FORTBILDUNG . SEMINAR SEMINAR Prof. Dr. med. Stephan Martin Westdeutsches Diabetesund Gesundheitszentrum (WDGZ), Verbund Katholischer Kliniken Düsseldorf (VKKD), Düsseldorf Körperliche Aktivität in der Prävention Aufstehen und dem Diabetes davonlaufen! S. Martin Die Publikationen der vergangenen Jahre unterstreichen: Körperliche Aktivität beugt Krankheiten vor. Wahrscheinlich reicht schon eine geringe Steigerung der täglichen Bewegung aus, um Typ-2-Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen entgegenzuwirken. Es lohnt sich also, Ihre Patienten frühzeitig zu einem aktiveren Lebensstil zu motivieren. Körperliche Aktivität kommt zu kurz Häufig werden die Begriffe körperliche Aktivität und Sport gleichgesetzt. In der modernen Gesellschaft überwiegen aber sitzende Tätigkeiten. In einer Metaanalyse wurde daher der Zusammenhang zwischen sitzend verbrachter Zeit und Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie der Gesamtsterblichkeitsrate bzw. Sterblichkeitsrate aufgrund von HerzKreislauf-Ereignissen untersucht [1]. In den Datenbanken Medline, Em base und Cochrane Library wurde nach entsprechenden Studien (Querschnittsbzw. prospektive Studien) gesucht. Wie bei solchen Analysen üblich, wurden von zwei unabhängigen Reviewern die relativen Risiken bzw. Hazard Ratios mit 95%-Konfidenzintervallen extrahiert. 18 Regelmäßiger Sonderteil der MMW-Fortschr. Med., herausgegeben von der Fachkommission Diabetes in Bayern – Landesverband der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, Dr. med. Andreas Liebl (1. Vorsitzender), Bad Heilbrunn Redaktion: PD Dr. M. Hummel, Rosenheim (Koordination); Prof. Dr. L. Schaaf, München (wissenschaftliche Leitung) Studien mit 794.577 Teilnehmern wurden in diese Arbeit einbezogen. Mortalität, die Inzidenz von kardiovaskulären Erkrankungen, aber auch für die Krebsmortalität, die Krebsinzidenz und die Inzidenz von Typ-2-Diabetes. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine zuvor publizierte Studie [3]. Dabei wurden körperliche Aktivität in der Freizeit, die Gehgeschwindigkeit und der Ruhepuls im Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Sterblichkeit untersucht. Für die Gehgeschwindigkeit konnte eine Risikofaktor langes Sitzen Das Ergebnis: Bei Personen mit einer sehr langen Sitzdauer – im Vergleich zu denen mit sehr kurzer Sitzdauer – steigt des relative Risiko für Diabetes um 112%, für Herz-Kreislauf-Ereignisse um 147%, für Sterblichkeit aufgrund von HerzKreislauf-Ereignissen um 90% und für vorzeitigen Tod insgesamt um 49%. Durch die statistische Adjustierung wurde versucht, nur den Faktor des Sitzens zu berücksichtigen und andere Einflussfaktoren wie regelmäßige körperliche Aktivität oder Essverhalten vernachlässigen zu können. Diese Daten zeigen, dass unabhängig vom Bewegungsverhalten langes Sitzen mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko assoziiert ist. In einer weiteren, sehr aktuellen Metaanalyse zu diesem Thema wurde die Zeit des Sitzens anhand von 14 speziell selektierten Studien mit über 800.000 Probanden untersucht [2]. Die Probanden wurden auf die Rate an Hospitalisierungen, Entstehung von kardiovaskulären Erkrankungen, Krebs sowie Diabetes und auch auf die Gesamtmortalität hin analysiert. Auch hier ergaben sich signifikante Assoziationen für die Gesamtmortalität, die kardiovaskuläre © Digital Vision. / thinkstock.com __Als Ursache des Typ-2-Diabetes werden viele Faktoren diskutiert. Meist haben sie mit der körperlichen Aktivität und dem Ernährungsverhalten zu tun. Daher sind die Studienergebnisse aus den vergangenen Jahren besonders interessant, die Bewegungs- und Fernsehverhalten sowie Ernährungsfaktoren auf die Entwicklung von Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen und Mortalität erfassen. Die Informationen dazu sollen helfen, bei der Beratung von Patienten auch Positivbeispiele nennen zu können. Diabetologie für den Hausarzt Neben der Inaktivität machen auch Kalorienbomben das Dauerfernsehen so ungesund. MMW Fortschritte der Medizin 2015 . S3 / 157 97 FORTBILDUNG . SEMINAR Bei der Analyse von Lebensstilfaktoren und Krankheitsentstehung stellt sich die Frage, in welchem Maß genetische Einflüsse eine zusätzliche Rolle spielen. In einer Studie mit 28-jähriger Beobachtungszeit an Zwillingen wurde untersucht, inwieweit körperliche Aktivität vor dem Auftreten von Typ-2-Diabetes schützt [5]. Gleichgeschlechtliche Zwillingspaare aus Finnland, die vor 1958 geboren wurden, machten zu Beginn der Studie im Jahre 1975 anhand eines Fragebogens Angaben zu ihrer körperlichen Aktivität. Die 20.487 Teilnehmer (davon 8.182 Zwillingspaare) wurden anhand ihrer körperlichen Aktivität, gemessen in metabolischen Äquivalenten (MET), in Quintile unterteilt. Während der Beobachtungszeit traten 1.082 Typ-2-Diabetes-Fälle auf. Die Teilnehmer in den MET-Quintilen III–V hatten ein signifikant niedrigeres Risiko für das Auftreten von Typ-2-Diabetes als jene im Quintil mit überwiegend sitzenden Tätigkeiten. Dies zeigt, dass auch bei gleichem genetischem Risiko körperliche Aktivität mit der Krankheitsentwicklung assoziiert ist. Anti-Aging durch körperliche Aktivität Der Zusammenhang von körperlicher Aktivität und dem allgemeinen Gesundheitszustand bei Menschen im hohen Alter wurde in einer weiteren Studie überprüft [6]. In die Nurses Health Study wurden insgesamt 13.535 Teilnehmerinnen aufgenommen, die zu Beginn im Jahr 1986 keine schwerwiegenden chronischen Krankheiten hatten und im Zeitraum von 1995– 2001 70 Jahre oder älter waren. „Gesundes Altwerden“ wurde erreicht, wenn die Personen keine von zehn 2,0 p<0,001 1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 1 2 3 4 Quintile für körperliche Aktivität schweren chronischen Erkrankungen, keine Herz-Bypass-Operationen sowie keine Einbußen der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit und der seelischen Verfassung aufwiesen. Je nach körperlicher Aktivität wurden die Teilnehmer in Quintile unterteilt. Ab der dritten Aktivitätsgruppe konnte ein signifikanter Anstieg der Wahrscheinlichkeit für ein „gesundes Altwerden“ im Vergleich zum Quantil mit der geringsten körperlichen Aktivität beobachtet werden (Abb. 1). In einer weiteren prospektiven Studie mit 5.859 Personen aus der EPIC-Studie (European Prospective Investigation Into Cancer and Nutrition) wurde der Effekt der körperlichen Aktivität auf die Mortalität bei manifestem Typ-2-Diabetes untersucht [7]. Die Ergebnisse zeigen, dass auch bei einem manifesten Typ2-Diabetes körperliche Aktivität mit einem geringeren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und für Gesamt sterblichkeit assoziiert ist. Zusammenfassend zeigen diese Studien, dass körperliche Aktivität ein Anti-Aging-Faktor ist. Dabei scheint sie nicht nur vor Typ-2-Diabetes zu schützen, sondern ist auch bei Berücksichtigung von vielen anderen Einflussfaktoren mit einer reduzierten Mortalität durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Malignome assoziiert. Desweiteren gibt es einen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und verbessertem Gesundheitszustand. 5 Mod. nach [6] Einfluss genetischer Faktoren Abb. 1 Körperliche Aktivität und Gesundheit im Alter Wahrscheinlichkeit für „gesundes Altern” Odds Ratio inverse Assoziation zur allgemeinen Sterblichkeitsrate, zur Sterblichkeitsrate aufgrund von Herzerkrankungen sowie zur Mortalität aufgrund von Krebserkrankungen festgestellt werden. Diese Ergebnisse werden von einer Untersuchung unterstützt, wonach sich bereits die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs zur Arbeit im Vergleich zum Autofahren positiv auf die Gesundheit auswirkt [4]. Das Thema körperliche Aktivität muss in der gesundheitspolitischen Diskussion stärker betont werden. Viele Abläufe der modernen Gesellschaft sind mit Inaktivität verbunden – vielleicht sollten Maßnahmen, die Inaktivität fördern, steuerlich belastet werden? Fernsehkonsum Inaktivität wird durch Errungenschaften der modernen Zeit gefördert, etwa durch das Fernsehen. Wie lange nutzen die Deutschen die Angebote der Fernsehanstalten? Der Fernsehkonsum der Deutschen ab dem 3. Lebensjahr liegt aktuell im Schnitt bei 214 Minuten täglich [8]. In einer Kohorte aus Australien wurde der Einfluss der Fernsehdauer auf die Mortalität untersucht [9]. Während einer Beobachtungszeit von 58.087 Personenjahren ereigneten sich 284 Todesfälle (87 durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 125 durch Krebs). Nach Adjustierung auf Alter, Geschlecht, Taillenumfang und Sportverhalten war das Risiko für die Gesamtmortalität für jede zusätzliche Stunde Fernsehkonsum pro Tag um 11% signifikant erhöht. Für Tod durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen ergab sich ein erhöhtes Risiko von 18% und für Krebstod von 9%. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Analyse der populationsbasierten EPIC-Studie [10]. Auch in einer Metaanalyse wurde die quantitative Beurteilung von Fernsehkonsum und Erkrankungen erfasst [11]. Untersucht wurden sämtliche prospekti- MMW Fortschritte der Medizin 2015 . S3 / 157 99 FORTBILDUNG . SEMINAR Abb. 2 Zusammenhang zwischen Fernsehen, Diabetes und Mortalität Täglicher Fernsehkonsum* in Deutschland: 214 Minuten Typ-2-Diabetes 1,75 1,5 1,5 Mod. nach [11] 1,25 1,25 1,0 1,0 0 2 4 6 Fernsehkonsum, h/d ven Kohortenstudien im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und dem Risiko für Typ-2-Diabetes, für Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit tödlichem bzw. nicht tödlichem Ausgang sowie der Gesamtsterblichkeitsrate (Abb. 2). Das gepoolte relative Risiko pro zwei Stunden Fernsehkonsum am Tag lag für Typ-2-Diabetes bei 1,20, für HerzKreislauf-Erkrankungen bei 1,15 und für die Gesamtsterblichkeit bei 1,13. Nahrungsaufnahme beim Fernsehen Neben der Inaktivität scheint die vermehrte Nahrungsaufnahme während des Fernsehkonsums von besonderer Bedeutung zu sein. Dieser Zusammenhang konnte in einer Untersuchung der „Healthy Lifestyle in Europe by Nutrition in Adolescence (HELENA)“-Querschnittsstudie bestätigt werden [12]. Demnach begünstigt überdurchschnittlich hoher Fernsehkonsum den gleichzeitigen Verzehr von Snacks und Getränken mit hoher Energiedichte. Interessanterweise nehmen Jugend liche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status mit höherer Wahrscheinlichkeit ungesunde Getränke während des Fernsehens zu sich. Auch wenn man bei der Nutzung von Computern ebenfalls sitzt, scheint dies nicht so gefährlich zu sein wie das Fernsehen [13]. 100 Gesamtsterblichkeit 2,0 1,75 RR 1,75 Herz-Kreislauf-Erkrankungen (tödlich oder nicht tödlich) RR 2,0 RR 2,0 *Statista MMW Fortschritte der Medizin 2015 . S3 / 157 8 1,5 1,25 1,0 0 2 4 Fernsehkonsum, h/d Interaktive Videospiele Eine andere Studie zeigt, dass Patienten mit Typ-2-Diabetes über das Fernsehgerät auch zu vermehrter körperlicher Aktivität motiviert werden können. Durch das interaktive Videospiel „Wii Fit Plus“ konnten in einem randomisiert kontrollierten Studiendesign die metabolischen Werte und Parameter der Lebensqualität signifikant verbessert werden [14]. Zusammenfassend belegen diese Studien eine erhebliche Gesundheitsgefährdung durch Fernsehen. In der medial geprägten Öffentlichkeit liegt der Fokus der „Schuldzuweisungen“ für den ungesunden Lebensstil primär auf der Nahrungsmittelindustrie. Deren Rolle soll hier nicht klein gemacht werden, allerdings muss der Blick auch auf andere Dinge gerichtet sein. Nochmal zurück zu der australischen Studie, in der eine 11%ige Steigerung der Gesamtsterblichkeit und eine 18%ige Steigerung der Herz-Kreislauf-Sterblichkeit pro Stunde Fernsehen nachgewiesen wurde. Bei Betrachtung des erwähnten Mittelwerts von 214 Min. Fernsehkonsum in Deutschland, also mehr als 3 h/ Tag, würde dies Folgendes bedeuten: Die Gesamtsterblichkeit wird dadurch um 33% und die Herz-Kreislauf-Sterblichkeit um 54% gesteigert. Vergleicht man diese Werte mit der Sterblichkeit durch das Zigarettenrauchen, entspricht dies täglich 6 0 4 2 Fernsehkonsum, h/d 6 zehn Zigaretten. Wenn davon ausgegangen wird, dass nur ein Drittel der Bevölkerung (noch) raucht, müsste es somit mehr Todesfälle durch Fernsehen als durch Rauchen geben. ■ FAZIT FÜR DIE PRAXIS 1.Der Typ-2-Diabetes ist eine durch den Lebensstil ausgelöste Erkrankung. Dabei spielt nicht nur die Ernährung eine Rolle, sondern es wird zunehmend auch eine fehlende körperliche Aktivität als Ursache gesehen. 2.Ein wesentlicher Faktor, der zur körper lichen Inaktivität führt, ist Fernsehen. Metaanalysen zeigen, dass ein erhöhter Fernsehkonsum mit der Entwicklung von Typ-2-Diabetes, aber auch kardiovasku lärer Mortalität assoziiert ist. ȖȖ Literatur: springermedizin.de/mmw ȖȖ Title and Keywords: Physical activity in prevention of type 2 diabetes Physical activity / type 2 diabetes / television and disease development ȖȖ Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. med. Stephan Martin Westdeutsches Diabetes- und Gesundheitszentrum, Verbund Katholischer Kliniken Düsseldorf, Hohensandweg 37, D-40591 Düsseldorf, E-Mail: stephan. [email protected] Literatur 1. Wilmot EG, Edwardson CL, Achana FA, Davies MJ, Gorely T, Gray LJ, Khunti K, Yates T, Biddle SJ. Sedentary time in adults and the association with diabetes, cardiovascular disease and death: systematic review and meta-analysis. Diabetologia. 2012; 55: 2895-905 2. Biswas A, Oh PI, Faulkner GE, Bajaj RR, Silver MA, Mitchell MS, Alter DA. Sedentary Time and Its Association With Risk for Disease Incidence, Mortality, and Hospitalization in Adults: A Systematic Review and Meta-analysis. Ann Intern Med. 2015 Jan 20;162:123-32 3. Batty GD, Shipley MJ, Kivimaki M, Marmot M, Smith GD.Walking Pace, Leisure Time Physical Activity, and Resting Heart Rate in Relation to Disease-Specific Mortality in London: 40 Years Follow-Up of the Original Whitehall Study. An Update of Our Work with Professor Jerry N. 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Sluik D, Buijsse B, Muckelbauer R, Kaaks R, Teucher B, Johnsen NF, Tjønneland A, Overvad K, Ostergaard JN, Amiano P, Ardanaz E, Bendinelli B, Pala V, Tumino R, Ricceri F, Mattiello A, Spijkerman AM, Monninkhof EM, May AM, Franks PW, Nilsson PM, Wennberg P, Rolandsson O, Fagherazzi G, Boutron-Ruault MC, Clavel-Chapelon F, Castaño JM, Gallo V, Boeing H, Nöthlings U. Physical Activity and Mortality in Individuals With Diabetes Mellitus: A Prospective Study and Meta-analysis. Arch Intern Med. 2012: 1-11 8.http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2913/umfrage/fernsehkonsum-derdeutschen-in-minuten-nach-altersgruppen/ 9. Dunstan DW, Barr EL, Healy GN, Salmon J, Shaw JE, Balkau B, Magliano DJ, Cameron AJ, Zimmet PZ, Owen N. Television viewing time and mortality: the Australian Diabetes, Obesity and Lifestyle Study (AusDiab). Circulation. 2010; 121: 384-9124) 10. Wijndaele K, Brage S, Besson H, Khaw KT, Sharp SJ, Luben R, Wareham NJ, Ekelund U. 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