In Schönheit lernen

DIE ZEIT vom 23.12.2015
Autor:
Seite:
Rubrik:
Benedikt Erenz
83 bis 85
Chancen
Jahrgang:
Nummer:
Auflage:
Gattung:
Wochenzeitung
Reichweite:
2015
52
585.407 (gedruckt) 496.946 (verkauft)
513.571 (verbreitet)
1,66 (in Mio.)
DIE KATHEDRALEN DES WISSENS
In Schönheit lernen
Prunkvolle Aulen, prächtige Hörsäle und Bibliothekspaläste sind der Stolz jeder Universität.
Doch brauchen wir das alles noch? Ein Abgesang
VON BENEDIKT ERENZ
Erste Zeichen großen Wandels sind oft
unscheinbar, wohl wahr. Irgendetwas ist
plötzlich verschwunden, und es dauert
eine Zeit, bis man ganz begreift, was da
wirklich vor sich geht.
Gleich neben Hamburgs Universität gibt
es eine Buchhandlung. Im Laufe der
achtziger und neunziger Jahre wuchs sie
unaufhaltsam die Straße entlang. Wo
immer in der Nachbarschaft eine Drogerie oder ein Lampenladen schloss, zogen
Bücher ein. Bald gab es ein Geschäft für
Belletristik, eines nur für Geschichtsbücher und Philosophisches, eines für Reiseführer und so weiter. Doch dann
stockte der Ausbau plötzlich. Und nicht
lange nach der Jahrtausendwende
begann die Buchhandlung wieder Laden
um Laden zusammenzuschrumpfen,
schneller, als sie sich ausgedehnt hatte.
Heute besteht sie nur noch aus einem
einzigen lichten Ladenlokal.
In den Universitätsvierteln vieler Großstädte hat man dergleichen in den vergangenen Jahren erlebt, selbst in Städten mit Traditions-Unis wie zum Beispiel in Bonn. Die Straße Am Hof just
gegenüber dem Stadtschloss mit der
Philosophischen Fakultät war einst ein
einziges Buchgeschäft. Jetzt ist ein einziges geblieben (und ein Modernes
Antiquariat).
Der Grund für diese Entwicklung findet
sich schnell: Die Universitäten, das
heißt die Studierenden und Lehrenden,
kaufen keine Bücher mehr.
Sie brauchen keine Bücher mehr.
Alles im Netz.
Wenn aber die Lehrenden und Studierenden keine Buchläden mehr brauchen,
wie lange brauchen sie dann noch Universitätsbibliotheken? Es ist eine Frage
der Zeit - sagen wir, zehn oder 15 Jahre?
- , bis alle, aber auch wirklich alle
Bücher und Zeitschriften der Welt eingescannt und online zu lesen sind.
Schon seit Längerem erscheinen viele
wissenschaftliche Aufsätze exklusiv im
Netz. Wer setzt sich da in einen Lesesaal (selbst wenn der vor seinem Fenster ein so atemraubendes Rhein-Panorama bietet wie just in Bonn)? Wer
schleppt da noch Folianten nach Hause?
Wer bestellt da noch "über Fernleihe"
und wartet drei Monate auf ein Buch,
um dann zu erfahren, dass es leider verstellt wurde? Selbst die allerverstaubtesten, rarsten Werke, selbst zermauste
Manuskripte finden sich inzwischen
brillant aufbereitet im Netz, kinderleicht zu benutzen, zu durchblättern, zu
studieren.
Nein, keine Ausleihzettel mehr. Und
Seminarräume? Braucht man die tatsächlich noch? Hörsäle? Auch da gibt es
fabelhafte Angebote im Netz: Vorlesungen, die man am Tag oder unter Sternen
besuchen kann, an jedem Punkt der
Erde. Online-Kurse, die man gemeinsam mit anderen absolviert, das Angebot wächst unaufhaltsam. Fern-Uni - das
war mal was Exotisches. Bald wird es
der Normalfall sein. Dabei ist Fern-Uni
das falsche Wort: Netz-Uni muss es heißen. Selbst für Mediziner, Naturwissenschaftler, Techniker? Ja, selbst sie brauchen bald keine Labore und Sektionssäle mehr. Alles virtuell, alles Simulation in Echtraum und Echtzeit. Statt Leichen und Versuchskaninchen Rechner,
Rechner, Rechner.
Studierende werden sich analog nur
noch zum entschiedenen Feiern treffen
und zum fröhlichen Demonstrieren.
Zum Studieren jedenfalls braucht man
keine Universitäten mehr. So zeigen
denn auch die Fotos auf diesen Seiten
konsequent eine ziemlich menschenleere Welt.
Kathedralen des Wissens, saraströse
Tempel der Weisheit (wie die Aula der
Universität von Uppsala). Klöster, Schlösser, Theater, Bastionen, Labyrinthe
des Wissens. Das alles waren sie einmal,
von den ältesten Hochschulen des
christlichen Europas (das Anatomische
Theater in Padua) oder der islamischen
Welt (der Innenhof der Al-Azhar-Universität in Kairo) bis zu letzten Neugründungen.
Ein Ort der Widersprüche. Einkehr sollten und sollen sie bieten, Konzentration
auf den Gegenstand. Zugleich die Möglichkeit zum Streit, zur wissenschaftlichen Kritik. Es war schon immer eine
Welt der Alten, des Menschen, der idealerweise durch vielerlei Welt- und
Lebenserfahrung gegangen ist, und eine
Welt der Jungen, des Menschen vor
aller Erfahrung.
Kreuzgang, Remter und Rosengarten
boten sie in ihren dicken Mauern. Die
Baulichkeiten von Oxford und Cambridge, von Salamanca und Krakau erinnern daran, und manche Elitehochschule der USA hat diese Architektur
bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein
liebevoll nachgestellt. So speist man in
Princeton unter einem gotischen Kirchenfenster.
Doch gab und gibt es neben den efeustillen Kolloquien und düsteren Refektorien unter eulenseligem Gewölbe auch
die festlichen Säle, die großen Aulen,
wie die barocke Breslauer Aula Leopoldina, einen der schönsten Säle Mitteleuropas. Gern nacherschaffen mit tüchtig
Stuck und Schnitzerei in historistischer
Zeit, wie zu Heidelberg, oder in ausladende Fresken gewandet, die eine ehrfürchtige Geschichte der Reformation
erzählen, wie Marburgs Alte Aula.
In Schönheit lernen.
Es ist der Traum vom hohen Raum, der
den Gedankenflug ermutigt. Vom freien
Blick, der Durchblick gibt. Von angemessenen Proportionen, die dem Wissen das rechte Maß vermitteln. Von
historischen Bildern, die inspirieren und
die Fantasie beflügeln. Und doch sind
das relativ neue Vorstellungen. Die alten
Festsäle waren ja nicht für den täglichen Unterricht gedacht. Sie huldigten
weniger den Musen als den fürstlichen
Mäzenen. Man lehrte und lernte meist in
eher tristen Räumen. Tatsächlich sind
nur die wenigsten der frühen Hochschulen explizit als solche erbaut worden.
Noch etliche der preußischen Universitäten, die im 19. Jahrhundert oder
Anfang des 20. (neu) gegründet wurden,
zogen in aufgegebene Schlösser, so in
Münster, in Bonn, Hannover und Berlin.
Auch angehende Musiker- und Malerfürsten nutzen bis zum heutigen Tag altfeudale Gemäuer: Bei Halle an der Saale
zogen sie auf die Burg Giebichenstein,
und Essens Folkwangschule quartierte
sich im Schloss der Werdener Äbte ein.
Hörsäle und Hörsaalgebäude waren und
bleiben das Zentrum jeder Universität.
Eigentlich nur Riesenklassenzimmer,
sind sie zugleich Theaterräume. Jedes
Podium, und besteht es bloß aus einem
Katheder, ist eine Bühne. Mancher Professor, manche Professorin genießt das.
Ihre Vorstellungen sind ausgebucht. Bei
anderen sitzen am Ende des Semesters
nur noch vorne, in der ersten Reihe, fünf
Japaner.
Dem Autor unvergessen sind die geisterhaften Performances des Philosophieprofessors P. Stets betrat er, ein ratzingerhaftes Männlein, den Hörsaal - es
war der größte der Universität - mit
streng zu Boden gesenktem Blick,
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huschte scheuen Schritts zum Katheder,
schlug dort sein eigenes, Jahre zuvor
erschienenes Handbuch auf und las daraus eine akademische Stunde lang mit
leiser, monotoner Stimme vor. Beim
Glockenton schlug er das zerfledderte
Buch erleichtert zu, trat abermals
gesenkten Blickes und nunmehr roten
Kopfes ab und flüchtete zur Tür wie ein
Kaufhausdieb, der schon Enttarnung
wittert. Großartig. Eine Figur wie aus
einem Endspiel von Samuel Beckett.
Das Auditorium, das oft genug nur aus
dem Autor dieser Zeilen bestand und
einigen befreundeten Beckettianern, war
begeistert.
Andere Lehrkräfte wiederum sangen zum Beispiel das Nibelungenlied.
Andere boten Conférence und Comedy,
Polemik, Pedanterei, Diashow, analytisches Solokonzert und Feuerwerk. Oder
ließen zur militärhistorischen Anschauung Vorderlader durch die Reihen wandern. Es wird nicht so einfach sein, das
alles in den digitalen Auftritt zu integrieren.
Akademien, Universitäten! Paläste der
Forschung! Bastillen der Lehre! Nun
wird die Menschheit bald ohne euch
sein. Die Gehäuse bleiben zurück wie
leere Schneckenhäuser am Wegrain,
prachtvolle, in allen Perlmuttfarben des
Geistes schimmernde Muschelschalen.
Wir betrachten die Fotos auf diesen Seiten: eine fast schon verwunschene Welt.
Die Jungen schauen von ihren Monito-
ren, Displays und Touchscreens auf und
staunen über die Bücher aus Pergament
oder Papier, in Leder gebunden, die
viele Regale bis zur hohen Decke füllen.
In dämmrigen Höhlen oder in transparenten, aus sich heraus leuchtenden Riesentabernakeln wie in Yale.
Aber selbst die letzten, die gerade noch
gebauten Bibliotheken und Universitäten zitieren die alte Architektur, wollen
gotische Dome und barocke Paläste des
Wissens sein, Speicher der Erfahrung.
Doch ihre Zeit ist vorbei. Nicht einmal
das geradezu kalifornische Sportschwimmbad der Amerikanischen Universität in Beirut kann darüber hinwegtäuschen.
Jetzt, so lautet das Ideal, das Versprechen des 21. Jahrhunderts, kann jeder
jederzeit an jedem Ort alles studieren,
alles lesen, alles wissen, was er will.
Über alle Unter- und Obergrenzen hinweg, unter der gigantischen Cloud des
Weltwissens, spannen sich Seminare
und Vorlesungen in allen Sprachen. Da
braucht es den einen Hörsaal, die eine
Bibliothek nicht länger. So wunderschön die alten und viele der neuen Universitäten auch anmuten: Sie sind, mit
all ihren Lebensgeschichten und akademischen Schwänken, längst Ruinen,
Relikte. Weltkulturerbe wie die Akropolis oder Angkor Wat, ein Fall für Fotobände, Wandkalender und Bildungskanäle. Nur wissen sie es noch nicht.
Uppsalas Uni, die älteste Hochschule Skandinaviens (seit 1477), glänzt mit einer Aula
aus dem 19. Jahrhundert
1. Princeton, USA (seit 1746/1896) Ein Dom? Nein, eine Mensa: der
neugotische Speisesaal von Procter Hall. Princeton, zunächst eine Schule für presbyterianische
Geistliche und erst später zur Universität erhoben, ist ein Inbegriff der US-amerikanischen
Elite-Bildung
2. Bonn, Deutschland (seit 1818) Heinrich Heine, Marx und Nietzsche
studierten hier, Adenauer, Goebbels und Habermas. Bonns Uni, eine preußische Gründung, bezog
das ehemalige kurfürstliche Schloss; es blieb bis heute das Herzgehäuse der
Hochschule
3. Kairo, Ägypten (seit 972) Vielleicht ist sie die älteste überhaupt:
die Al-Azhar-Universität in Kairo. Zweifellos aber verfügt die fromme Akademie, einst als
Schule für Theologie und Recht gegründet, über einen der schönsten akademischen Innenhöfe der
Welt
4. Padua, Italien (seit 1222) Sie war lange die Universität der
Republik Venedig; Galileo Galilei lehrte hier zu Beginn des 17. Jahrhunderts, fast zwanzig
Jahre. Vor allem war sie ein Zentrum der Medizin, das Anatomische Theater (1594) kündet
davon
5. Doha, Katar (seit 1973) Kalkulierter Minimalismus und Urformen der
Geometrie prägen die Gebäude der Hochschule des islamischen Staates Katar. Doch so modern die
Architektur, so konservativ der Lehrbetrieb: Gelernt wird streng nach Geschlechtern getrennt
6. New Haven, USA (seit 1701/1887) Auch die Elite-Uni Yale in
Connecticut, aus einem College hervorgegangen, setzte nach 1945 gern auf moderne Architektur.
Die magisch leuchtende Beinecke Library entstand 1962 nach Entwürfen von Gordon
Bunshaft
7. Berlin, Deutschland (seit 1809) Holzmodern präsentiert sich seit
2009 die Bibliothek der Berliner Humboldt-Uni (unter dem absurd schwerfälligen Namen
"Jacob-und- Wilhelm-Grimm-Zentrum"): Der Schweizer Max Dudler entwarf kantige
Leseterrassen
8. Paris, Frankreich (seit 1797) Eine Pilgerstätte der Weltkunst - das
ist die École des Beaux-Arts in Paris. Denn sie bietet nicht nur herrliche Hörsäle, sondern
besitzt darüber hinaus Tausende Werke berühmter Maler, Grafiker und Bildhauer quer durch die
Kunstgeschichte
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9. Beirut, Libanon (seit 1866) Ein protestantischer Missionar aus den
USA war ihr Gründervater: Die Amerikanische Universität hat alle Kriege und Bürgerkriege
überlebt. Hinter dem Schwimmbad für die Sportstudenten beginnt gleich das Mittelmeer
10. Breslau, Polen (seit 1702/1811) Zunächst gab es da die Palais der
polnischen Piasten, dann stiftete Kaiser Leopold I. eine Jesuitenakademie, daraus wurde eine
preußische Universität. Barocke Pracht umloht bis heute die Studenten, wie in der Aula
Leopoldina von 1732
Foto: Guillaume de Laubier/Knesebeck Verlag
Fotos 1, 5, 6, 8, 9, 10: Guillaume de Laubier, aus dem Bildband: "Die schönsten
Universitäten der Welt", Knesebeck Verlag, München, 2015
Fotos 2, 3, 4, 7: Christian Kober/laif; Shutterstock; Massimo Siragusa/laif;
Stefan Kunert/ullstein
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