» Die beiden haben
tigt worden ist. Auch im Kanton Zürich gibt es sich in verschiedenen Weiterbildungskursen
verschiedene Anlaufstellen, das Frauen-Not- für den neuen Job fit gemacht, im Opferhilfetelefon Winterthur steht dabei ausschliesslich kurs sei es vor allem um rechtliche Grundlagen
Frauen offen. Im Jahr 2014 hat die Beratungs- gegangen: «Ich musste vieles dazulernen. Im
stelle 1070 Klientinnen beraten, 44 mehr als Mädchenhaus hatte ich beispielsweise nichts
im Vorjahr. Sie waren betroffen von Stalking, mit dem Eherecht zu tun», erzählt Binda.
Drohungen, sexuellen Übergriffen oder psychiDieser Tage feiern Kristin Murpf, Doris
scher Gewalt.
Binda und ihre Kolleginnen das 25-jährige BeDass die Zahl der Klientinnen in den stehen der Beratungsstelle Frauen-Nottelefon
letzten Jahren stetig gestiegen ist, hat verschie- mit einem Strassenkonzert. Der Zukunft schaudene Gründe. Zum einen seien Frauen heute en sie allerdings eher besorgt entgegen. Die Opwohl schneller bereit, sich Hilfe zu holen. Zum ferhilfe ist zwar gesetzlich verankert, kann also
anderen seien die Formen von Gewalt subtiler nicht ersatzlos gestrichen werden, doch die fiund vielfältiger geworden, sagt Kristin Murpf: nanzielle Lage ist auch im Kanton Zürich ange«Früher konnte man die Klingel ausschalten spannt. «Es wäre fatal, wenn wir beispielsweise
und sich einschliessen. Durch die neuen Kom- die Sitzungszahl pro Frau begrenzen müssten»,
munikationsmittel ist Stalking permanent sagt Kristin Murpf. «Jeder Fall ist individuell»,
möglich.» Fälle von Cybermobbing hätten bei- ergänzt Doris Binda. «Wir müssen nun mit dem
spielsweise klar zugenommen.
Politlobbying vorwärtsmachen. Es braucht uns
Trotz anfänglicher Skepsis hat die Bera- auch in Zukunft. Denn eine gewaltfreie Welt
tungsstelle die Zusammenarbeit mit der Polizei werden wir nicht erleben.»
in den letzten Jahren verstärkt. Seit dem 2007
Jubiläum 25 Jahre Beratungsstelle Frauenin Kraft getretenen kantonalen GewaltschutzNottelefon, Donnerstag, 28. Mai, 18 Uhr,
gesetz informiert die Polizei die BeratungsstelRathausdurchgang Winterthur. Mit japanischer
Trommelmusik der Gruppe Deep Groove.
le über jeden Vorfall häuslicher oder sexueller
WICHTIG ZU WISSEN
WAS W E ITE R G ESC HAH
Gut, böse, blind
RUEDI WIDMER
Der rote Filz, der keiner ist
Eigentlich hätte das mehrfach straffällige
­S econdopaar aus St. Gallen die Schweiz längst
Richtung Italien verlassen müssen. Alle Instanzen bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte hatten die Rekurse der seit
Geburt in der Schweiz lebenden Heroinsüchtigen abgewiesen. Für sie gab es bloss noch eine
Hoffnung: ein Wiedererwägungsgesuch an die
St. Galler Regierung. Ende 2014 hiess die SPRegierungsrätin Heidi Hanselmann das Gesuch
gut. Nun darf das Ehepaar bleiben.
Dagegen liefen SVP und «Weltwoche»
Sturm. Der Entscheid sei Resultat eines «effizienten und reibungslosen» roten Filzes. Denn
das Wiedererwägungsgesuch fiel in die Zuständigkeit von zwei von der SP geführten Departementen. Eigentlich hätte Justizdirektor Fredy
Fässler entscheiden müssen. Weil er aber das
Paar vor seiner Wahl in die Regierung als Anwalt vertreten hatte, trat er in den Ausstand.
Das von der Gesamtregierung bestimmte Stellvertreterdepartement ist immer die Gesundheitsdirektion unter Hanselmann. Auf Antrag
der SVP-Fraktion beauftragte das Kantonsparlament die Rechtspflegekommission, «diesen Fall
weiter abzuklären». Jetzt liegt das Gutachten
vor: «Das Wiedererwägungsverfahren wurde
korrekt abgewickelt, die geltenden Zuständigkeits- und Verfahrensregeln wurden eingehalten.» Dafür hätte es kein Steuergeld verschwendendes Gutachten gebraucht. Das hätten SVP
und «Weltwoche» mit minimaler Recherche
selbst herausfinden können. A N D R E A S FAG E T T I
Nachtrag zum Artikel «Schutz für Secondos und
Secondas» in WOZ Nr. 49/14.
über knallhartes Rechnen und die Erbschaftssteuerinitiative
Peter Spuhler (SVP) holt auch links oft Sympathie, weil er nicht einfach mit luftigem Geld
handelt, sondern handfeste, besteigbare Schienenfahrzeuge für den ÖV herstellt. Ausserdem
hat er den menschlichen Vorteil, relativ ruhig
und gelassen zu sprechen, was in einer Partei
von Hitz- und Halbköpfen schnell einmal auffällt. Nur sollte der Ton Spuhlers nicht darüber
hinwegtäuschen, dass auch er zwangsläufig ein
knallharter Rechner ist.
Doch die Angestellten und Büezer der
Schweiz sind keine knallharten Rechner, sondern Gefühlsdusler, die, wenns etwas komplizierter wird als bei der Coop-Sparaktion, gleich
dankbar und gottesfürchtig werden und finden, man solle jetzt doch mal zufrieden sein
mit dem, was man hat.
Diese zwinglianische Verstandeslähmung ist ein grosses Unter- und Mittelschichtsproblem.
Nur diejenigen, die am meisten Milliarden und Millionen besitzen, sind offenbar frei
von dem edlen Gedanken der Genügsamkeit.
Dabei haben sie so viel bekommen in den letzten
zehn Jahren, die Unternehmenssteuer­reform II
zum Beispiel. Wer Kinder hat, kennt das Phä-
nomen: Wenn sie ein Zältli mehr als üblich bekommen, muss es gleich nochmals eins sein.
Die Begründung für Steuergeschenke ist
im rechten Abstimmungsgeheul stets das «Wohl
der Schweiz» und nicht das Portemonnaie der
Villenbesitzerinnen und Cayenne-Fahrer. Allenfalls lässt man noch Arbeitsplätze, die dann
doch nicht entstehen, als Argument gelten.
Die Schweiz als Idee ist dann unwichtig, wenn es der Wirtschaft gut geht. Wenn es
nicht mehr so rund läuft, muss sie den ökonomischen Graben zwischen Besitzenden und
Nichtbesitzenden kitten. In Deutschland muss
Deutschland kitten, in Russland Russland (oder
die Ukraine). Eine solche Schweiz steht letztlich
dem Wohl der Schweiz im Weg. Sie ist Heilsversprechen wie Totschlagargument. Die Schweiz
macht die SchweizerInnen blind.
Die Angst der Mittelschicht vor sowohl
der Ober- wie der Unterschicht führt auch in
Deutschland zu absurden Blüten. So regen sich
die deutschen BerufspendlerInnen bei den
Bahnstreiks nicht etwa darüber auf, dass ihre
KollegInnen in den Lokführerständen Hungerlöhne erhalten von einem stets Milliarden­
gewinn machenden Unternehmen, sondern
dass die Züge nicht fahren. Bei einem Kinofilm
oder einer Sendung über ein elendes afrikanisches Land würden sie umgekehrt denken.
Die deutschen LokführerInnen haben wie
Spuhler knallhart gerechnet und kamen zum
Schluss: Es geht so nicht weiter. Ich kenne einen
bürgerlichen KMU, der überrascht herausgefunden hat, dass sein Geschäft mit einem Ja zur
Erbschaftssteuerinitiative besser fährt als beim
fanatischen Nein des Gewerbeverbands. Er hat
bemerkt, dass er auf die Portemonnaies seiner
KundInnen angewiesen ist und nicht auf die
Steuerspargelüste der Oberschicht.
Um das ökonomische Bewusstsein beim
Volk steht es nicht sehr gut: Eine Freundin von
mir sprach eine Migros-Kassierin an, die den
KundInnen die Bezahlautomaten erklären
musste. Sie sagte, halb sarkastisch, halb peinlich berührt: «Ist es nicht seltsam, wenn man
den Kunden den eigenen Arbeitsstellennachfolger schmackhaft machen muss?» Die Angestellte sagte, daran habe sie noch gar nie gedacht.
Lösen wir am 14. Juni, gemäss der bürgerlichen Losung für Afrika, die Probleme
gleich hier vor Ort, damit wir nicht bald nach
China flüchten müssen.
Ruedi Widmer ist KMU in Winterthur, wo die
dringend notwendige Steuererhöhung den
Weltuntergang des Bürgertums bedeutet.