Integrationspolitik auch nicht als notwendig angesehen wird. Gleichwohl wurde auch in Kanada eine Integrationsinfrastruktur aufgebaut, nämlich das Canadian Immigrant Integration Program (CIIP) (ab 2007 zunächst als Pilotprogramm und seit 2010 als Regelstruktur). Ein zentraler Aspekt dieses Programms ist, dass es bereits im Herkunftsland versucht,165 potenzielle Zuwanderer nach Kanada kostenfrei und ohne Verpflichtung auf den kanadischen Arbeitsmarkt vorzubereiten. Das CIIP besteht aus drei Elementen: (1) In einem eintägigen Workshop werden Zuwanderungsinteressierte über die Besonderheiten des kanadischen Arbeitsmarktes informiert. (2) Eine stärker personalisierte Beratung informiert darüber, welche Schritte für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration erforderlich sind. (3) Die dritte Komponente schließlich stellt verschiedene internetgestützte Instrumente zur Jobsuche vor und vermittelt ggf. auch einen direkten Kontakt zu möglichen kanadischen Arbeitgebern. B.2.3 Frankreich: Integrationspolitik und Republikanismus Während bei multikulturalistischen Strategien zur Förderung von Teilhabe im Fokus steht, kulturelle Identitäten und damit ggf. auch Differenz anzuerkennen und aufrechtzuerhalten, folgt das republikanische Modell der entgegengesetzten Logik: Anstelle von Differenz und ihrer staatlichen Aufrechterhaltung und Förderung ist hier Indifferenz gegenüber Differenz zentral. Den Idealtypus eines republikanischen Einwanderungslands verkörpert Frankreich. Während in multikulturalistischen Ländern Gleichheit dadurch hergestellt werden soll, dass Sonderrechte und Gruppenprivilegien allen gewährt werden, geht Frankreich den umgekehrten Weg: Gleichheit soll dadurch hergestellt werden, dass jegliche Sonderrechte und Partikularprivilegien verweigert werden; dies ist kombiniert mit der Erwartung, dass die Zuwanderer sich anpassen. Der Republikanismus als Staatsphilosophie ist damit als ‚farben- und kulturblind‘ konzipiert, über ethnisch-religiöse Fragen legt sich der von John Rawls so bezeichnete „Schleier des Nichtwissens“ (vgl. Bertossi 2007). Ein Resultat dieser Indifferenzstrategie ist, dass Differenz markierende (religiöse) Symbole und Accessoires in Frankreich parteiübergreifend (d. h. von Gaullisten wie von Sozialisten) abgelehnt werden. Das Kopftuch ist keineswegs das einzige umstrittene Symbol, lediglich ein besonders offensichtliches.166 Die Religionsfreiheit ist auch in Frankreich als wichtiges und schützenswertes Gut anerkannt, doch gilt sie gegenüber den republikanischen Werten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als nachrangig und Religion als Privatsache. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die in Frankreich feststellbare „Marginalisierung ethnischer und religiöser Themen im öffentlichen Diskurs“ (Pries 2013b: 195, Übers. d. SVR).167 Der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnisch-kulturellen Gruppe, die für die Niederlande (in der Vergangenheit) und für Kanada zentral war bzw. ist und staatlich anerkannt bis unterstützt wird, entspricht in Frankreich die Zugehörigkeit zur „communauté des citoyens“ (Schnapper 1994) und damit eine politische Zugehörigkeit im Sinne eines „plébiscite de tous les jours“ (Ernest Renan). Die citoyenneté grenzt sich bewusst von der nationalité ab, die lediglich den Besitz der staatsbürgerlichen Rechte bezeichnet, und beinhaltet ein Bewusstsein als am Gemeinwohl beteiligter Bürger. Insofern ist das französische Konzept nicht exklusiv auf Zuwanderer abgestimmt, sondern „ein Konzept der gesamtgesellschaftlichen Integration“ (Heckmann/Tomei 1997: 34).168 Integrationspolitik existiert somit nur als allgemeine Integrationspolitik in Bezug auf die eigenen (bzw. zukünftigen) Staatsbürger.169 Insofern ist eine auf ethnischen Merkmalen basierende Förderung oder auch nur die separate statistische Erfassung ethnischer Minderheiten mit dem Republikanismus als Staatsphilosophie nicht vereinbar;170 zudem gilt sie als dem Zusammenhalt der Gesellschaft abträglich (s. dazu auch Kap. B.6). Dass Zuwanderer und ihre Nachfahren trotzdem sozial benachteiligt sind, wird in Frankreich entsprechend nicht als einwanderungspolitische, sondern ausschließlich als sozialpolitische Frage adressiert, etwa durch gezielte Förderung von Stadtteilen, die als prioritär förderbedürftig gelten (Michalowski 2007; Wuhl 2008).171 INTEGRATIONSPOLITIK IM INTERNATIONALEN VERGLEICH INTEGRATIONSPROGRAMME FÜR NEUZUWANDERER 165 Entsprechende Angebote bestehen derzeit in China, Indien, den Philippinen, Großbritannien, Bahrain, Bangladesch, Bhutan, Finnland, Indonesien, Irland, Japan, Kuwait, Malaysia, Nepal, Norwegen, Oman, Katar, Saudi-Arabien, Singapur, Sri Lanka, Schweden, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Jemen. 166 In Frankreich gibt es schon seit 1905 ein Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche (laïcité). Es bildet eine wichtige institutionelle Stütze der ‚republikanischen Blindheit‘ für ethnische, kulturelle und eben auch religiöse Unterschiede. 167 Die starke Betonung der laïcité kann auch als eine Folge der Zuwanderung von Personen muslimischen Glaubens angesehen werden. Dieses Modell ist jedoch nicht uneingeschränkt akzeptiert. So finden sich parteiübergreifend sowohl Vertreter eines strengen Republikanismus als auch solche, die mit der Einführung multikultureller Elemente bzw. der Anerkennung von Differenz sympathisieren. 168 Dies geht einher mit einem historisch gewachsenen starken Zentralismus: Regionale Identitäten erscheinen ebenso als Bedrohung für die Nation wie die partikularen Identitäten von Einwanderern. 169 Eine besondere Rolle spielen dabei die Schule, das Militär und die Arbeitswelt als gesellschaftliche ‚Assimilationsmaschinen‘. 170 Vgl. dazu den Dissens zwischen zwei französischen Demografen zu der Frage, ob ethnische Kategorien im französischen Zensus separat statistisch erfasst werden sollen, der u. a. bei Michalowski (2007: 39–40) und Pries (2013b: 192) angesprochen wird. 171 Bei der Identifikation solcher prioritären Stadtteile spielen Indikatoren wie der Anteil von immigrés oder étrangers zumindest offiziell keine Rolle. Jahresgutachten 2015 97
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