Gewalt wahrnehmen – erkennen – vermeiden Ich freue mich sehr über die Einladung, bei Ihrer Tagung 1 über Gewalt sprechen zu dürfen. Ich bin Psychologin und Psychotherapeutin und seit vielen Jahren im ifs in der Opferschutzarbeit tätig, vorwiegend im Kinderschutz und in der Prozessbegleitung. Ich habe zwei Jahre lang in der Opferschutzkommission des Landes Vorarlberg gearbeitet und wir haben in dieser Zeit Anträge von über hundert Menschen bearbeitet, die in Einrichtungen des Landes Vorarlberg – vorwiegend Erziehungsheim, aber auch andere Institutionen – von Gewalt betroffen waren. Ich habe mit vielen Opfern Gespräche geführt und mich mit deren Lebensgeschichten befasst, die mich sehr berührt und schockiert haben. Das Ausmaß der Gewalt, die damals vor allem sozial benachteilige und arme Kinder, die als „schwererziehbar“ bezeichnet wurden, getroffen hat, war absolut erschreckend. Außerdem bin ich Leiterin der Ombudsstelle der Diözese Feldkirch und dort Ansprechperson für Menschen, die von Gewalt durch die Kirche betroffen sind – sowohl in der Vergangenheit als auch für aktuelle Situationen. Was mich tröstet, ist, dass diese schwere Gewalt, wie sie die Kinder vor 50 oder 60 Jahren erlebt haben, heute nicht mehr denkbar ist. Die Gesellschaft hat sich verändert, das Bewusstsein der Menschen hat sich geändert, die Gesetze haben sich geändert. Unsere demokratische Grundordnung hat sich hier durchaus positiv ausgewirkt. Menschen sind Aggressivität und Gewalt seitens anderer Menschen ausgesetzt. Wenn wir nicht verstehen, wie sie entstehen, können wir die oft gravierenden Folgen nicht vermeiden. Wenn wir die Gründe verstehen, fällt es uns leichter, mit schwierigen Situationen umzugehen und professionell zu handeln. Was unterscheidet Selbstbehauptung von Aggression und Gewalt? Wie entsteht Gewalt? Wie läuft der Gewaltkreislauf ab? Welche Formen der Gewalt gibt es? Wie können wir sie wahrnehmen, erkennen und vermeiden? Wie können wir in schwierigen Situationen konstruktiv mit Gewalt und Aggression umgehen? Dazu möchte ich aus meiner Erfahrung berichten. 1 1 Dr. Ruth Rüdisser hielt diesen Vortrag anlässlich der Fachtagung der Österreichischen Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe (BAWO) im Mai 2015. Selbstbehauptung, Aggression und Gewalt Wenn man Gewalt erklären will, muss man zunächst die Unterschiede zwischen Selbstbehauptung, Aggression und Gewalt klären. Im Alltagsverständnis vermischen sich die Begriffe. Selbstbehauptung Selbstbehauptung ist der Überlebenswille. Selbstbehauptung heißt: Ich bestehe auf meinem Recht und auf meiner Meinung. Ich möchte, dass meine Mitmenschen anerkennen, dass ich das Recht habe, selber zu entscheiden, wie ich denke, fühle und handle. Es ist für uns alle wichtig, dass wir uns durchsetzen können. Selbstbehauptung wird aber dann zum Problem. Wenn Menschen ihre Rechte nur durch aggressives Verhalten durchsetzen können. Wenn ihnen geeignete Ressourcen fehlen, vor allem wenn sie nicht über sich, ihre Bedürfnisse und Wünsche reden können. Aggression Vom Lateinischen „sich nähern“ oder „angreifen“. Die Spannbreite reicht von einem grollenden Gesichtsausdruck bis hin zum atomaren Krieg. Aggression ist ein biologisch fundiertes Verhaltensmuster, um Ressourcen zu gewinnen und zu verteidigen und gefährliche Situationen zu bewältigen. Lempert geht sogar so weit zu sagen, wenn ein Mann einer Frau eine rote Rose überreicht, dann ist das ein aggressiver Akt. Gewalt Gewalt hingegen ist das, was Opfer schafft. Gewalt wird definiert als Handlung, durch die jemand vorsätzlich körperlich und/oder psychisch geschädigt wird. Erscheinungsformen von Gewalt Körperliche Gewalt Darunter verstehen wir schlagen, treten, schütteln, auf den Boden schlagen, die Treppe hinunter werfen, mit Gegenständen schlagen oder stechen, verletzen … bis hin zu schwerer Körperverletzung, Tötung und Mord. Die Spuren der körperlichen Gewalt sind Verletzungen und daher meist sichtbar. Sexuelle Gewalt Wir verstehen darunter sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen sowie Vergewaltigung von Erwachsenen. Unter 14 Jahren sind Kinder geschützt vor sexuellen Kontakten mit Erwachsenen. Auch wenn keine Gewalt angewendet wird, greifen die Paragrafen 207 für sexuellen Missbrauch an Kindern und 206 für schweren sexuellen Missbrauch. Jugendliche ab 14 dürfen prinzipiell über ihre Sexualität selbst bestimmen und sind vom Gesetz nur noch teilweise geschützt (207b). Beim Delikt der Vergewaltigung einer erwachsenen Person ist nachzuweisen, dass Gewalt angewendet wurde, sie kann auch in Freiheitsentziehung oder Drohung bestehen. Sexuelle Gewalt ist oft in erster Linie eine Machtdemonstration, ein wirksames Mittel zur Unterdrückung und die Sexualität ist nur das Mittel dazu. Sexuelle Gewalt wirkt oft traumatisierend und viele Menschen leiden in der Folge 2 unter schweren Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung. Die traumatherapeutische Aufarbeitung ist ein langer und oft schmerzhafter Prozess. Diese muss sowohl an der Seele als auch – wenn körperliche Symptome wie Alpträume, Schlafstörungen, Zittern, Flashbacks, Unruhe usw. auftreten – am Körper ansetzen. Psychische Gewalt Explizite Gewaltandrohung (bedrohen, beleidigen), ausgeprägte Überwachung, krankhafte Eifersucht, degradieren, isolieren, abwerten usw. Psychische Gewalt wird oft nicht als Gewalt erkannt, obwohl sie tiefe Narben hinterlassen kann. Als Sonderformen kennen wir hier Mobbing, Bossing und Bullying. Mobbing Unter Mobbing verstehen wir Psychoterror am Arbeitsplatz: Jemanden mit einem Tier vergleichen, Schwächen verspotten, zwingen Dinge zu sagen oder zu tun. Das sind absichtliche, gezielte und wiederholte Angriffe auf KollegInnen mit dem Ziel, sie sozial auszugrenzen und zu isolieren. Einzelne Angriffe, Beleidigungen oder Streitereien sind noch kein Mobbing. Sie werden es erst durch ständige Wiederholung. Mobbing ist die Erhöhung des eigenen Selbstwerts durch die Erniedrigung anderer. Mobbing hat eine Dynamik und wird immer intensiver. Wenn die anderen wegschauen, verstärkt das die Dynamik. Es kristallisiert sich ein Opfer heraus, das Schwierigkeiten hat, sich zu verteidigen. Wir alle sind gefordert, Verantwortung zu übernehmen, einzuschreiten und Betroffene zu schützen, denn von selbst hört es nicht auf. Bossing nennt man Mobbing durch eine/n Vorgesetzte/n. Ich hoffe, Sie kennen diese Form nicht! Es sind die gleichen Mechanismen wie bei Mobbing, aber durch das hierarchische Verhältnis kann man sich noch viel weniger wehren. 3 Bullying So wird Mobbing in der Schule genannt. Das Phänomen – auch ohne den Fachbegriff – hat es immer schon gegeben. Da können Sie sich bestimmt an Vorfälle aus Ihrer eigenen Schulzeit erinnern. Neu ist heute, dass es fast immer mit Cyberbullying einhergeht. Cyberbullying meint den wiederholten und ganz gezielten Einsatz verschiedener Medien wie Handy, Facebook, WhatsApp usw. Die Gewalt wird verschoben in den virtuellen Raum. Die Besonderheiten sind: 1. Der Verursacher sieht das Opfer nicht (entwickelt keine Empathie). 2. Die Bullys können sich in der Anonymität verstecken. 3. Das Opfer sieht den/die Täter auch nicht. 4. Formen: a. schikanieren/belästigen b. herabsetzen/verleumden c. ausschließen aus der Buddylist, und jemanden auszuschließen, ist sehr kränkend, weil es ein Grundbedürfnis trifft, nämlich, dass wir zur Gemeinschaft „dazugehören“ wollen Die Methoden, jemanden fertig zu machen, haben sich dadurch immens verbessert. Neuigkeiten über jemanden, Diffamierungen, unangemessene oder bearbeitete Fotos oder Nackfotos sind schnell im Internet und auf breiter Basis verfügbar. Die Jugendlichen sind den meisten Erwachsenen in der Handhabung der neuen Medien haushoch überlegen und immer schon einen Schritt voraus. Dadurch ist es oft schwierig für Eltern und LehrerInnen, die Kinder angemessen zu schützen. Vernachlässigung kennen wir bei Kindern, wenn sie nicht angemessen versorgt werden mit Nahrung, Körperpflege, Aufsicht, Aufmerksamkeit usw., aber auch bei zu pflegenden Personen und alten Menschen, wenn zum Beispiel dem Opfer eine angemessene Dienstleistung, die Pflege absichtlich oder unabsichtlich vorenthalten wird. Sexuelle Ausbeutung Wenn Mädchen und junge Frauen aus armen Ländern aus Not oder aus Profitgier zu sexueller Ausbeutung „verkauft“ werden. Dieser Aspekt wird meines Erachtens leider bei der Diskussion über Prostitution oder über Bordelle meist vernachlässigt. Materielle Ausbeutung Wenn Menschen deren Besitz weggenommen wird oder wenn er zeitweise oder dauernd von einer unberechtigten Person benutzt wird. Missachtung von Rechten Die allgemeinen Menschenrechte oder die Kinderrechte werden missachtet. Selbstschädigung Diese Gewaltform – von „Ritzen“ bis zu schwerwiegenden Selbstverletzungen sogar suizidalen Handlungen – wird vom nahen Umfeld oft lange nicht wahrgenommen und somit auch nicht verhindert. 4 Gewaltkreislauf Gewalt und die damit verbundenen Gefühle laufen immer nach dem gleichen Muster ab, das sich im Gewaltkreislauf abbilden lässt. Breakwell (1998) hat in seinen Untersuchungen die sogenannten Angriffsphasen gefunden. Es sind dies Auslösung, Eskalation, Krise, Erholung und Depression nach der Krise. 1. 5 1. Auslösung: ist der Punkt, an dem eine Person sich von ihrem normalen Verhalten entfernt. Zum Beispiel: sie weigert sich, sich hinzusetzen, kann nicht mehr zuhören, unterbricht dauernd, beendet keine Sätze mehr, vermeidet Augenkontakt usw. Die Auslöser können entstehen durch mangelnde Privatsphäre, Alkohol, Drogen, schlechte Nachrichten, bestimmte Schimpfwörter („du Hurensohn“). Während einer solch angespannten Situation gibt es ganz viele mögliche Auslöser. Stellen Sie sich eine Frau vor, die häusliche Gewalt erlebt: Einmal war der Auslöser, dass das Essen nicht pünktlich fertig war. Also weiß sie, dass das eine Mine ist, das muss sie vermeiden. Das nächste Mal sind die Nudeln nicht „al dente“ gekocht, das ist eine Mine, das muss sie vermeiden. Das nächste Mal ist das Kind zu laut, das ist eine Mine, das ist ganz schwierig zu vermeiden. Aber selbst wenn das gelingt, dann wird es das nächste Mal einen anderen Fehler geben, den sie macht. Sozusagen wird der ganze Wohnzimmerboden zu einem einzigen Minenfeld und ihr Bewegungsraum wird total eingeschränkt. Man kann die Auslöser gar nicht vermeiden. Ich habe in der Beratung von KlientInnenen gehört, die in so einem Haushalt aufgewachsen sind und gelernt haben, ganz still zu sein, wenn der Vater alkoholisiert nach Hause kommt. 2. Eskalation: Diese Phase führt direkt zum gewalttätigen Verhalten. Daher ist es wichtig, in der Eskalationsphase so früh wie möglich zu intervenieren: zum Beispiel die betroffene Person aus der unmittelbaren Umgebung entfernen (Time-out-Technik). In dieser Phase kann das Verhalten des Betreuers (Mimik, Gestik und Körperhaltung) fehlgedeutet werden. Vermeiden Sie unbedingt: herablassend, arrogant zu sein oder sich überzuordnen, weil das die Eskalation beschleunigt. 3. Krise: Der Angreifer erregt sich körperlich, gefühlsmäßig und psychisch und verliert dabei die Kontrolle über die aggressiven Impulse, hat also keine Aggressionshemmung mehr. Beispielsweise werden Stühle umgeworfen, wird Geschirr zerschlagen. In dieser Phase ist Intervention wenig wirksam. Der Angreifer kann nicht mehr rational reagieren. Verbales Argumentieren wird ihn noch mehr provozieren. In dieser Phase sollte man sich um die eigene Sicherheit und die von anderen Personen kümmern. Die Möglichkeiten, die einem noch offenstehen, sind Flucht, Hilfe suchen oder Grenzen setzen. Für den Täter ist in diesem Moment jeder Angriff gerechtfertigt und unvermeidlich. Das Bewusstsein setzt nach den ersten Schlägen aus und es kommt zu einem Kontrollverlust, einem Blackout. Während der Gewalttat tritt für den Täter eine Entlastung ein, weil das unangenehme Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit überwunden wurde. 4. Erholung: Nach dem Gewaltakt kehrt die Person mehr oder weniger zu ihrem normalen Grundverhalten zurück. Aber der hohe Grad an psychischer und physischer Erregung kann sich noch über mehrere Stunden hinziehen. Interventionen zu diesem Zeitpunkt sind zu vermeiden, denn sie können zu Wiederholungen führen, da auf dem Weg nicht noch mal die Auslöse- und Eskalationsphase durchlaufen werden muss und der Täter zur Krise zurückkehrt und einen verkürzten Durchlauf hat. 5. Depression: Nach dem Erwachen kommt es zu einer Phase von Schuldgefühlen, Reue und Entschuldigungen. Die Krise ist vorüber. Jetzt können 6 Interventionen helfen, den Zwischenfall zu verstehen um daraus zu lernen und möglicherweise dessen Wiederholung zu vermeiden. Erst in dieser Phase wird dem Täter bewusst, dass er Gewalt ausgeübt hat. Meistens will er die Verantwortung abschieben. Warum-Fragen sind nicht hilfreich, da sie dazu dienen, Verantwortung abzuschieben, und sie haben den großen Nachteil, dass ihre Beantwortung nicht zu Veränderung führt. Der Suche nach den Ursachen und der Schuldabwehr schließt sich eine Schweigephase an. Es wird so getan, als sei nichts gewesen. Wird diese Phase des Schweigens nicht durchbrochen, schließt sich der Kreis und der beginnt wieder von vorne. Die Phasen werden, über viele Jahre betrachtet, immer schneller durchlaufen, und die Brutalität der Gewalt nimmt zu. Die Angriffsphasen sind ein nützliches Instrument für eine Prognose der Entwicklung und für ein besseres Verständnis der Reaktionen. Strukturelle Gewalt / Soziale Ungerechtigkeit Derzeit werden wir überschwemmt von Bildern wie diesem. Die Flüchtlinge, die auf den überfüllten Booten zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken. Die Berichte von den Zuständen auf den Booten sind deutliche Berichte von Gewalt und lassen uns hilflos zurück. Es ist für die Medien leichter, über direkte Gewalt zu berichten, als strukturelle Gewalt anzuprangern. Es wird klar, dass die Menschenleben, die täglich verlorengehen, infolge sozialer Ungleichheiten zerstört werden und deren Tod in einem gerechteren Gesellschaftssystem vermeidbar wäre. Die Opfer der direkten Gewalt gehen in die Nachrichten ein, diejenigen der strukturellen Gewalt in die Statistiken. Damit erhält der vom Friedensforscher Johann Galtung geprägte Satz: „Frieden ist Abwesenheit von Gewalt“ seine Gültigkeit. Die neue Technologie kann auch dazu führen, den Wissensvorsprung der reichen gegenüber den armen Ländern weiter strukturell gewalttätig auszubauen, indem man ihnen den Zugang zu den Ressourcen wie Wissen verwehrt! Handlungsmöglichkeiten – was können wir tun? Zeitliche Ebenen: 7 Prävention, Intervention, Postvention Strukturelle Ebenen: die persönliche Ebene der Einzelnen die Gruppenebene des Teams die Ebene der Institution bzw. der Leitung. Prävention Welche Möglichkeiten gibt es um Gewalt zu verhindern? In einer Einrichtung können Gewalthandlungen von allen Akteuren ausgehen: der Institution, den MitarbeiterInnen, den KlientInnen. Es liegt in der Verantwortung der Einrichtung, alle MitarbeiterInnen über Gewalt zu informieren und aufzuklären sowie Strukturen zu schaffen, dass sowohl MitarbeiterInnen als auch KlientInnen/betreute Personen am Verhindern von Gewalt beteiligt werden können. Es braucht Zeit, Raum und Möglichkeit, zu reflektieren und sich bei Bedarf Unterstützung zu holen. Wenn die Einrichtung eine klare Haltung von „Wir dulden keine Gewalt“ einnimmt, dann können MitarbeiterInnen Gewalt auch wahrnehmen, erkennen und vermeiden. Damit kann die Institution mit den Führungskräften und den MitarbeiterInnen die Verantwortung übernehmen. Wie kann die Organisation diese Haltungen und Werte verankern? 1. Wertschätzende Teamkultur: Klare Zielsetzungen, wertschätzender Umgang, gewaltfreier Umgang, MitarbeiterInnen werden sensibilisiert und dazu ermuntert, Gewaltsituationen nicht hinzunehmen. Wenn alle MitarbeiterInnen Hinweise geben, Beobachtungen mitteilen, ohne Folgen zu befürchten, dann kann das Schweigen durchbrochen werden. 2. Offene Kommunikation: Gewaltvorfälle können thematisiert werden (nicht abgetan als Missverständnis). 3. Zielgerichtetes Verbesserungsmanagement: Im Leitbild sollte die Institution eine klare Grundhaltung gegen Gewalt formulieren. Damit wird klar, dass die Problematik ernst genommen wird. Diese klare Haltung soll dann in die Papiere und Arbeitskonzepte integriert werden. Eine/n Verantwortliche/n für das Thema „Opferschutz“ bzw. „Gewaltschutz“ benennen. Es ist wichtig, das Thema „lebendig“ zu halten, sonst hat es die Tendenz, sich zu verflüchtigen, so lange, bis es zu einem aktuellen Vorfall kommt. Niemand befasst sich gern mit dem Thema Gewalt, eigentlich möchten wir lieber nichts damit zu tun haben. Ist irgendwie logisch. Klare Führungsstrukturen und ein demokratischer Führungsstil sind eher in der Lage, Gewalt zu verhindern oder – wenn sie auftritt – wieder zu stoppen. - Ein rigider, autoritärer Führungsstil, wenn Entscheidungen in erster Linie zur Machtabsicherung getroffen werden, führt zu einem Klima von Härte, Misstrauen und mangelndem Respekt und fördert eher Gewalt. - Ein diffuser Führungsstil mit diffusen Entscheidungen, wenig fachlicher Kontrolle und unklaren Zuständigkeiten fördert ebenso die Gewalt. 8 - Klarheit und Transparenz sind wesentliche Grundsätze für das Vermeiden von Gewalt. Leitung soll: - ein Klima schaffen, in dem Lob und Kritik zum Tragen kommen. - über Nähe und Distanz wachen zwischen sich und den MitarbeiterInnen, zwischen den MitarbeiterInnen sowie zwischen den MitarbeiterInnen und den KlientInnen. - wenn regelmäßige Gespräche mit den MitarbeiterInnen geführt werden – und zwar wertschätzend und unterstützend – dann wird es möglich, erste Anzeichen von Gewalt anzusprechen. - Regel der Abstinenz besagt, dass es den MitarbeiterInnen nicht erlaubt ist, private Beziehungen zu den KlientInnen einzugehen. - klare Dienstanweisungen helfen auch, z. B. der Grundsatz, dass die Privatnummer nicht weitergegeben werden darf. - Kontrollfunktion – die die Leitung ja hat – soll offen thematisiert und ausgeübt werden. - Fachaufsicht und Einarbeitung soll delegiert werden, aber in engem Austausch stehen. - Fortbildung und Supervision. Ich empfinde es als Privileg im Sozialbereich, dass diese inzwischen schon zum Standard gehören. Auch diese Möglichkeit der Reflexion fördert einen gewaltfreien Umgang. Einstellung von MitarbeiterInnen - Schon beim Einstellungsgespräch kann man Gewalt thematisieren, man kann nach der Einstellung zu Gewalt fragen oder nach heiklen Situationen, zum Beispiel: „Wenn Sie mitbekommen, dass ein Kollege von Ihnen einem Klienten gegenüber Gewalt anwendet, was würden Sie tun?“ - Polizeiliches Führungszeugnis ist heute schon selbstverständlich – auch bei Freiwilligen oder Zivildienern. - Im Dienstvertrag kann angeführt werden, wie Gewalt sanktioniert wird, ethische Grundlagen (Achtung von Kinderrechten, Menschenrechten, Abstinenzgebot) können im Anhang formuliert sein. Es können Regeln über den Umgang mit Fehlverhalten in der Institution ausgehändigt werden. Es soll klar sein, was als Übergriff verstanden wird. Die Grenze zwischen gutgemeinter Nähe und anders motiviertem Übergriff kann fließend sein. Eine Atmosphäre der Transparenz und der regelmäßigen Reflexion macht unklare Situationen besprechbar. Es ist hilfreich, wenn MitarbeiterInnen verpflichtet sind, Verdachtsmomenten nachzugehen und die Leitung zu informieren (ohne eigenen Nachteil). Als Beispiel möchte ich Ihnen den Verhaltenskodex vorstellen, den wir im ifs erarbeitet haben. Der Verhaltenskodex zeigt den gewünschten Umgang der MitarbeiterInnen untereinander und mit den KlientInnen und SystempartnerInnen. 9 1. Wir begegnen einander mit Wertschätzung und Respekt vor der Würde eines jeden Menschen. 2. Alle haben ein Recht auf persönliche Integrität. Niemand darf ein Abhängigkeitsverhältnis für seine persönlichen Interessen missbrauchen. Die Vermischung von beruflichen und privaten Beziehungen ist daher zu vermeiden. Die Privat- und Intimsphäre von MitarbeiterInnen und KlientInnen muss respektiert werden. Dazu gehört auch, dass ein Körperkontakt nicht gegen den Willen von Betroffenen und nur mit einer fachlichen Begründung erfolgen darf. 3. Jeder hat ein Recht auf Abgrenzung und Beratung. Besonders betroffen sind jene, die mit Schutzbedürftigen arbeiten und Gefahr laufen, ungewollt in schwierige Situationen gebracht zu werden (z.B. durch Androhung von Gewalt durch KlientInnen). Es gibt interne Ansprechpersonen, die bei Grenzverletzungen zu Rate gezogen werden können (die jeweiligen LeiterInnen und die Mitglieder der Gewaltschutzkommission). 4. Wir haben Grenzen, die niemals überschritten werden dürfen. Absolut untragbar im Umgang miteinander ist die Ausübung psychischer Gewalt durch Beschimpfungen, Drohungen, Demütigungen, Mobbing und Ähnlichem. Dasselbe gilt für körperliche oder sexuelle Übergriffe. Entsprechende Verhaltensweisen müssen zur Sprache gebracht werden. All diese Formen der Gewalt werden in der Institution unter keinen Umständen toleriert. 5. Alle MitarbeiterInnen handeln als professionelle Fachkräfte. Sie sind bereit, im Team und auch mit internen und externen PartnerInnen gut zusammenzuarbeiten, und bemühen sich um eine konstruktive Kultur. Konflikte werden offen und sachlich angesprochen und Lösungsstrategien gemeinsam erarbeitet. 6. Vorgehensweise bei entsprechenden Wahrnehmungen (sensibilisiert – selbstkritisch – handlungsorientiert) Im Sinne der Transparenz werden Wahrnehmungen, die mit dem Verhaltenskodex nicht in Einklang zu bringen sind, im Rahmen eines VierAugen-Gespräches thematisiert. In Ausnahmefällen ist ein Gespräch im Vorfeld nicht zielführend (Vorwürfe der physischen oder sexuellen Gewalt), dann ist die Leitung zwingend einzubinden, die dann für die weiteren Maßnahmen verantwortlich ist. Diese Vorgaben sind für alle MitarbeiterInnen verbindlich. So oder ähnlich könnte die Leitung der Institution mitteilen, wie sie sich den Umgang der MitarbeiterInnen wünscht. Intervention Je nachdem um welche Form der Gewalt es geht, sind unterschiedliche Interventionen möglich. 1. 10 In einer akuten Gewaltsituation, wenn jemand körperlich angegriffen wird, ist der vorher beschriebene Gewaltkreislauf zu berücksichtigen bezüglich des Zeitpunkts des Eingreifens: Intervention ist nur in der Auslösephase und zu Anfang der Eskalationsphase zu empfehlen. Das oberste Prinzip ist immer Schutz und Sicherheit. Sie kennen das alle von den Sicherheitsinstruktionen bei Flügen: Da heißt es: „Wenn Masken von der Decke herunterfallen, dann setzen Sie zuerst die eigene Maske auf und dann kümmern Sie sich um Kinder oder andere hilfsbedürftige Personen.“ Das ist hier genau dasselbe – zuerst kümmern Sie sich um Ihre eigene Sicherheit, dann um die der anderen Personen. Bringen Sie niemanden auch und schon gar nicht sich selber zusätzlich in Gefahr. Zögern Sie nicht, die Notrufnummern zu wählen, um Hilfe zu holen. 2. 11 Intervention bei psychischer Gewalt am Beispiel Mobbing a. Wahrnehmen: Anzeichen von psychischer Gewalt nicht ignorieren, sondern im Gegenteil verstärkt beobachten b. Ernst nehmen: da „wo der Spaß aufhört“. Wichtig ist es, nicht zu bagatellisieren. Oft werden Opfer als „zu sensibel“ bezeichnet. Natürlich gibt es empfindlichere und weniger empfindliche Menschen. Aber es leiden alle darunter, wenn sie fortwährend ausgegrenzt werden. c. Handeln: heißt wir übernehmen Verantwortung und zwar nicht auf dem Rücken der Opfer. Die Betroffenen sollen mit einbezogen werden und hier ist es wichtig, klar zu machen, dass Gewalt – wie auch immer – nicht geduldet wird. d. Ansprechen: Sprechen Sie Konflikte, Mobbing und Gewalthandlungen an. Je früher, desto besser! Wenn es nicht angesprochen wird, haben die Mobber „freie Hand“. e. Einzelgespräche mit Betroffenen a.i. Betroffene sollen entlastet werden. a.ii. Es geht um Informationsgewinn. a.iii. Verdeutlichen Sie, dass das Opfer nicht schuld ist. a.iv. Das Selbstvertrauen des Opfers wird gestärkt. a.v. Die weitere Vorgangsweise wird abgeklärt. f. Einzelgespräche mit Verursachern a.i. Konkrete Beobachtungen werden thematisiert. a.ii. Es wird klar gemacht, dass es aufhören muss. a.iii. Verbindliche Regeln werden festlegen. a.iv. Weitere Konsequenzen werden erarbeitet, falls es nicht aufhört. a.v. Ziel des Gesprächs ist, dass der Verursacher die Verantwortung für das eigene Verhalten übernimmt. g. Klassen/Teamgespräche a.i. Es werden alle informiert über Mobbing und die Folgen. a.ii. Es wird klargestellt, dass Mobbing nicht geduldet wird. a.iii. Die Mitverantwortung der anderen wird angesprochen. a.iv. Handlungsmöglichkeiten für die Beendigung des Mobbing werden erarbeitet. h. Elterngespräche: Wenn es in der Schule passiert, sind die Eltern zu informieren i. Grundsätze sollen sein: Eingreifen statt Wegschauen und Verantwortung übernehmen statt Gleichgültigkeit. j. Hilfe zu holen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. k. ZuschauerInnen wegzuschicken ist hilfreich. l. Zunächst sollte man nicht dazwischen gehen, sondern lautstark auffordern, sofort aufzuhören (Kevin, Anna, sofort aufhören). 6 Grundregeln 1. 2. 3. 4. 5. 6. Ich greife dann ein, wenn ich selbst nicht gefährdet bin. Ich verschaffe mir einen Überblick, achte auf das Opfer und interveniere opferorientiert. Ich fordere andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf (Michael, du kommst mit mir und hilfst mir Gerhard zurückzuhalten, Maria, du schirmst Elisa ab, Achmed du holst sofort die Frau Direktorin). Ich versuche zu beschützen und zu beruhigen. Ich bringe das Opfer aus dem „Magnetfeld“. Unterschätzen Sie nicht die Energie einer Gewalthandlung, sie wirkt sich auf alle Beteiligten und auf den Raum aus. Bringen Sie das Opfer aus dem Energiefeld, sorgen Sie dafür, dass sich jemand um das Opfer kümmert. Ich sorge für eine Nachbearbeitung des Vorfalls. Postvention Was ist der bestmögliche Umgang nach dem Vorfall? Beruhigen – aufarbeiten – Konsequenzen ziehen – informieren Wie vorher am Gewaltkreislauf deutlich wurde, ist es wichtig, nach der Phase der „Depression nach der Krise“ mit der Aufarbeitung zu beginnen und nicht in „Schweigen“ zu verfallen. Wenn der Vorfall in einer Institution war: Zuerst geht es immer um Schutz und Sicherheit, muss man dahingehend etwas tun? Es ist zu überlegen, wer bei der Aufarbeitung dabei sein soll: Beteiligte, MitarbeiterInnen, Vorgesetzte, Opferschutzbeauftragte, wenn es die in der Firma gibt, ev. Fachperson von außen. Je nachdem, wer Gewalt ausgeübt hat, war es ein/e KlientIn, ein/e MitarbeiterIn oder ein/e Außenstehende/r. Dann ist zu klären, welche Konsequenzen zu ziehen sind (ev. Ausschluss oder Kündigung o.a.). Dann soll analysiert werden, wie es passieren konnte. Es wird überprüft, ob die internen Regeln eingehalten wurden bzw. wer welche Regeln nicht eingehalten hat. Dann wird darüber entschieden, ob die Regeln verändert werden müssen. Es muss auch überlegt werden, wer was braucht, um in Zukunft solche Übergriffe zu vermeiden. Die Ergebnisse der Aufarbeitung werden verschriftlicht und die MitarbeiterInnen über etwaige Änderungen informiert. Ich hoffe, ich konnte Ihnen einen kurzen Abriss über Gewalt geben und danke Ihnen fürs Zuhören! Literaturverzeichnis 12 Bandura, A. (1979). Sozial-kognitive Lerntheorie: Stuttgart Bierhoff, H.W. (1998). Aggression und Gewalt: Stuttgart Böhnisch, L. (1992). Sozialpädagogik des Kindes- und Jugendalters: Weinheim Böhnisch, L. (1997). Sozialpädagogik der Lebensalter: Weinheim bei München Breakwell, G.M. (1998). Aggression bewältigen: Bern Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt: Reinbek bei Hamburg Godenzi, A. (1993) . Gewalt im sozialen Nahraum: Basel Lempert, J. & Oelemann, B. (1995) . "...dann habe ich zugeschlagen": Hamburg Schindler, W. (1995). Mensch am Computer. Gemeinschaftswerk Evangelischer Publizistik. Auf Internet abrufbar: http://www.epv.de/joseftalmacindex.html Siegrist, A. (1999). Aggression und Gewalt in der Betagtenpflege. Bulletin der Gesundheitsförderung des Kantons Basel-Landschaft Mehr vom Leben, 1999 Müller, H.W. Gewalt. Microsoft® Encarta® 98 Enzyklopädie [Software]. 1993-1997. Redmond: Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten. Abbildung 1: Aggressionshemmung von A. Siegrist in Bulletin der Gesundheitsförderung des Kantons Basel-Landschaft, Mehr vom Leben,1999 (2), Liestal Abbildung 3: Die typischen Angriffsphasen Anmerkung. Aus Angriffsphasen (S.56, Abbildung 1) von G.M. Breakwell in G.M. Breakwell, Aggression bewältigen, 1998, Bern Kinder & Jugendanwaltschaft Tirol: Mobbing und Gewalt im Klassenzimmer, 2012 Bild aus: http://images.derstandard.at/2015/04/20/rhodos_1.jpg 13
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