Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt

Policy Paper
Effektiver Schutz vor
geschlechts­spezifischer
Gewalt – auch in
Flüchtlingsunterkünften
Heike Rabe
Impressum
Die Autorin
Deutsches Institut für Menschenrechte
Heike Rabe ist Volljuristin und seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für
Menschenrechte. Sie leitete von 2009 bis Mitte 2013
das Projekt „Zwangsarbeit heute“ und bearbeitet seit
Anfang 2014 den Themenschwerpunkt Zugang zum
Recht und geschlechtsspezifische Gewalt. Vor ihrer
Beschäftigung am Institut war sie mehrere Jahre in
der Evaluation von Praxisprojekten und Gesetzen zu
den Themen häusliche Gewalt, Prostitution und Menschenhandel tätig.
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Satz:
Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig
Policy Paper Nr. 32 August 2015
ISBN 978-3-945 139-71-4 (PDF)
ISBN 978-3-945 139-72-1 (Print)
ISSN 1614-2195 (PDF)
ISSN 1614-2187 (Print)
© 2015 Deutsches Institut für Menschenrechte
Alle Rechte vorbehalten
Das Institut
Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die
unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution
Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien der
Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den
Aufgaben des Instituts gehören Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Information und Dokumentation,
angewandte Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit mit internationalen
Organisationen. Das Institut wird vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vom Auswärtigen Amt und von den Bundesministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie
für Arbeit und Soziales gefördert. Im Mai 2009 wurde
die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention im Institut eingerichtet.
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Zusammenfassung
Das Politikfeld Flucht und Asyl wird derzeit dominiert
von den Anforderungen, die sich aus der stark steigenden Zahl der Asylanträge in Deutschland ergeben.
Die Bundesregierung geht von circa 450.000 Anträgen
für das Jahr 2015 aus. Die Frage nach der Unterbringung Asylsuchender jenseits von Containern, Zelten
und überfüllten Massenunterkünften überlagert die
Diskussion um die Qualität der Unterkünfte und die
Wahrung der Rechte von Asylsuchenden und Geduldeten dort. Insbesondere der Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt und sexueller Belästigung in
Unterkünften wird derzeit kaum thematisiert. Dies
trifft insbesondere vulnerable Flüchtlingsgruppen wie
Frauen, die circa ein Drittel der Antragsteller_innen
ausmachen, sowie Schwule, Bisexuelle, Trans*- und
Inter*-Menschen (LSBTI).
Häufig zieht sich Gewalt durch mehrere Phasen ihres Lebens in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht. Die
Flucht vor geschlechtsspezifischer Verfolgung und Gewalt begründet einen flüchtlings- und menschenrechtlichen Anspruch auf Schutz in Deutschland. Doch auch
in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland laufen Menschen Gefahr, sexualisierte oder häusliche Gewalt durch
Partner, Bewohner oder Personal zu erleben. Insbesondere der letzte Aspekt wird in der gegenwärtigen Diskussion um die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland
wenig beachtet. Dabei sind die Aufnahmestaaten menschenrechtlich verpflichtet, effektiv zu gewährleisten,
dass sich für geflüchtete Frauen und LSBTI die Gewalt
nicht fortsetzt. Das gilt unabhängig davon, ob sie in privaten Wohnungen, kleinen Gemeinschaftsunterkünften
oder großen Erstaufnahmeeinrichtungen leben.
Insbesondere die Istanbul-Konvention des Europarates gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt
sieht umfangreiche Regelungen zu kurz- und längerfristigen Schutzanordnungen für die Betroffenen vor.
Die bevorstehende Ratifikation der Konvention durch
Deutschland war daher Anlass zu untersuchen, inwieweit die bereits existierenden Gewaltschutzmaßnahmen die Vorgaben der Konvention erfüllen.
Der Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften weist
derzeit erhebliche Defizite auf, die mit den zunehmenden Flüchtlingszahlen sichtbarer werden. Die Verortung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Flüchtlinge
auf der Schnittstelle zwischen Flüchtlings- und Frauenberatung, zwischen Zivil- und Ausländerrecht führt
dazu, dass das Thema in beiden Unterstützungssystemen bisher eine eher untergeordnete Rolle spielt. Dazu
kommt, dass die tatsächliche und rechtliche Situation
der Betroffenen vom Ausländerrecht dominiert wird,
das nicht auf Gewaltschutz ausgerichtet ist.
Das vorliegende Papier zeigt den Entwicklungsstand
des Themas in Deutschland auf. Es erörtert die Anwendbarkeit und Anwendung der Maßnahmen nach
dem Polizeirecht und Gewaltschutzgesetz und kommt
zu dem Ergebnis, dass auch die Ausländer- und Sozialbehörden eine zentrale Rolle beim Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt einnehmen müssen. Um
zu gewährleisten, dass Betroffene überhaupt Zugang
zu Schutzmaßnahmen haben, ist es notwendig, geschlechtsspezifische Gewalt in der politischen Diskussion wie zum Beispiel über Unterbringungsstandards,
Vernetzung oder Beschwerdemanagement konsequent
zu berücksichtigen.
Das Papier gibt konkrete und detaillierte Empfehlungen
für eine menschenrechtskonforme Weiterentwicklung
des Gewaltschutzsystems für Asylsuchende und Geduldete in Flüchtlingsunterkünften. Der Schwerpunkt
liegt dabei auf dem Schutz von Frauen. Im Bereich
von LSBTI sind diesbezüglich viele Aspekte noch zu
diskutieren.
3
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Inhalt
1 Einleitung – Effektiver Gewaltschutz
für alle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
4 Rechtsschutz in Unterkünften . . . . . . . . . . . 17
4.1
Kurzfristige polizeiliche Verweisung aus
der Unterkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2 Menschenrechtliche Verpflichtungen
zum Schutz vor geschlechtsspezifischer
Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
4.2
Längerfristige Maßnahmen nach dem
Gewaltschutzgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
4.3
Hausverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3 Gewaltschutz in Aufnahmeeinrichtungen
und Gemeinschaftsunterkünften . . . . . . . . . 8
5 Zusammenfassung und Empfehlungen . . . . 21
3.1
3.2
Die Situation in den Unterkünften . . . . . . . . . 10
3.2.1
Steigende Zahl von Frauen in
Unterkünften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
3.2.2
Hinweise auf eine hohe
Gewaltbetroffenheit von asylsuchenden
und geduldeten Frauen . . . . . . . . . . . . . . . 11
3.2.3
Kein standardisiertes Vorgehen bei
Gewalt in Unterkünften . . . . . . . . . . . . . . . 11
3.2.4
Kaum Frauenschutzräume oder reine
Fraueneinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
3.3
4
Ein bisher wenig bearbeitetes Thema in
Forschung und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Hindernisse im Aufenthaltsund Asylrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
3.3.1
Einschränkung des Gewaltschutzes
durch Residenzpflicht und
Wohnsitzauflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
3.3.2
Spielraum der Behörden. . . . . . . . . . . . . . . 14
5.1
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
5.2
Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
5.2.1
Anpassung der Verfahren in
Ausländer- und Sozialbehörden
an den Schutzbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
5.2.2
Rechtliche Klarstellung in Bezug auf
polizeiliche Befugnisse in Unterkünften . . 25
5.2.3
Mehr Schutz durch strukturelle
Änderungen (Innen-, Sozialund Frauenministerien) . . . . . . . . . . . . . . . 26
5.2.4
Finanzierung der Veränderung der
Praxis von Frauenberatung, Flüchtlingsberatung, Einrichtungspersonal (Frauen- und Innenministerien) . . . . . . . . 27
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Effektiver Schutz vor
geschlechtsspezifischer Gewalt –
auch in Flüchtlingsunterkünften
1 Einleitung – Effektiver Gewaltschutz
für alle?1
Spezielle polizeiliche Interventionsbefugnisse bei häuslicher Gewalt sowie das Gewaltschutzgesetz sind in
Deutschland mittlerweile seit circa 15 Jahren in Kraft.
Diese gesetzlichen Regelungen fußen auf folgenden
Prinzipien: Der Täter geht, damit die Betroffenen nicht
auch noch gegen ihren Willen mit einem Ortswechsel
belastet werden; für erste Schutzmaßnahmen zur Beendung der Gewaltsituation dürfen keine hohen Anforderungen an den Nachweis für die Gewalt gestellt
werden; Schutzmaßnahmen müssen schnell greifen.
Diese Prinzipien sind auch menschenrechtsbasiert und
liegen der Istanbul-Konvention2 des Europarates zugrunde. Sie werden derzeit in Deutschland aber nicht
für alle Gruppen von Gewaltbetroffenen umgesetzt.
Ein Beispiel3:
Frau und Herr X sind miteinander verheiratet und nach Deutschland geflüchtet. Ihnen wurde mit ihren
Kindern in einem Flächenstaat eine Wohnung zugewiesen. Sie haben eine Wohnsitzauflage für die Stadt,
in der sie leben. Herr X wird gewalttätig, Frau X ruft die Polizei. Diese erteilt eine Wegweisung und bringt
den Mann in die Psychiatrie. Das Familiengericht weist Frau X daraufhin auf Antrag die Wohnung zur alleinigen Nutzung zu (§ 2 Gewaltschutzgesetz); Herr X erhält ein Näherungs- und Kontaktverbot nach § 1
Gewaltschutzgesetz.
Aus der Psychiatrie heraus bedroht Herr X seine Familie weiterhin massiv. Frau X stellt daraufhin mit Unterstützung einer Frauenberatungsstelle und unter Vorlage der Beschlüsse des Familiengerichts einen Antrag
auf Umverteilung bei der für sie zuständigen Ausländerbehörde. Sie trägt vor, eine sichere Unterkunft zu
benötigen und gibt als Wunsch konkret eine Stadt an, in der Verwandte von ihr leben. Parallel dazu flieht
sie in ein Frauenhaus in einer anderen Stadt. Die für sie zuständige Ausländerbehörde stimmt einer Umverteilung zu. Die Behörde der Stadt, in die Frau X möchte, lehnt dies ab. Trotz anwaltlicher Schreiben und
intensiver Unterstützung durch das Frauenhaus ist die Frage nach drei Monaten immer noch nicht geklärt.
Obwohl die aufenthaltsrechtliche Zuständigkeit für Frau X noch in ihrer zugewiesenen Stadt liegt, hat die
Leistungsbehörde der Stadt, in dem das Frauenhaus liegt, die Gefährdung und damit die Notwendigkeit des
Frauenhausaufenthaltes zunächst anerkannt und die Kosten übernommen. Da eine aufenthaltsrechtliche
Klärung nicht in Sicht ist, und der Frauenhausaufenthalt aufgrund einer Tagessatzfinanzierung teurer als die
Unterbringung in der Flüchtlingsunterkunft, steht zur Diskussion, ob Frau X mit ihren Kindern zurück in eine
Gemeinschaftsunterkunft in der Stadt muss, in der sie zuerst gewohnt hat, oder ob eine andere Gemeinde
in der Umgebung Frau X unterbringt.
1
2
3
Die Autorin dankt Lisa Lührs, Referendarin am Institut von März-Mai 2015, für die Unterstützung bei der Erarbeitung des Papiers.
Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt v. 11. 5. 2011; Council
of Europe Treaty Series (CETS) Nr. 210 (Stand 02. 07. 2015).
Das Beispiel gibt einen Fall aus einer Frauenberatungsstelle in einem Flächenstaat wieder. Siehe hierzu auch die Problembeschreibung in
Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (2015): Positionspapier zur Situation gewaltbetroffener Migrantinnen mit prekärem
Aufenthalt, S. 3, 4.; Beauftragte für Migration und Integration des Landes Brandenburg (2014): Report in der Stadtverordnetenversammlung, 17. September 2014, S. 4.
5
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Die Fachdiskussion um Möglichkeiten und Grenzen
des Schutzes vor geschlechtsspezifischer Gewalt in
Flüchtlingsunterkünften steht derzeit am Anfang.
Forschungsergebnisse sowie wiederholte Einzelberichte aus der Praxis weisen aber deutlich auf Gewaltvorkommnisse hin und zeigen, dass es bei der
Anwendung rechtlicher Interventions- und Schutzmaßnahmen in Flüchtlingsunterkünften erheblichen
Entwicklungsbedarf gibt. Die bevorstehende Ratifikation der Istanbul-Konvention gab daher Anlass, zu
untersuchen, wie Deutschland seine menschenrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz vor Gewalt auch
für Flüchtlingsfrauen umsetzen kann, die aufgrund der
strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen ihres Lebens in Unterkünften, aber auch in Wohnungen
mit einer Wohnsitzauflage in ihrer Autonomie, ihrem
Zugang zum Recht und damit in ihrer Wehrfähigkeit
eingeschränkt sind.
Gewaltschutz ist in der deutschen Rechtsordnung
über mehrere Rechtsgebiete wie das Strafrecht, Familien-, Zivil- und Polizeirecht hinweg organisiert. Die
zum Teil miteinander verzahnten Regelungen verfolgen das Ziel, den Betroffenen möglichst lückenlosen
Schutz zu gewähren. Um den individuellen Verläufen
von Gewalt sowie den daraus resultierenden divergierenden Schutzbedürfnissen Rechnung zu tragen, ist
die Inanspruchnahme des Gewaltschutzsystems an
verschiedenen „Einstiegsstellen“ möglich: Je nachdem,
ob die Betroffenen unmittelbaren kurzfristigen Schutz
in einer eskalierten Beziehung benötigen oder ohne
den gewalttätigen Partner in der Wohnung längerfristig bleiben möchten, können sie „nur“ die Polizei verständigen oder auch unabhängig davon einen Antrag
beim Familiengericht auf Zuweisung der gemeinsamen
Wohnung auf alleinige Nutzung stellen. In vielen Bundesländern ist der Gewaltschutz durch Gerichte und
Behörden flankiert von Beratungsangeboten, die spezialisierte Stellen den Betroffenen pro-aktiv nach einem
Polizeieinsatz wegen häuslicher Gewalt machen.
Die Frage, inwieweit dieses Gewaltschutzsystem den
Vorgaben der internationalen und europäischen Menschenrechtsverträge entspricht, muss auf zwei Ebenen
beantwortet werden: Zum einen sind staatliche Maßnahmen wie zum Beispiel Gesetze, behördliche Erlasse
aber auch Finanzierung von Antigewaltstrukturen zu
berücksichtigen. Menschenrechte verlangen darüber
hinaus aber auch die tatsächliche Gewährleistung von
4
6
Schutz in der Praxis. Daher müssen diese Maßnahmen
effektiv sein. Dies betrifft auch ihre Umsetzung und
damit mögliche Zugangsbarrieren der Betroffenen,
Anwendung durch die Behörden oder Interpretation
durch die Gerichte.
Vorgehen und Grenzen der Untersuchung
Für das vorliegende Papier wurde die rechtliche Analyse in einem ersten Schritt mit 20 qualitativen Interviews mit Rechtsanwältinnen flankiert, die eng mit den
Frauenberatungsstellen gegen Gewalt und Frauenhäusern kooperieren. Diese wurden punktuell in verschiedenen Bundesländern, Stadt- wie Flächenstaaten, über
gezielte Informationsgespräche mit Mitarbeiterinnen
von Frauenberatungsstellen und Frauenhäusern, aus
Flüchtlingsunterkünften und der Migrationsberatung
ergänzt. Schwerpunkt der Interviews waren Erfahrungen mit Gewaltschutzfällen und Verfahren im Kontext
von geschlechtsspezifischer Gewalt in Unterkünften.
Parallel dazu wurde ein kurzer Fragebogen an die Landesinnen- bzw. Integrationsministerien geschickt, in
dem um eine Einschätzung der rechtlichen Lage sowie
Informationen über die Daten-, Konzept- und Erlasslage mit Bezug zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt in Unterkünften gebeten wurde. Insgesamt haben
10 Bundesländer geantwortet.
Die Ergebnisse bieten keine abschließende Bearbeitung
des Themas Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften,
sondern werfen auf der Grundlage des explorativen
Charakters der Untersuchung erste Schlaglichter auf
ein relativ unbearbeitetes Feld. Sie beziehen sich im
Schwerpunkt auf Frauen. Vereinzelt kann die Situation
von LSBTI mit einbezogen werden. Es können keine
Aussagen getroffen werden zum Gewaltschutz von
Kindern in Flüchtlingsunterkünften. Inwieweit dieser
gewährleistet ist, sollte gesondert untersucht werden.
2 Menschenrechtliche Verpflichtungen
zum Schutz vor geschlechtsspezifischer
Gewalt
Das Recht auf Schutz vor Misshandlung ist in den älteren Menschenrechtsverträgen wie in der Europäischen Menschenrechtskonvention4 von 1950 oder dem
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention / EMRK); in Kraft getreten
am 03. 09. 1953; BGBL 1952 II, 685 und BGBL 2002 II, 1054.
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
UN-Zivilpakt5 von 1966 noch relativ unspezifisch als
Folter- und Misshandlungsverbot formuliert und hatte
zunächst nur Gewalt durch staatliche Amtsträger im
Blick. Erst die Rechtsprechung hat die staatlichen Verpflichtungen weiter konkretisiert und auf den Schutz
vor Misshandlung durch Private erweitert. Auch in der
UN-Frauenrechtskonvention CEDAW6, einem der ersten
Menschenrechtsverträge, der 1979 im Rahmen einer
zunehmender Ausdifferenzierung der Rechte für einzelne vulnerable Gruppen entstanden ist, erfasst der Konventionstext Gewalt nicht ausdrücklich. Der Ausschuss
zur Überwachung der Frauenrechtskonvention hat geschlechtsspezifische Gewalt7 aber in seiner Allgemeinen
Empfehlung Nr. 198 später als eine Form der Diskriminierung definiert und damit verdeutlicht, dass diese in den
Anwendungsbereich der Frauenrechtskonvention fällt.9
Auf der Grundlage dieser menschenrechtliche Verträge,
insbesondere basierend auf der Spruchpraxis des CEDAW-Ausschusses und des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte (EGMR) hat der Europarat 2011
das bisher am weitesten entwickelte, rechtsverbindliche Instrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen, die sogenannte Istanbul-Konvention aufgelegt.
Sowohl die Istanbul-Konvention als auch CEDAW beziehen das sozial konstruierte Geschlecht10 und damit zum Beispiel zumindest auch Transfrauen in ihren
Schutzbereich mit ein. Der Schutz von LSBTI vor geschlechtsspezifischer Gewalt ist wie für alle Menschen
in den grundlegenden menschenrechtlichen Verträgen
festgeschrieben; mittlerweile sehr ausdifferenziert
über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu den Artikeln 3 und 8 in der
EMRK. Die sogenannten Yogyakarta-Prinzipien wiederum geben Hinweise zur Anwendung dieser internationalen Menschenrechte auf sexuelle Orientierung und
Geschlechtsidentität.
Die menschenrechtlichen Verpflichtungen sehen eine
Vielzahl an Maßnahmen zu Prävention, Intervention
und Rechtsschutz vor. Die folgende Darstellung be-
schränkt sich auf die Verpflichtung der Staaten, Betroffenen Gewaltschutz zu gewähren, der für sie sowohl zugänglich als auch effektiv ist.
Effektive Maßnahmen zum kurz- und
längerfristigen Schutz durch räumliche Trennung
schaffen
Der CEDAW-Ausschuss differenziert die Begriffe der
„geeigneten“ oder „effektiven“ Maßnahmen, die die
Staaten zum Schutz vor oder zur Verhinderung von
Diskriminierung zu ergreifen haben, in Bezug auf den
Gewaltschutz bereits weiter aus.11 Die Istanbul-Konvention geht noch darüber hinaus und formuliert konkrete Anforderungen an Schutzanordnungen.
Die Konvention umfasst Gewalt gegen Frauen und
häusliche Gewalt. In Anlehnung an CEDAW definiert
sie in Artikel 3 Gewalt gegen Frauen als eine Menschenrechtsverletzung und Diskriminierung und umfasst alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt,
die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen
oder führen können. Geschlechtsspezifisch ist Gewalt
gegen Frauen dann, wenn sie gegen eine Frau gerichtet
ist, weil sie eine Frau ist, oder wenn sie Frauen unverhältnismäßig stark betrifft. Dabei bezieht sich die Konvention explizit auf das sozial konstruierte Geschlecht.
In Bezug auf häusliche Gewalt können auch Männer in
den Schutzbereich der Konvention einbezogen werden
(Artikel 2 Absatz 2).
Artikel 52 und 53 sehen verschiedene Formen von
Schutzanordnungen vor. Artikel 52 ist überschrieben
mit dem Begriff „emergency barring order“ und bezieht
sich auf die akute Gefährdungssituation. Die Norm
verpflichtet die Staaten dazu, Eingriffsbefugnisse für
Behörden zu schaffen, über die Täter_innen häuslicher
Gewalt angewiesen werden können, den Wohnsitz der
betroffenen oder gefährdeten Person zu verlassen und
keinen Kontakt mit ihr aufzunehmen. In Deutschland
entsprechen diesen Vorgaben die polizeilichen Normen
5
6
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, BGBl. 1973 II 1553.
Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979, für die Bundesrepublik Deutschland
seit dem 9. August 1985 in Kraft, BGBl 1985 II 647.
7 Darunter versteht der Ausschuss Gewalt, die sich gegen Frauen richtet, weil sie Frauen sind, oder Gewalt, von der Frauen überproportional betroffen sind: UN, Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (1992): Allgemeine Bemerkung Nr. 19, Gewalt gegen
Frauen vom 29. 01. 1992, Ziffer 6.
8 Allgemeine Empfehlungen, bei anderen Menschenrechtsverträgen auch „Allgemeine Bemerkungen“, sind autoritative Auslegungen der
Menschenrechte durch die zuständigen UN-Vertragsorgane.
9 http://www.yogyakartaprinciples.org/ (Stand: 02.07.2015).
10 Artikel 3 c der Istanbul-Konvention; UN, Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (2010): General Recommendation
Nr. 28 on the core obligations of States parties under article 2 of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against
Women, UN- Dok. CEDAW/C/GC/2816. 10. 2010, Ziffer 16.
11 Siehe Fn. 7, Ziffer 24 ff.
7
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
der Länder zur Wegweisung12 sowie Betretungs- und
Kontaktverboten (siehe hierzu unter 4.1).
Ergänzend dazu verlangt Artikel 53, dass Schutzmaßnahmen für Betroffene aller unter den Anwendungsbereich der Konvention fallenden Formen von Gewalt
zur Verfügung stehen. Nach dem englischen und damit
verbindlichen Wortlaut der Norm kann der Staat entweder „restraining or protection orders“ gewährleisten.
Die beiden Begriffe werden in den Rechtsordnungen
der Länder des Europarates unterschiedlich benutzt.
So ist in Großbritannien und Nordirland die domestic
violence protection order die Eingriffsbefugnis für die
Polizei und die restraining order eine zivilrechtliche
Anordnung. In anderen Ländern handelt es sich jeweils
um gerichtliche Anordnungen mit unterschiedlich weitem Regelungsgehalt.
Die Auflistung beider Begrifflichkeiten in der Konvention verfolgt das Ziel, einer terminologischen Bandbereite der unterschiedlichen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten gerecht zu werden und die Verpflichtung
nicht über einen feststehenden Rechtsbegriff zu eng
zu gestalten. Die beiden Begriffe sind eher als eine
Oberkategorie denn als eine konkrete Einzelmaßnahme zu verstehen.13 Entscheidend sind die in Absatz 2
formulierten Anforderungen an die zu gewährleistenden Schutzmaßnahmen: Unabhängig davon, wie
oder in welchem Rechtsgebiet der Vertragsstaat die
Maßnahmen ausgestaltet, müssen sie als kurzfristiger Schutz, mit sofortiger Wirkung, allein auf Antrag
der Betroffenen, unabhängig von anderen rechtlichen
Verfahren, wie zum Beispiel einer Strafanzeige14, für
einen bestimmten Zeitraum und ohne unangemessenen administrativen und finanziellen Aufwand zur
Verfügung stehen. Dem entspricht in der deutschen
Rechtsordnung das Gewaltschutzgesetz (siehe hierzu
unter 4.3).
Zugang zu den Schutzmaßnahmen gewährleisten
Mangelndes Wissen über Rechte, fehlende Kenntnis
der Sprache sowie der Unterstützungsmöglichkeiten
und Isolation verhindern, dass Betroffene ihre Rech-
te in Anspruch nehmen. Aus diesem Grund sieht die
Istanbul-Konvention in Artikel 19 vor, dass die Vertragsparteien die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass Opfer angemessen und
rechtzeitig über verfügbare Hilfsdienste und rechtliche
Maßnahmen in einer ihnen verständlichen Sprache informiert werden. Damit sind die Staaten verpflichtet,
Informationen nicht in jeder, aber in den am häufigsten
gesprochenen Sprachen vorzuhalten. Der erläuternde
Bericht hebt hervor, dass die Informationen zu dem
benötigten Zeitpunkt und gut zugänglich angeboten
werden sollen.15 Durch Fortbildungen muss entsprechendes Wissen bei den Berufsgruppen sichergestellt
werden, die mit den Betroffenen in Kontakt kommen,
Artikel 15.
Die allgemeine Verpflichtung aus Artikel 2 e) der
UN-Frauenrechtskonvention, Frauen auch vor Diskriminierung – und somit vor geschlechtsspezifischer Gewalt – durch Private zu schützen, hat der CEDAW-Ausschuss in seine jüngsten Allgemeinen Empfehlung
2014 auch in Bezug auf die Situation von geflüchteten Frauen konkretisiert: Frauen in Asylverfahren
müssen sicher vor geschlechtsspezifischer Gewalt untergebracht werden. In Aufnahmeeinrichtungen sind
hierzu Überwachungs- und Beschwerdemechanismen
einzurichten.16 Auch solche Mechanismen können
Anlaufstellen sein, die Betroffenen den Weg ins spezialisierte Unterstützungssystem ebnen bzw. sie über
Rechte informieren.
An diesen menschenrechtlichen Vorgaben sind die
Regelungen des Gewaltschutzes in ihrer praktischen
Anwendung für Frauen in Flüchtlingsunterkünften zu
messen.
3 Gewaltschutz
in Aufnahmeeinrichtungen und
Gemeinschaftsunterkünften
Flüchtlingsfrauen kommen häufig bereits mit starken
Belastungen auch aufgrund von geschlechtsspezifi-
12 Der Begriff Wegweisung wird im Folgenden für die polizeiliche Anordnung, eine Wohnung zu verlassen genutzt. Die Polizeigesetze der
Länder sehen hierfür auch andere Begriffe wie zum Bespiel Wohnungsverweisung vor.
13 Erläuternder Bericht zum Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher
Gewalt, Rz. 268.
14 Erläuternder Bericht, Fn. 13, Rz. 273.
15 Erläuternder Bericht , Fn. 13, Rz. 124.
16 UN, Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (2014): General Recommendation No. 32 on the gender-related dimensions
of refugee status, asylum, nationality and statelessness of women, UN-Dok. CEDAW/C/GC/32, Ziffer 48.
8
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
scher Gewalt nach Deutschland. Die Bedingungen in
Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften sowie aufenthalts- und asylrechtlichen
Regelungen schränken die Möglichkeit der Betroffenen, Gewalt präventiv oder reaktiv zu begegnen,
stark ein. Dabei ist Schutz vor Gewalt gerade für diese
Frauen aufgrund ihrer Vorerfahrungen von besonderer
Bedeutung.
3.1 Ein bisher wenig bearbeitetes Thema in
Forschung und Praxis
Gewalt in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften von Asylsuchenden und Geduldeten in Deutschland wird von den Medien aufgegriffen,
wenn es sich dabei um schwerwiegende Taten zwischen Bewohner_innen17 oder Übergriffen von Seiten
des Personals auf Bewohner_innen18 handelt. Die geschlechtsspezifische Dimension von Gewalt in diesem
Zusammenhang liegt auf der Schnittstelle zwischen
Flüchtlings- und Antigewaltberatung und ist bisher
häufig auf geschlechtsspezifische Fluchtgründe19, das
Risiko von (alleinreisenden) Frauen, Opfer von Gewalt
und Belästigung in Sammelunterkünften zu werden20,
sowie fehlende Schutzräume fokussiert. Häusliche Gewalt und insbesondere die Anwendbarkeit bestehender
Gewaltschutznormen in Unterkünften tritt dahinter
zurück und wird kaum problematisiert.
Auch die Forschung zu rechtlichem Gewaltschutz in
Deutschland ist bisher wenig an dem Aufenthaltsstatus der Frauen und den damit verbundenen Lebensbedingungen orientiert. So ist seit der Evaluation des
Gewaltschutzgesetzes wiederholt relativ pauschal
festgestellt worden, dass für Migrantinnen besondere
Zugangsbarrieren zu Schutz- und Beratungsangebo-
ten bestehen und es an Informationen über Gewaltschutz sowie Sprachmittlung fehlt.21 Differenzierter
ist an diesem Punkt die Evaluation der Arbeit der Beratungs- und Interventionsstellen Niedersächsischen.
Der Befund, dass weniger Migrantinnen als deutsche
Frauen rechtliche Möglichkeiten in Anspruch nehmen,
wird auch darauf zurückgeführt, dass der Handlungsspielraum von Frauen im Asylverfahren eingeschränkt
ist.22 Zuletzt hat die bundesweite Bestandsaufnahme
des Unterstützungssystems festgestellt, dass es keine
Informationen darüber gibt, welche Zielgruppen – einschließlich Migrantinnen – welche rechtlichen Möglichkeiten in Anspruch nehmen bzw. zu wessen Gunsten sie angewendet werden und für welche Gruppen
Barrieren existieren, die die Nutzung erschweren oder
verhindern.23
Vereinzelt haben (Selbst-)Organisationen und Projekte
die Anwendung der Standards des Gewaltschutzes in
der besonderen Situation der Flüchtlingsunterkünfte
thematisiert. Deren Forderungen nach einer Sensibilisierung der Fachkräfte in Unterkünften, Information
der Frauen, dem Aufbau dauerhafter Kooperationsstrukturen zwischen Frauen- und Flüchtlingsberatung
sowie der Anwendung bestehender Gesetze zum Gewaltschutz24, sind wie die Umsetzung bisher eher die
Ausnahme. Mit den stark steigenden Flüchtlingszahlen
und auch aufgrund fehlender Frauenschutzräume für
asylsuchende und geduldete Frauen werden die auf
Gewalt spezialisierten Frauenberatungsstellen aber zunehmend mit dem Thema konfrontiert. Insbesondere
auf lokaler Ebene werden Diskussionen geführt über
die Zugänglichkeit von Beratung, die Passgenauigkeit
von Angeboten und eine Vernetzung der Frauenberatung und Flüchtlingsarbeit. Zum Teil herrscht dabei
auch Unsicherheit über rechtliche Fragen: Frauenberatungsstellen, die sich nicht explizit an Migrantinnen
17 http://www.spiegel.de/panorama/justiz/wolfsburg-ein-toter-nach-massenschlaegerei-in-asylunterkunft-a-993635.html
(Stand: 02. 07. 2015).
18 http://www.spiegel.de/panorama/justiz/nrw-wachleute-sollen-fluechtlinge-in-asylunterkunft-misshandelt-haben-a-994228.html (Stand:
02. 07. 2015).
19 So zum Bespiel Pro Asyl: http://www.proasyl.de/de/themen/asylrecht/detail/news/neues_fluechtlingsrecht_schutz_fuer_verfolgte_frauen/
(Stand: 02. 07. 2015)
20 http://www.sueddeutsche.de/bayern/uebergriffe-in-asylunterkuenften-frauen-in-bedraengnis-1.2574277 (Stand: 23. 07. 2015).
21 Rupp, Marina (2005): Rechtstatsächliche Untersuchung des Gewaltschutzgesetzes. Köln: Bundesanzeiger Verlagsges.mbH., S. 96 ff; Feldhoff, Kerstin; Hansbauer, Peter (2007): Evaluation des Gewaltschutzgesetzes im Raum Münster – positive Effekte und weitere Herausforderungen für Polizei, Justiz, Jugendämter und Beratungsstellen. In: FPR, S. 217 ff.
22 Löbmann, Rebecca; Herbers, Karin (2005). Mit BISS gegen häusliche Gewalt: Evaluation des Modellprojekts „Beratungs- und Interventionsstellen (BISS) für Opfer häuslicher Gewalt“ in Niedersachsen. Baden-Baden: Nomos Verlag.
23 Helfferich, Cornelia; Kavemann, Barbara (2014): Bestandsaufnahme zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und anderer
Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder. In: Bericht der Bundesregierung zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und anderer Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder (ohne Datum): http://
www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung4/Pdf-Anlagen/bericht-der-bundesregierung-frauenhaeuser,property=pdf,bereich=bmfsfj,sp
rache=de,rwb=true.pdf (PDF, 4,7 MB) S. 253 (Stand: 02. 07. 2015).
24 Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (2015): Positionspapier zur Situation gewaltbetroffener Migrantinnen mit prekärem
Aufenthalt; Women in Exile (2014): http://women-in-exile.net/2014/11/24/ausgegrenzt-ausgelagert-ausgeliefert-gewalt-gegen-frauenhat-viele-gesichter/; Projekt Lia des Bayerischen Flüchtlingsrates: http://www.lia-bayern.de/ (Stand: 02. 07. 2015).
9
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
wenden, haben bisher häufig keinen Schwerpunkt in
aufenthalts- und asylrechtlichen Fragestellungen.
3.2 Die Situation in den Unterkünften
Die Lebenssituation von Frauen sowie Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*- und Inter*-Menschen (LSBTI)
in Flüchtlingsunterkünften ist stark geprägt durch die
Größe, Lage und Ausstattung der jeweiligen Einrichtung, sowie die Regelungen des Aufenthalts- und Asylverfahrensrechts. Insbesondere in den Erstaufnahmeeinrichtungen kommen zum Teil mehrere Hundert, vereinzelt mittlerweile auch mehrere Tausend Personen
unter. Untätigkeit, Isolation und Überfüllung führen
zu einer angespannten Situation. Die Privatsphäre ist
aufgrund fehlender Einzelzimmer stark eingeschränkt
und wird in manchen Unterkünften zusätzlich dadurch
verletzt, dass das Personal der Unterkünfte über Generalschlüssel zu den Zimmern verfügt.25 Beratungsstellen berichteten von nicht abschließbaren Duschen und
Toiletten, zum Teil fehlender Geschlechtertrennung
und sexueller Belästigung, insbesondere, wenn Frauen
alleinstehend sind.26
Circa 30% der Antragstellenden im Asylverfahren sind
Frauen und Mädchen27, sodass die Unterkünfte allein
quantitativ von Männern dominiert werden. Frauen
haben keine frauenspezifischen Rückzugsräume oder
entsprechende soziale Zusammenhänge. Familienzusammenhänge und Partnerschaften sind in diesem
Kontext stark belastet. Die Dauer des Aufenthaltes in
den Unterkünften variiert. Allein die Bearbeitungsdauer eines Asylerstantrages durch das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge betrug 2014 durchschnittlich 7 Monate; 5 Monate haben Antragstellende im
Schnitt auf die Entscheidung über einen Folgeantrag
gewartet.28 Daran können sich verwaltungsgerichtliche Verfahren anschließen. Abschiebehindernisse
führen dazu, dass Frauen mehrere Jahre unter diesen
Bedingungen in Unterkünften leben. Der Mangel an
günstigem Wohnraum in Ballungsgebieten sowie Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt verschärfen die
Situation.
3.2.1 Steigende Zahl von Frauen in
Unterkünften
Die Frage, wie viele Frauen aktuell bundesweit in
Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften leben, ist schwer zu beantworten. Auf der
Grundlage der jeweiligen Landesaufnahmegesetze
der Bundesländer werden neben Asylsuchenden auch
sonstige Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG, wie
zum Beispiel Personen, die eine Duldung nach § 60a
Aufenthaltsgesetz oder eine Aufenthaltserlaubnis nach
§§ 22, 23 Abs.1 oder 24 AufenthG haben, den Einrichtungen zugewiesen.29 Die Unterbringung ist sehr
heterogen organisiert.
Dementsprechend variiert auch die statistische Erfassung, so dass ein Vergleich zwischen den Ländern
schwierig ist.30 Bundesweite Daten zu Unterbringung
und / oder Geschlecht sind soweit ersichtlich nur in der
Asylbewerberleistungsstatistik und den Statistiken des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
ausgewiesen. Die letzte öffentlich zugängliche differenzierte Auswertung zu dem Bezug von Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zeigt, dass
Ende 2013 bundesweit 7.933 Frauen Erstaufnahmeeinrichtungen und 28.843 Frauen Gemeinschaftsunterkünften zugewiesen waren.31 Darüber hinaus ist
davon auszugehen, dass sich in den Gemeinschaftsunterkünften auch ein gewisser Prozentsatz an sogenannten Fehlbelegern aufhält. Dabei handelt es sich
zum Beispiel um Asylberechtigte, anerkannte Flüchtlinge oder Personen mit subsidiärem Schutz, die keine
25 Lindenberg, Dorothea (2013): Die Lebenssituation der Frauen und Kinder in Sammelunterkünften ist unhaltbar; In: Gemeinsames Heft
der Flüchtlingsräte: http://www.frsh.de/fileadmin/schlepper/schl_65_66/s65–66_68–69.pdf (PDF, 182 KB, nicht barrierefrei) (Stand:
02. 07. 2015).
26 Schröttle, Monika; Müller, Ursula (2005): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative
Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland – Langfassung; BMFSFJ (Hrsg), S. 454 ff.
27 2014 wurden 33,4% der Asylerstanträge von Frauen und Mädchen gestellt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015): Das Bundesamt in Zahlen 2014. Asyl, S. 19.
28 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der LINKEN (2015): BT-Drucksache 18/3850 vom 28. 01. 2015, S. 11.
29 Zum Beispiel § 2 des Gesetzes über die Aufnahme von Spätaussiedlern und ausländischen Flüchtlingen im Land Brandenburg (Landesaufnahmegesetz – LaufnG).
30 Siehe Kothen, Andrea (2011): Die Unterbringungspolitik der Länder. In: AusgeLAGERt – Zur Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland,
Rundbrief 2/2011, S. 16–21.
31 Statistisches Bundesamt (2015): Sozialleistungen. Leistungen an Asylbewerber , Fachserie 13 Reihe 7, A 1.l1.2;https://www.destatis.
de/DE/Publikationen/Thematisch/Soziales/Asylbewerberleistungen/Asylbewerber2130700137 004.pdf?__blob=publicationFile (Stand:
02. 07. 2015).
10
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) mehr beziehen.32
Die Zahlen bilden nicht die stark gestiegenen Erst- und
Folgeanträge in den Jahren 2014 bis Mitte 2015 ab.
Die aktuellen Auswertungen des BAMF weisen keine
Aufschlüsselungen nach Geschlecht oder Unterbringung auf. Greift man ein Bundesland heraus, zeigt sich
beispielhaft die Entwicklung der Belegungszahlen in
den letzten zwei Jahren: Nach Angaben des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGESO) gab es
in Berlin 5041 belegte Plätze im Januar 2013. Mitte
März 2014 registrierte das LAGESO 8.439 Personen, die
Anspruch auf eine staatlich finanzierte Unterbringung
in Gemeinschaftsunterkünften und Aufnahmeeinrichtungen haben.33 Im Februar waren 14.167 Flüchtlinge
in 61 Unterkünften unterbracht, weitere in Hostels und
Wohncontainern.34
3.2.2 Hinweise auf eine hohe Gewaltbetroffenheit von asylsuchenden und
geduldeten Frauen
Über das Ausmaß von geschlechtsspezifischer Gewalt
gegen Frauen in Unterkünften für Asylsuchende und
Geduldete in Deutschland gibt es bisher kaum Forschung.35 Im Rahmen der 2004 veröffentlichten repräsentativen Dunkelfeldstudie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“
wurde in einer Zusatzbefragung zwar auch die Gruppe
der Flüchtlingsfrauen36 berücksichtigt. Auch aufgrund
von Zugangsproblemen zu dieser Gruppe konnten
aber nur 65 Frauen nach ihren Gewalterfahrungen
in Deutschland befragt werden. Die Ergebnisse sind
aufgrund der kleinen Stichprobe nicht repräsentativ.
Sie geben allenfalls Hinweise auf eine hohe Gewaltbetroffenheit dieser Frauen. 79% von ihnen gaben an,
psychischer Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein, 51%
sprach von körperlicher und 25% von sexueller Gewalt.37 Täter_innen waren Beziehungspartner, fremde
Personen, Mitbewohner und Mitbewohnerinnen sowie
Personal in Unterkünften. Ordnet man die Gewaltformen verschiedenen Kontexten zu, zeigen die Angaben,
dass die Flüchtlingsfrauen sexuelle Belästigungen
und psychische Gewalt am häufigsten im öffentlichen
Raum erleben. Zentrale Orte für körperliche und sexuelle Gewalt waren der öffentliche Raum und das
Wohnheim oder die eigene Wohnung.
Aus Beratungsstellen gegen Menschenhandel ist bekannt, dass sich unter den Bewohnerinnen von Flüchtlingsunterkünften auch Betroffene von Menschenhandel befinden.38 Im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt wurde wiederholt auch auf die Vulnerabilität von (LSBTI) in Gemeinschaftsunterkünften
hingewiesen.39
3.2.3 Kein standardisiertes Vorgehen bei
Gewalt in Unterkünften
Welche Vorkehrungen die einzelnen Unterkünfte bei geschlechtsspezifischer Gewalt treffen, bleibt bisher ihnen
überlassen. Die schriftliche Abfrage der jeweils für die
Erstaufnahmeeinrichtungen zuständigen Innen- bzw.
Integrationsministerien aus 201540 hat gezeigt, dass es
ganz überwiegend keine Vorgaben für die Vorgehens-
32 So hielten sich zum Beispiel zum Stichtag 31. 12. 2014 in Bayern 61% Asylbewerber im Verfahren, 29% sonstige Leistungsberechtigte nach
dem AsylbLG insbesondere vollziehbar ausreisepflichtige Personen und 10% Fehlbeleger in Unterkünften auf: http://www.sozialministerium.
bayern.de//migration/asyl/index.php#unterkunft (Stand: 02. 07. 2015).
33 http://www.tagesspiegel.de/berlin/senatsbilanz-ueber-8400-fluechtlinge-leben-zurzeit-in-berliner-heimen/9660570.html
(Stand: 02. 07. 2015).
34 Landesamt für Gesundheit und Soziales (2015): Newsletter Februar 2015, S. 2.
35 Im Rahmen eines aktuell geplanten Projektes zur Bewältigung von Konfliktsituationen in Asylbewerberheimen in Brandenburg soll zunächst
die aktuelle Situation in den derzeit mehr als 40 Gemeinschaftsunterkünften analysiert werden. Dabei sollen erstmals landesweit Daten
zur Häufigkeit von gewalttätigen Auseinandersetzungen und deren Ursachen erhoben werden: http://www.mik.brandenburg.de/cms/detail.
php/bb1.c.380147.de (Stand: 02. 07. 2015).
36 Der Begriff der Flüchtlingsfrauen bezieht sich in der Untersuchung auf sämtliche Personen, die Asyl beantragt haben, als Asylberechtigte
anerkannt worden sind oder über einen (befristeten Aufenthaltstitel oder ein Bleiberecht verfügen.
37 Schröttle, Monika; Müller, Ursula (2005): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative
Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland – Langfassung; BMFSFJ (Hrsg), S. 394 ff.
38 So weist der Jahresbericht 2013 von Jadwiga insgesamt 20–30 Frauen pro Jahr aus, die im Zusammenhang mit dem Asylverfahren als
Betroffene von Menschenhandel in den bayerischen Erstaufnahmeeinrichtungen identifiziert wurden: http://www.jadwiga-online.de/
data/jahresbericht2013.pdf, S. 8.
39 Siehe auch Jansen, Sabine; Spijkerboer, Thomas (2011): Fleeing Homophobia. Asylanträge mit Bezug zur sexuellen Orientierung und
Geschlechtsidentität in Europa, S. 87 ff. http://www.asyl.net/fileadmin/user_upload/redaktion/Dokumente/1111FH-DE.pdf (PDF, 666 KB,
nicht barrierefrei); Lesbenberatung Berlin e. V. und LesMigras (ohne Datum): Stellungnahme zur Situation von asylsuchenden LSBTIQ in
Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften in Berlin, http://www.lesmigras.de/tl_files/lesmigras/pressemitteilungen/
Stellungnahme_asylsuchende_LSBTIQ_LesMigraS_juni.pdf PDF, 90 KB, nicht barrierefrei) (Stand: 02. 07. 2015).
40 Schriftliche Abfrage des DIMR von Januar 2015.
11
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
weise und keine Präventions- oder Interventionskonzepte bei geschlechtsspezifischer Gewalt in Erstaufnahmeeinrichtungen gibt. Die Antworten verweisen in der
Regel auf die allgemeinen Leitlinien, Broschüren etc.
zur staatlichen Reaktion auf häusliche und sexualisierte
Gewalt. Diese gehen in der Regel von Frauen als Betroffenen aus und gehen weder auf die Vulnerabilität
von LSBTI noch auf die Sondersituation in den Unterkünften ein. Gewaltschutzkonzepte sind weder Voraussetzung für den Betrieb von Aufnahmeeinrichtungen
oder Gemeinschaftsunterkünften, noch werden sie zum
Bestandteil von Verträgen zwischen Einrichtungen und
Träger gemacht und in Folge dann deren Einhaltung
überprüft. Hier verweisen die Antworten auf die allgemeine Verpflichtung der Betreiber, in der Einrichtung
für die Sicherheit der Bewohner_innen zu sorgen.
Auch gibt es in keinem Bundesland eine gesetzlich
geregelte Aufsicht für Flüchtlingsunterkünfte, anders
als die in Ländergesetzen verankerte Heimaufsicht, die
anhand eines standardisierten Prüfleitfadens und auch
auf der Grundlage von Gesprächen mit Bewohner_innen jährlich die stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie Pflegeheime überprüft.
Die für Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte jeweils zuständigen Aufsichtsbehörden41 prüfen die Einrichtungen auf der Grundlage
uneinheitlicher Kriterien: 2014 haben die Hälfte der
Bundesländer Mindeststandards für die Unterbringung
vorgesehen. Davon war nur ein Teil verbindlich.42 Behördliche oder gesetzliche Vorgaben beziehen sich
überwiegend auf Lage, Art, Größe und Ausstattung
einzelner Räume und Bereiche in Unterkünften.43
Empfehlungen gehen teilweise darüber hinaus und
enthalten auch Vorgaben zur sozialen Betreuung oder
zur Überprüfung von Leitlinien44 für die Unterbringung.
Selbst in den über die Mindeststandards der Länder
weit hinausgehenden, zum Teil sehr detaillierten For-
derungen der Wohlfahrtsverbände auf Bundesebene
wird das Thema nur pauschal aufgegriffen, indem der
„besonderen Schutzbedürftigkeit dieser Gruppe Rechnung zu tragen ist“.45 Vereinzelt enthalten die Kataloge ein Notruftelefon46 oder die Anwesenheit von
Ansprechpersonen für „Konflikte“47. Gewaltschutzkonzepte unter besonderer Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gewalt, regelmäßige Vernetzung mit Beratungsstellen gegen geschlechtsspezifische Gewalt oder
Informationen über Rechte sowie das Hilfesystem, sind
bisher nicht vorgesehen.48
Als Folge der gewalttätigen Übergriffe gegen Bewohner_innen einer Flüchtlingsunterkunft durch das
Wachpersonal hat der Landtag NRW im November
2014 beschlossen, ein dezentrales Beschwerdemanagement in jeder Landeseinrichtung zu installieren.
Inwieweit hier auch ein Fokus auf geschlechtsspezifische Gewalt, mit den daraus resultierenden Anforderungen an Sensibilisierung der Fachkräfte, Information
und Vernetzung gelegt wird, bleibt abzuwarten.
3.2.4 Kaum Frauenschutzräume oder reine
Fraueneinrichtungen
Als problematisch bezeichneten Beratungsstellen und
Rechtsanwältinnen in den Interviews die fehlenden
Frauenschutzräume. Dies kann aus Sicht der Praxis
dazu führen, dass es für Frauen das kleinere Übel ist,
zu einem gewalttätigen Partner in die Unterkunft zurückzugehen, als „schutzlos“ in eine andere gemischtgeschlechtliche große Unterkunft zu wechseln.
Vereinzelt gibt es in den Unterkünften Frauentrakte,
soweit ersichtlich kaum reine Fraueneinrichtungen.
Ausnahmen sind zum Beispiel das FlüchtlingsFrauenHaus mit 10 Plätzen in Halle49 oder eine Einrichtung
für zwölf Frauen in München50. Eine entsprechende
41 Die zuständigen Behörden unterscheiden sich je nach Organisationsstruktur in den Bundesländern.
42 Wendel, Kay (2014): Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland. Regelungen und Praxis der Bundesländer im Vergleich; Pro Asyl e. V.
(Hrsg), S. 35 ff. Ein detaillierter Überblick über die Details der Unterbringung in den Bundesländern findet sich in den Tabellen 15, 16, 17, 24.
43 Zum Beispiel Landesamt für Gesundheit und Soziales (2015): Berliner Unterbringungsleitstelle, Anlage 2 – Qualitätsanforderungen, Stand
01. 06. 2015.
44 Zum Beispiel Innenministerium Sachsen-Anhalt (2013): Aufnahmegesetz; Leitlinien für die Unterbringung und soziale Betreuung von
nicht dauerhaft aufenthaltsberechtigten Ausländern, RdErl. vom 15. 01. 2013–34.11–12 235/2–24. 02. 1. 4.3.
45 Liga der freien Wohlfahrtsverbände Hessen (2014): Mindeststandards für die Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen in
Gemeinschaftsunterkünften.
46 Diakonie Bundesverband (2014): Positionen zur Aufnahme, Wohnraumversorgung und Unterbringung von Flüchtlingen
47 AWO (2012): Standpunkte. Positionen und Empfehlungen zur Unterbringung von Flüchtlingen.
48 Paritätischer Gesamtverband (2015): Empfehlungen an ein Gewaltschutzkonzept zum Schutz von Frauen und Kindern vor geschlechtsspezifischer Gewalt in Gemeinschaftsunterkünften. Arbeitshilfe.
49 http://www.migration-paritaet-lsa.de/ffh/index.html (Stand: 02. 07. 2015)
50 http://www.imma.de/einrichtungen/wohngruppen/angebot/wohnprojekt-fuer-besonders-schutzbedueftige-fluechtlingsfrauen.html
(Stand: 02. 07. 2015).
12
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Unterkunft in Bremen ist in Planung.51 Im Kontext
der Umsetzung der sogenannten EU-Aufnahmerichtlinie52 werden in den Ländern zunehmend Unterkünfte für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge und
damit auch u. a. für Frauen, die Opfer sexualisierter
Gewalt sind, errichtet.53 Diese Einrichtungen haben
im Vergleich zu anderen Gemeinschaftsunterkünften
einen höheren Personalschlüssel und ein qualifiziertes Unterstützungsangebot. Das kommt dem Unterstützungsbedarf gewaltbetroffener Frauen entgegen
und bietet unter Umständen bessere Bedingungen für
Prävention und eine schnelle Reaktion bei Gewaltvorfällen.
3.3 Hindernisse im Aufenthalts- und
Asylrecht
Menschen, die nicht Flüchtlingsunterkünften zugewiesen sind und keine Wohnsitzauflage haben, können sich frei entscheiden, ob sie rechtliche Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen oder der Gewalt
ausweichen wollen. Letzteres können sie tun, indem
sie ihre Wohnung, ihre Stadt oder das Bundesland
verlassen oder bei Bekannten unterkommen. Frauen
können vorübergehend in ein Frauenhaus gehen. 2013
haben insgesamt 46% aller Frauen, die Schutz in einem Frauenhaus gesucht haben, vorher weder polizeilichen Maßnahmen initiiert noch gerichtliche Schritte
eingeleitet.54 Hierfür gibt es gute Gründe wie Scham,
Angst oder den Wunsch, (Ex-)Partner_innen nicht mit
einer Strafverfolgung zu belasten. Bei Frauen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus mag noch die Sorge
dazukommen, ob sich eine Anzeige auf ihr Bleiberecht
oder das ihres Partners auswirken kann.55 Haben Frauen ihren Asylantrag nicht auf eigene Fluchtgründe gestützt, aus Scham, sexuelle Gewalt zu offenbaren, oder
weil „nur“ ihr Partner verfolgt wurde, ist ihr Asylantrag
von dem Bestand der Ehe abhängig.56 Selbst wenn dies
nicht der Fall ist, führen Unkenntnis und Unsicherheit
in Bezug auf die Rechtslage dazu, dass Frauen Gewalt eher aushalten, als Schutz zu suchen, wenn sie
sich dafür trennen müssen.57 Dazu kommen weitere
aufenthalts- und asylrechtliche Regelungen, die Wahlmöglichkeiten der Betroffenen zusätzlich einschränken
und effektiven Gewaltschutz erschweren.
Zusammenfassung: Hindernisse im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht
•
Die Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen beschränken die Bewegungsfreiheit und damit auch die
Schutzmöglichkeiten von Gewaltbetroffenen.
•
Die Anwendung der Vorschriften und damit auch ihre Bedeutung für den Gewaltschutz variieren je
nach Bundesland: Im Stadtstaat Berlin gelten Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen für das ganze
Land. Hier sind die Sozialbehörden entscheidende Akteure, wenn Betroffene aus Schutzgründen eine
Unterkunft verlassen müssen. In den meisten Flächenländern sind Asylsuchende und Geduldete verpflichtet, in einer Unterkunft, Stadt oder Region zu wohnen. Hier müssen Ausländerbehörden einem
Umzug zustimmen.
•
Ausländerbehörden können zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt Ausnahmen von der Residenzpflicht zulassen und Wohnsitzauflagen auf eine andere Unterkunft, Stadt oder Region umschreiben.
•
Die Verfahren der zuständigen Behörden sind derzeit aber nicht ausreichend auf das kurzfristige
Schutzbedürfnis gewaltbetroffener Frauen zugeschnitten: Gewalt ist kein ermessensleitendes Kriterium; zum Teil ist unklar, welche Behörde entscheidet; die Verfahren dauern Monate.
51 http://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-politik-wirtschaft_artikel,-Mehr-Schutz-fuer-Fluechtlingsfrauen-_arid,1135283.html (Stand:
02. 07. 2015).
52 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von
Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung).
53 Zum Beispiel die erste Gemeinschaftsunterkunft dieser Art in Berlin: http://www.awo-mitte.de/index.php/marie-schlei-haus (Stand:
02. 07. 2015).
54 Frauenhauskoordinierung (2013): Statistik Frauenhäuser und ihre Bewohnerinnen, S. 13.
55 Rupp, Marina (2005), Fn. 21, S. 243, 244.
56 § 26 Asylverfahrensgesetz.
57 Flüchtlingsrat Niedersachsen (2011): Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung. Wo stehen wir heute? In: Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, S. 20, 21.
13
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
3.3.1 Einschränkung des Gewaltschutzes
durch Residenzpflicht und Wohnsitzauflage
Asylsuchende und Geduldete sind innerhalb der ersten drei Monate ihres Aufenthaltes mit der sogenannten Residenzpflicht58 belastet. Sie dürfen danach das
ihnen zugewiesene Gebiet nicht ohne Erlaubnis der
Ausländerbehörde verlassen. Der Verstoß gegen die Residenzpflicht kann mit einem Bußgeld belegt werden,
im Wiederholungsfall droht ein Strafverfahren. Die
räumliche Beschränkung der Aufenthaltsmöglichkeiten
bezieht sich für geduldete Personen auf das gesamte
Bundesland, für Asylsuchende ist die Bewegungsfreiheit auf den Bezirk der Ausländerbehörde, in der die
Erstaufnahmeeinrichtung liegt, beschränkt, solange
sie in einer Erstaufnahmeeinrichtung leben.59 Den Bezirk der Ausländerbehörde definieren die Bundesländer unterschiedlich: In den Stadtstaaten Berlin und
Bremen entspricht der Bezirk der Ausländerbehörde
dem Gebiet des Bundeslandes. Dasselbe gilt für das
Saarland. In den anderen Flächenstaaten ist der Bezirk
der Ausländerbehörde entweder der Landkreis oder das
Stadtgebiet.60
Zudem sind Asylsuchende mit der Antragstellung
verpflichtet, in der für sie zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung bis zu sechs Wochen, längstens drei Monaten zu wohnen61. Nach Ablauf dieser Frist werden
sie auf Gemeinschaftsunterkünfte oder Wohnungen
verteilt, wobei Asylsuchende in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden sollen,
§ 53 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. Einige Landesgesetze bzw.
Durchführungsbestimmungen sehen auch für Geduldete entsprechende Regelungen vor.62 Im Rahmen der
Verteilung erhalten Asylsuchende wie Geduldete in
der Regel darüber hinaus eine Wohnsitzauflage, die
sie verpflichtet, an einem bestimmten Ort zu wohnen,
solange sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können63. Auch diese Beschränkung variiert zwi-
schen den Bundesländern: Wohnsitzauflagen können
sich auf eine bestimmte Unterkunft, einen Landkreis
oder ein Bundesland beziehen.64 Das kann dazu führen,
dass Menschen jahrelang verpflichtet sind, in Gemeinschaftsunterkünften zu leben.
3.3.2 Spielraum der Behörden
Von den Beschränkungen gibt es Ausnahmen. Die
Ausländer- und Sozialbehörden können den Bewegungsradius von Asylsuchenden und Geduldeten erweitern – auch aus Schutzgründen. An diesem Punkt gibt
es in der Praxis aber erhebliche Anwendungsprobleme.
Schutzmöglichkeiten in Erstaufnahmeeinrichtungen
Kommt es gleich in den ersten Wochen in der Erstaufnahmeeinrichtung zu sexueller Belästigung, häuslicher
oder sexualisierter Gewalt gegen asylsuchende Frauen
oder LSBTI durch Bewohner_innen, dann kann die für
die Zuweisung in die Gemeinschaftsunterkunft zuständige Landesbehörde die Verteilung entweder des Täters
oder der Betroffenen dorthin kurzfristig vorziehen. Ist
die Gefährdungslage so hoch, dass Betroffene u. U.
mit Kindern kurzfristig in ein Frauenhaus umziehen
müssen, kann die Ausländerbehörde die Verpflichtung,
in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu leben, auch „aus
Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ und
damit auch aufgrund geschlechtsspezifischer Gewalt65
vorzeitig aufheben, § 49 Abs. 2 AsylVfG. Eine weitere
Möglichkeit besteht darin, Täter und Betroffene auf der
Grundlage einer Zuweisung oder Auflage nach § 46,
bzw. 60 AsylVfG in eine andere Aufnahmeeinrichtung
umzuverteilen.66
Liegt das Frauenhaus oder die andere Erstaufnahmeeinrichtung dazu noch außerhalb des Gebietes in dem sich
die Betroffenen bzw. der Täter aufhalten dürfen, zum
58 Die rechtliche Grundlage für asylsuchende Frauen ist § 56, 59a Asylverfahrensgesetz, für geduldete Frauen 61 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz.
59 Werden Asylsuchende innerhalb der dreimonatigen Residenzpflicht in eine Gemeinschaftsunterkunft überwiesen, greifen die zusätzlichen
Länderregelungen. Da mittlerweile die meisten Länder die Residenzpflicht durch eine Erweiterung auf das Bundesland gelockert haben,
erhöht sich dann die Bewegungsfreiheit; siehe zum Beispiel Thüringen: http://www.parldok.thueringen.de/ParlDok/dokument/49171/
gesetz-und-verordnungsblatt-nr-5-2013.pdf#page=12 (PDF, 1,4 MB, nicht barrierefrei) (Stand: 02. 07. 2015).
60 Siehe den bundesweiten Überblick bei Wendel (2014): Die neuen Formen der ‚Residenzpflicht’ - Synopse der Anwendungshinweise zur
räumlichen Aufenthaltsbeschränkung von Flüchtlingen nach den ‚Lockerungen’. Aktualisierte und erweiterte Fassung, S. 39.
61 § 47 AsylVfG.
62 Zum Beispiel Leitlinien zum Aufnahmegesetz Sachsen-Anhalt; §2 Thüringer Flüchtlingsaufnahmegesetz.
63 § 60 Abs. 1, S.1 AsylVfG, § 61 Abs. 1 d Aufenthaltsgesetz.
64 Die Entscheidung, ob eine Auflage erteilt wird, liegt im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde, deren Praxis über die Allgemeine
Verwaltungsvorschrift des Bundes und Ländererlasse bestimmt wird.
65 Bergmann, Jan (2011): § 49 Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung. In: Renner, Günter; Bergmann, Jan; Dienelt, Klaus, Ausländerrecht,
Kommentar, 9. Auflage. München: C. H. Beck, Rn. 4.; Marx, Reinhard (2014): § 49 Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung Kommentar
zum Asylverfahrensgesetz, 8. Auflage. Neuwied am Rhein: Luchterhand, Rn. 7.
66 So Bergmann, Jan (2011), Fn. 65, § 48 Rz. 3; a. A. Marx, Reinhard (2014), Fn. 65, § 49 Rz. 8, der davon ausgeht, dass aufgrund fehlender
Ermächtigungsgrundlage für einen Wechsel zwischen Aufnahmeeinrichtungen immer eine Verlassenserlaubnis nach § 48 zu erteilen ist.
14
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Beispiel einem anderen Landkreis oder einem anderen
Bundesland, brauchen die Betroffenen in der Phase, in
der sie noch in der Aufnahmeeinrichtung leben, zusätzlich die Erlaubnis des BAMF, dieses Gebiet vorübergehend zu verlassen. Diese Ermessenentscheidung kann
die Behörde treffen, wenn „zwingende Gründe“ - wie
zum Beispiel humanitäre und individuelle Aspekte auf
Grund persönlichen Lebenssituation der Betroffenen67 –
dies erforderlich machen, § 57 Abs. 1 AsylVfG.
Schutzmöglichkeiten in Gemeinschaftsunterkünften
Frauen und LSBTI, die in Gemeinschaftsunterkünften
leben, werden sich häufig im gesamten Bundesgebiet
bewegen können68, haben aber eine Wohnsitzauflage,
die sich je nach Bundesland auf das Land, den Landkreis oder eine Stadt beschränkt. Zwar können sie dieses Gebiet vorübergehend verlassen69, wollen sie sich
aber längerfristig von einem gewalttätigen Partner
räumlich trennen oder einem gewalttätigen Mitbewohner ausweichen und außerhalb dieses Bereiches
ihren Wohnsitz nehmen, dann müssen sie einen Antrag
auf Änderung der Auflage stellen. Die dann erforderlichen Umverteilungsverfahren sind in der Regel langwierig und aufwändig.
Die Verfahrenswege der zuständigen Ausländerbehörden sind nicht auf das kurzfristige Schutzbedürfnis gewaltbetroffener Personen zugeschnitten. In der Praxis
sind Fälle bekannt, in denen Frauen mit Zustimmung
der beteiligten Behörden kurzfristig in einem Frauenhaus eines anderen Bundeslandes untergebracht wurden, die ausländerrechtliche Zuständigkeit aber noch
für einen längeren Zeitraum beim ursprünglichen Ort
liegt. Das führt zu erheblichen Belastungen bei der
Wahrnehmung von Terminen bei der Ausländerbehörde
und zum Teil unverhältnismäßigem Aufwand der beteiligten Institutionen wie Beratungsstellen, Frauenhäuser sowie Rechtsanwältinnen. Außerdem erschwert es
die Betreuung der Frau an ihrem tatsächlichen Aufenthaltsort, da Unklarheiten darüber entstehen, welche
die zuständige Leistungsbehörde im Sinne von § 10a
AsylVfG ist. Frauenhäuser können zum Teil wegen ihrer
Finanzierungsart (Tagessatzfinanzierung) Frauen ohne
Kostenzusage der Leistungsbehörden nicht aufnehmen.
Unklare Zuständigkeitsregelungen bei den
Ausländerbehörden
Die zum Teil langen Entscheidungsprozesse haben
tatsächliche, aber auch rechtliche Gründe. Die derzeitige Überlastung der für die Unterbringung von
Flüchtlingen zuständigen Behörden führt dazu, dass
Mitarbeitende schwer erreichbar sind und allein die
Unterbringung von neuankommenden Flüchtlingen
alle Kapazitäten in Anspruch nimmt. Erschwerend
kommen aber auch unklare gesetzliche Zuständigkeitsregelungen dazu. Der im Rahmen des „Gesetzes
zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern“ neu formulierte § 61
Absatz 1d Aufenthaltsgesetz lässt offen, welche Ausländerbehörde für die Umverteilung geduldeter Personen zuständig ist.
Die derzeitige Praxis, dass entweder die Ausländerbehörde zuständig ist, auf deren Bezirk der Aufenthalt
beschränkt ist,70 oder auch das zweigleisige Verfahren,
das die Zustimmung der Ausländerbehörde des Zuzugsorts bei Änderungen von Wohnsitzauflagen bei Inhabern humanitärer Titel vorschreibt71, haben sich nicht
bewährt. In der Praxis kommt es hier zu unterschiedlichen Bewertungen und Entscheidungen der beteiligten
Ausländerbehörden und damit in der Folge zu erheblichen Verfahrensverzögerungen.72
Auch die in § 60 Abs. 3 AsylVfG neu normierte Zuständigkeit der aufnehmenden Ausländerbehörde kann
darüber hinaus in den Fällen zu Problemen führen, in
denen die Verlegung nicht auf Antrag, sondern von
Amts wegen geschehen sollte. Gerade eine solche
Verlegungsmöglichkeit auch gegen den Willen der zu
verlegenden Person muss jedoch entsprechend den
Prämissen des Gewaltschutzes sichergestellt werden.
Denn hiernach sollte, wenn aus Sicherheitsgründen
möglich, die Betroffene bleiben können und der Täter
gehen. Dies erfordert u. U. ein Handeln der Ausländerbehörden von Amts wegen, wenn sie Kenntnis von der
Gewalt erlangen. Eine Entscheidung sollte in diesen
Fällen durch die Ausländerbehörde getroffen werden,
in deren Bezirk die Gewalt stattgefunden hat, weil
diese näher am Geschehen ist und proaktiv tätig wer-
67 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2010): Dienstanweisung Asylverfahren (DA-Asyl) Stand 04. 03. 2010.
68 Innerhalb der kurzen Phase der Residenzpflicht, wenn asylsuchende Frauen vor Ablauf der drei Monate in eine Gemeinschaftsunterkunft
überwiesen werden, gelten die Ausnahmemöglichkeiten des § 58 Abs. 1 AsylVfG.
69 § 60 Abs. 1 S. 3 AsylVfG, § 61 Abs. 1d S. 4 AufenthG.
70 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 12. Juli 2000; Aktenzeichen 25 B 98.34 410.
71 Bundesministerium des Inneren (2009): Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009; Nummer 12. 2. 5. 2.4 ff.
72 Bundesrat (2014): Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden
und geduldeten Ausländern, BR-Drucksache 506/14 vom 07. 11. 2014, S. 1.
15
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
den kann, um verschiedene Verlegungsmöglichkeiten
zu prüfen. Insbesondere doppelte Zuständigkeitsregelungen würden in diesen Fällen nicht zu sachgerechten
Ergebnissen führen.
Fehlende Vorgaben für die Ermessensausübung
Die Entscheidung über einen Umverteilungsantrag von
asylsuchenden und geduldeten Frauen und LSBTI steht
im Ermessen der Behörden steht. Die einschlägigen Vorschriften lassen zwar grundsätzlich Raum für die Berücksichtigung sexualisierter oder körperlicher Gewalt,
wie zum Beispiel unter dem Begriff der humanitären
Gründe. Bei Asylsuchenden73 kann sich das Ermessen im
Fall von Gewalt oder sexueller Belästigung aufgrund einer europarechtlichen Verpflichtung74 zu einem Rechtsanspruch auf Verlegung des Täters oder der Betroffenen
verdichten.75 Geschlechtsspezifische Gewalt ist aber
keine ermessensleitende Vorgabe in der allgemeineren Verwaltungsvorschrift76, so dass eine einheitliche,
rechtssichere Behördenpraxis nicht sichergestellt ist.
Auch Verfahrenshinweise, Richtlinien oder Verordnungen der Länder enthalten in der Regel keine
weiteren Vorgaben für den Umgang der Behörden
bei Gewalt gegen Frauen oder LSBTI. Einige wenige Länder formulieren diesbezüglich Vorgaben, die
auf häusliche Gewalt und zum Teil auf Frauen beschränkt sind. Die Berliner Verfahrenshinweise für
die Ausländerbehörden definieren explizit Schutz
vor Partnergewalt als humanitären Grund für eine
Umverteilung, stellen aber die Entscheidung über die
Zustimmung in das Ermessen der Behörde. Richtet
sich der Antrag an Berlin als aufnehmendes Land,
muss die Behörde feststellen, worin die Gefahr konkret besteht und dass ein Wechsel insbesondere nach
Berlin erforderlich ist.77 In Sachsen-Anhalt können
die Behörden unter Umständen „von besonderem
Gewicht“ von einer Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft absehen und Betroffenen in einem
Frauenhaus unterbringen.78 In Nordrhein-Westfalen
soll eine Betroffene umverteilt werden, „wenn aufgrund der Gefahr das weitere Zusammenleben mit
der oder dem Familienangehörigen unzumutbar ist
und sie daher die Aufnahme in eine in der ursprünglichen Zuweisungsgemeinde nicht vorhandene, spezielle Schutzeinrichtung (zum Beispiel Frauenhaus)
in einer anderen Gemeinde begehrt.“79
73 § 60 Abs. 2, Nr. 2, 3 AsylVfG.
74 Artikel 18(4) der EU-Aufnahmerichtlinie, siehe Fn. 50: „Die Mitgliedsstaaten ergreifen angemessene Maßnahmen, um körperliche Angriffe und geschlechtsbezogene Gewalt einschließlich sexueller Übergriffe innerhalb der Räumlichkeiten und Unterbringungszentren zu
verhindern.
75 Hailbronner, Kay (2013): Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, B 2 Rn. 18.
76 Ein Bezug zu häuslicher Gewalt findet sich auf Bundesebene nur in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom
26. Oktober 2009, § 12 Nr. 12. 2. 5. 2.4. Danach ist die Zustimmung der Ausländerbehörde zu einem Umzug erforderlich, „um einer Gefahrenlage im Gebiet des räumlichen Bereichs einer wohnsitzbeschränkenden Auflage, die von Familienangehörigen bzw. dem ehemaligen
Partner ausgeht, zu begegnen.“ § 12 bezieht sich auf Personen mit einem Visum oder einer Aufenthaltserlaubnis.
77 Verfahrenshinweise der Ausländerbehörde Berlin, Stand 03. 03. 2015. Ziffer 61 1d 2.-3.
78 Leitlinien für die Unterbringung und soziale Betreuung von nicht dauerhaft aufenthaltsberechtigten Ausländern. Runderlass des MI vom
15. 01. 2013.
79 Richtlinien zur Verteilung und Zuweisung von asylbegehrenden oder unerlaubt eingereisten Personen RdErl. des Innenministeriums v.
25. 6. 1997 – I B 4–141, Ziffer 4. 2. 3.
16
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
4 Rechtsschutz in Unterkünften
Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt können die Polizei, die Familiengerichte, aber auch die Einrichtungen
selbst gewährleisten.
Zusammenfassung: Rechtsschutz in Unterkünften
•
In Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt kann die Polizei Störer aus Flüchtlingsunterkünften verweisen, ist das Gewaltschutzgesetz anwendbar und können Angestellte in den Unterkünften Tätern
ein Hausverbot erteilen.
•
In der Praxis besteht Unsicherheit über die Anwendbarkeit bzw. die Anwendung der Vorschriften. Es
gibt keine veröffentlichte Rechtsprechung zu Gewaltschutzmaßnahmen in Flüchtlingsunterkünften.
In der Praxis scheint Gewaltschutz überwiegend über Umverteilung der Betroffenen zu erfolgen.
•
Bei allen Maßnahmen müssen die Interessen der Täter wie Wohnsitzauflagen oder die Residenzpflicht
berücksichtigt werden. Je nach Maßnahme können sich daraus unterschiedliche zusätzliche Anforderungen ergeben:
Bei der polizeilichen Wegweisung aus der Gemeinschaftsunterkunft muss der Störer Informationen
über kurzfristig verfügbare Übernachtungsmöglichkeiten wie zum Beispiel Obdachlosenunterkünfte
in einer Sprache erhalten, die er versteht.
Anordnungen des Familiengerichts, nach denen der Täter die Unterkunft längerfristig zu verlassen
hat, müssen von der Ausländer- und /oder Sozialbehörde kurzfristig mit Umschreibung der Wohnsitzauflage bzw. Zuweisung einer neuen Unterkunft flankiert werden.
Spricht die Heimleitung ein unbefristetes Hausverbot aus, muss der Täter Informationen über kurzfristig verfügbare Übernachtungsmöglichkeiten erhalten. Ansonsten gilt dasselbe wie bei der längerfristigen Maßnahme nach dem Gewaltschutzgesetz.
Leben Täter und Opfer noch in der Erstaufnahme, muss die Ausländerbehörde den Störer darüber
hinaus kurzfristig aus der Verpflichtung entlassen, in der Aufnahmeeinrichtung zu leben.
4.1 Kurzfristige polizeiliche Verweisung aus
der Unterkunft
Fast alle Bundesländer haben eine spezielle Befugnis
zur Wohnungsverweisung für die Polizei und / oder
die Ordnungsbehörden geregelt.80 Der gewalttätigen
Person, dem sogenannten Störer, wird aufgegeben,
die gemeinsame Wohnung zu verlassen und für einen bestimmten Zeitraum nicht wieder zu betreten,
wenn dies zur Abwendung einer Gefahr für Leben,
Gesundheit oder Freiheit erforderlich ist. Darüber hi-
naus ermächtigt das Polizeirecht der Länder die Behörden, flankierende Maßnahmen gegen den Störer
anzuordnen, wie zum Beispiel Betretungsverbote für
andere Orte, an denen sich die Betroffenen aufhalten, oder Kontakt- und Näherungsverbote entweder
auf der Grundlage weiterer Standardmaßnahmen
oder der polizeilichen Generalklausel. Diese kurzfristige Intervention zielt darauf ab, eine Krisensituation
zu entschärfen und den Betroffenen eine Schutz- und
Ruhephase zu verschaffen, in der sie sich überlegen
können, wie sie ihr Leben gestalten möchten und ob
80 In Bayern ordnet die Polizei die kurzfristige Trennung von Betroffenen und Tätern über den Platzverweis an. Für einen Überblick über die
Länderregelungen siehe Söllner, Sebastian (2013): Kapitel 3, Gefahrenabwehr/Gefahrbeseitigung. In: Pewestorf, Adrian; Söllner, Sebastian;
Tölle, Olliver, Praxishandbuch Polizei- und Ordnungsrecht 1. Auflage. Köln: Carl Heymanns Verlag, Rz. 54–80.
17
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
sie gegebenenfalls weitere zivilrechtliche Schutzmaßnahmen benötigen. Hierzu informiert die Polizei vor
Ort über Beratungsangebote und gibt die Kontaktdaten
der Betroffenen je nach Bundesland mit oder ohne ihr
Einverständnis an Beratungsstellen weiter.
Unsicherheit über rechtliche Fragen in der Praxis
troffene eine zusätzliche Belastung sein, in eine andere
Flüchtlingsunterkunft zu wechseln. Ist sie zum Bespiel
einer kleinen, gut betreuten Gemeinschaftsunterkunft
zugewiesen, hat in der Region soziale Kontakte und
gehen ihre Kinder dort zur Schule, bedeutet ein Wechsel unter Umständen eine Verschlechterung. Dahinter
müssen die Interessen des Störers zurücktreten.
Die schriftliche Abfrage der für die Erstaufnahmeeinrichtungen zuständigen Innen- und Integrationsministerien81 weist auf Rechtsunsicherheiten bei
der Anwendung dieser polizeilichen Maßnahmen in
Flüchtlingsunterkünften hin. Bis auf abweichende Einzelmeinungen geht die Rechtsauffassung überwiegend
dahin, dass die Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen
grundsätzlich kein Hindernis für eine Wegweisung
sind. Uneinheitlich sind die Antworten in Bezug auf
zusätzliche Anforderungen. Zum Teil wird pauschal
auf hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit
hingewiesen. Andere Ministerien betonen die Notwendigkeit, die zuständige Ausländerbehörde frühzeitig einzubinden oder die Störer auf Notunterkünfte
hinzuweisen.
Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit
In den Interviews mit Frauenberatungsstellen und
Heimleitungen spiegeln sich unterschiedliche polizeiliche Praxen wieder. So wird zum Beispiel die Rechtsauffassung der Polizei berichtet, die Wegweisung aus
der Erstaufnahmeeinrichtung sei nicht möglich. Angestrebt werde daher vorrangig die Trennung von Täter
und Opfer innerhalb der Unterkünfte oder die Unterbringung von Frauen in Frauenhäusern. Diese Praxis
wurde unabhängig vom Bundesland und der Art der
Unterkunft geschildert. Im Gegensatz dazu stehen
Berichte, nach denen gewalttätige Partner oder Mitbewohner unproblematisch der Unterkunft verwiesen
werden. Sie erhielten den Hinweis, sich am nächsten
Tag bei der Sozialbehörde zu melden und die Zuweisung in eine andere Unterkunft zu beantragen.
Die meisten Räume in Erstaufnahmeeinrichtungen
oder Gemeinschaftsunterkünften werden zwangsläufig von allen Bewohner_innen mehrfach am Tag genutzt. Der „individuelle“ Bereich ist in der Regel ein
Mehrbettzimmer oder ein kleines Einzelzimmer und
auf wenige Quadratmeter beschränkt. Zum Teil haben
nicht alle Bewohner_innen Schlüssel für die Mehrbettzimmer. Der gemeinsam zu nutzende Raum überwiegt
deutlich. Die Nutzungsmöglichkeiten sind zum Teil
beschränkt durch die Arbeitszeiten des Personals der
Unterkunft oder Regelungen in der Hausordnung.
Grundsätzliche Anwendbarkeit der Normen in
Unterkünften
In einem Fall von geschlechtsspezifischer Gewalt wird
die Trennung von Täter und Opfer in der Regel erforderlich sein. Der standardmäßige Auszug der Betroffenen ist dabei, wie in Privathaushalten auch, keine
Handlungsalternative, die an „pflichtgemäßen und
sachgerechten Erwägungen“ orientiert ist82. Je nach
Einrichtung und Lebensumständen kann es für die Be-
Die Anordnung der Wohnungszuweisung steht im
Ermessen der Behörde. Die Ermessensausübung wird
gelenkt durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. In
großen Flüchtlingsunterkünften müsste die Polizei
bzw. Ordnungsbehörde daher zunächst abwägen, ob
die Trennung von Störern und Betroffenen durch eine
Unterbringung in verschiedenen Gebäudeteilen, Fluren
oder Stockwerken ein milderes Mittel ist. Im Ergebnis
wird man aber aufgrund der räumlichen Ausgestaltung dieser Einrichtungen in der Regel zu dem Schluss
kommen müssen, dass nur die Wegweisung aus der
Unterkunft effektiven Schutz gewährleistet und damit
erforderlich ist.
Asylsuchende können innerhalb der ersten Wochen
in der Erstaufnahmeeinrichtung nicht individuell kochen, sondern das Essen wird ihnen zu bestimmten
Zeiten in der Essensausgabe zugeteilt. Die Küche,
Waschküche, Waschräume, das Büro der Sozialarbeiter oder Heimleitung und das Spielzimmer für Kinder
sind Knotenpunkte, an denen sich die Bewohner_innen
zwangsläufig begegnen. Dazu kommt, dass Geduldete
und Asylsuchende die meiste Zeit des Tages in den
Unterkünften verbringen: In den ersten drei Monaten
ihres Aufenthaltes dürfen sie keiner Beschäftigung
nachgehen. Danach führen ein nachrangiger Arbeitsmarktzugang, die mangelnde Anerkennung von Bildungsabschlüssen sowie fehlende Sprachkenntnisse
81 Schriftliche Abfrage des DIMR von Januar 2015.
82 Guckelberger, Annette (2011): Die polizeiliche Wohnungsverweisung. In: JA Heft 1, S. 1 ff.
18
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
dazu, dass sie geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt
haben.83
Verpflichtung in der Erstaufnahme zu leben erforderlich (siehe dazu unter 3. 3. 2).
Im „Normalfall“ verursacht die Einschränkung des
Selbstbestimmungsrechts des Störers durch die
Wegweisung keine außerordentlichen Belastungen
und stellt vor dem Hintergrund des grundgesetzlich
hoch gewichteten Schutzes von Leib und Leben der
Betroffenen einen hinnehmbaren Nachteil dar.84 Die
Maßnahme ist auch nicht unverhältnismäßig aufgrund möglicher Obdachlosigkeit, aber gegebenenfalls mit einer Information über Notunterkünfte zu
flankieren.85
Nach den ersten drei Monaten können Asylsuchende
und Geduldete den ihnen in der Wohnsitzauflage zugewiesenen Ort vorübergehend86 – also zum Beispiel
für die Zeit der Wegweisung – verlassen, sie dürfen
nur ihren Wohnsitz nicht außerhalb dieses Gebietes
verlegen. Für die relativ kurze und klar begrenzte Zeit
der polizeilichen Wegweisung scheint der Verweis auf
Obdachlosenunterkünfte – wie bei Tätern in anderen
Fällen auch – verhältnismäßig.
Die Lebensumstände von Asylsuchenden und Geduldeten in Flüchtlingseinrichtungen weichen deutlich
von denen des Durchschnittbürgers ab und entsprechen gerade nicht dem „Normalfall“. Je nach Aufenthaltsdauer steht ihnen häufig kein soziales Netz
zur Verfügung, das sie bei einer Wegweisung aufnehmen könnte. Behörden müssen ihnen daher im
Rahmen der Wegweisung zwingend Informationen
über kurzfristig verfügbar Übernachtungsmöglichkeiten wie zum Beispiel Obdachlosenunterkünfte etc. in
einer verständlichen Sprache und für sie umsetzbar
vermitteln.
4.2 Längerfristige Maßnahmen nach dem
Gewaltschutzgesetz
Aus der Wohnsitzauflage und der Residenzpflicht
(siehe dazu unter 3. 3. 1) ergeben sich in einigen
Bundesländern weitere, bei einer Abwägung ins Gewicht fallenden Nachteile dann, wenn der Störer als
Asylsuchender in den ersten drei Monaten der engen
Residenzpflicht unterliegt und es in dem Gebiet, zum
Beispiel in der Stadt oder dem Landkreis, auf das sein
Aufenthalt räumlich begrenzt ist, keine andere Erstaufnahmeeinrichtung gibt. Auch ein kurzfristiges Verlassen dieses Gebietes ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde wäre ein Verstoß gegen die Residenzpflicht,
die mit einem Ordnungsgeld belegt ist. Auch würde
der Störer bei einer Wegweisung für zum Beispiel 7
Tage nicht seiner Pflichten nach § 47 Abs. 3 AsylVfG
genügen, die eine kurzfristige Erreichbarkeit der Person voraussetzt. In diesen Fällen wären also kurzfristig
flankierende Maßnahmen der zuständigen Behörde,
wie eine Umverteilung oder die Entlassung aus der
Das Gewaltschutzgesetz eröffnet die Möglichkeit, aufbauend auf einer polizeilichen Wegweisung aber auch
unabhängig davon, eine längerfristige räumliche Trennung von Betroffenen und Täter herzustellen. Die dort
verankerten Ansprüche auf Zuweisung der gemeinsamen Wohnung zur alleinigen Nutzung, § 2 Gewaltschutzgesetz sowie auf Anordnung von umfangreichen
Betretungs-, Kontakt- und Näherungsverboten, § 1004
BGB analog in Verbindung mit § 1 Gewaltschutzgesetz können auch im Eilverfahren ohne anwaltliche
Vertretung geltend gemacht werden. Versichern Betroffene die Verletzung von Körper, Gesundheit oder
Freiheit beziehungsweise die Drohung damit an Eides
statt, ordnen Familiengerichte diese Maßnahmen zur
Abwendung weiterer Verfahren in der Praxis innerhalb
weniger Tage an. Bisher gibt es keine in juristischen
Datenbanken auffindbare Rechtsprechung zu der Anwendung der Normen im Kontext von Flüchtlingsunterkünften. In den Interviews mit Rechtsanwältinnen
und Beratungsstellen werden nur ganz vereinzelt entsprechende Verfahren geschildert.
§ 2 Gewaltschutzgesetz setzt voraus, dass Betroffene
und Täter einen „auf Dauer angelegten gemeinsamen
Haushalt“ geführt haben. Über das Bewohnen derselben
Wohnung hinaus verlangt dieser Begriff eine Lebensgemeinschaft, die sich durch innere Bindungen und
ein gegenseitiges Füreinandereinstehen auszeichnet.87
83 Thränhardt (2015): Die Arbeitsintegration von Flüchtlingen in Deutschland. Humanität, Effektivität, Selbstbestimmung; Bertelsmann
Stiftung (Hrsg).
84 Petersen-Thrö, Ulf (2004): Sächs VBl. 2004, S. 173, 181.
85 Knape, Michael; Kiworr, Ulrich (2009): Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht für Berlin: Kommentar für Ausbildung und Praxis, 10.
Auflage. Hilden: Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmBH, § 29a, S. 540, 3.b).
86 § 60 Abs. 1 S. 3 AsylVfG, § 61 Abs. 1d S. 4 AufenthG.
87 Reinken, Werner (2012): § 2 Gewaltschutzgesetz. In: Bamberger, Heinz Georg; Roth, Herbert, Kommentar zum Bürgerglichen Gesetzbuch,
Band 3, 3. Auflage: München: C. H. Beck, Rz. 6.
19
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Somit fallen darunter keine Wohngemeinschaften, die
sich aus Kostengründen zusammengeschlossen haben
oder Mitbewohner_innen88 in Flüchtlingsunterkünften,
die unabhängig voneinander aufgrund einer behördlichen Zuweisung in der Unterkunft leben. Dementsprechend muss man zwischen den Bewohner_innen
unterscheiden, die dort als Paar wohnen und denen,
die zwar in derselben Unterkunft, unter Umständen
sogar im selben Zimmer, aber nicht als Einstandsgemeinschaft miteinander leben. Die erste Gruppe kann
die Zuweisung des gemeinsam genutzten Zimmers auf
§ 2 Gewaltschutzgesetz stützen. Letztere müssten bei
sexueller oder körperlicher Gewalt durch Mitbewohner_innen eine Anordnung der Aufgabe zum Beispiel
eines Nebenzimmers oder des gemeinsamen Zimmers
nach § 1 Gewaltschutzgesetz auf der Grundlage von
§ 1004 BGB stellen. Die nicht abschließende Auflistung
möglicher Maßnahmen in Form von Regelbeispielen der
verfahrensrechtlichen Norm, §1 Gewaltschutzgesetz
gewährt den Gerichten grundsätzlich einen Spielraum
bei der Gestaltung von erforderlichem Gewaltschutz,
solange die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des
§ 1004 BGB mit Bezug auf die Rechtsgüter des Körpers,
der Gesundheit und Freiheit in § 1 Gewaltschutzgesetz
vorliegen.89 In jedem Fall müsste eine solche Maßnahme mit einem Betretungsverbot der Unterkunft nach
§ 1004 BGB analog i. V. m. § 1 Gewaltschutzgesetz
flankiert werden, so dass sich der Schutz auf den gesamten Wohnbereich der Betroffenen bezieht.
Betretungsverbote der Zimmer gegenüber gewalttätigen Mitbewohner_innen oder Personal sowie Kontakt- und Näherungsverbote innerhalb der Unterkunft
als alleinige Maßnahmen werden in der Regel keinen
ausreichenden Schutz bieten. Enge Räumlichkeiten,
die Beschränkung des „individuellen“ Bereichs auf
Mehrbettzimmer und die Notwendigkeit, Gemeinschaftsräume zu nutzen, führen dazu, dass sie Bewohner_innen in vielen Unterkünften kaum aus dem
Weg gehen können (siehe dazu ausführlich unter 4.1).
Belange der Täter
Bei der Anwendung beider Normen des Gewaltschutzgesetzes sind die Belange der Täter zu berücksichtigen.
Ist sein Aufenthalt zur Wahrung seiner „berechtigten
Interessen“, an einem bestimmten Ort erforderlich,
kann eine Schutzanordnung gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2
Gewaltschutzgesetz nicht ohne weiteres angeordnet
werden. In § 2 stellen „besonders schwerwiegende Täterinteressen“ einen Ausschlussgrund des Anspruchs
auf Wohnungszuweisung der Betroffenen dar, der vorliegt, wenn zum Bespiel dem Täter eine schwierige Beschaffung von Ersatzwohnraum bei schwerer Krankheit
nicht zuzumuten ist.90
Interessen der Täter, die in diesem Kontext ins Gewicht
fallen, können je nach individueller Fallkonstellation
Obdachlosigkeit, ein Umgangsrecht mit Kindern, die
räumliche Beschränkung Asylsuchender und Geduldeter durch Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen,
sowie die Verpflichtung, sein, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. In Bundesländern, in denen sich
die räumliche Beschränkung auf das Land erstreckt ist,
entfallen diese Aspekte in der Regel. Hier ist im Anschluss an eine gerichtliche Wohnungszuweisung die
Leistungsbehörde für die Zuweisung einer neuen Unterkunft zuständig. Sind aber Umverteilungsverfahren
der Ausländerbehörden nötig, können diese Umstände
durchaus stark ins Gewicht gefallen. Das behördliche
Verfahren dauert in der Regel Monate: Es gibt keine
ermessensleitenden Vorschriften in Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt.
Insgesamt ist das Verfahren nicht auf den zum Teil
kurzfristigen Schutzbedarf gewaltbetroffener Frauen
ausgerichtet (siehe hierzu unter 3. 3. 2). Unabhängig
davon, wie die Abwägung im Einzelfall ausfällt, werden
aber in diesen Fällen zum Schutz flankierende aufenthalts- bzw. asylrechtliche Maßnahmen der Ausländerbehörde erforderlich sein, die entweder den Täter oder
die Betroffenen adressieren.
4.3 Hausverbot
Eine weitere Anlaufstelle für Bewohner_innen bei Gewalt können – soweit anwesend – Sozialarbeitende
in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften oder Heimleitungen sein. Sie sind in der Lage,
gewalttätige Situationen unmittelbar und niedrigschwellig mit einem Hausverbot zu regeln und können so eine wichtige Rolle für den Schutz Betroffener
spielen.
88 Gietl, Andreas (2013): § 2 Überlassung einer gemeinsam genutzten Wohnung. In Soergel, Hans-Theodor (Begr), Bürgerliches Gesetzbuch
mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen (BGB), Band 17/2, Familienrecht 1/2: NeheILG; LPartG; GewSchG; FamFG, 13. Auflage. Stuttgart:
Verlag W. Kohlhammer, § 2 Rz. 8.
89 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24. 02. 2014, XII ZB 373/11, Rz.13.
90 Ehinger, Uta (2011): Die Ehewohnungszuweisung nach dem Gewaltschutzgesetz. In FPR, 567–569.
20
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Das Hausverbot kann im Rahmen des Hausrechts ausgesprochen werden. Das steht dem Träger der Einrichtung
zu und wird der Einrichtung übertragen, damit diese
einen störungsfreien Ablauf des Betriebes gewährleisten und die dazu erforderlichen Maßnahmen ergreifen
kann. Satzungen91 bzw. Hausordnungen der Unterkünfte
enthalten häufig Bezüge zu konflikthaftem Verhalten
oder Gewalt. Sie konkretisieren die erforderlichen Maßnahmen zur Ausübung des Hausrechts und sind zum
Beispiel Ermächtigungsgrundlage einer Einrichtung, die
störende oder gewalttätige Person auch gegen deren
Willen umzuverteilen oder vom Aufenthalt in der Unterkunft auszuschließen. Wer von den Mitarbeiter_innen
der Einrichtung das Hausrecht ausüben darf, ist innerbetrieblich zu regeln. Üblicherweise ist dies die Einrichtungsleitung. Diese kann das Hausrecht wiederum auf
nachgeordnete Mitarbeitende übertragen.
In den Interviews gibt es Hinweise darauf, dass die Einrichtungen das Hausrecht in Fällen von Gewalt unterschiedlich interpretieren. Hier zeigen sich Parallelen zu
der Uneinigkeit im Bereich der polizeilichen Intervention. Fragen, ob ein Hausverbot aufgrund bestehender
aufenthalts- oder asylrechtlicher Verpflichtungen für
den Täter überhaupt möglich ist, wie lange ein Hausverbot erteilt werden kann und ob die Einrichtung eine
neue Unterbringungsmöglichkeit suchen muss, werden
unterschiedlich beantwortet. Die Praxis wird auch mit
der Sensibilisierung des Personals für das Thema Gewalt
gegen Frauen und häusliche Gewalt zusammenhängen.
Unabhängig davon, ob es sich um einen staatlichen,
freien oder privaten Träger92 der Einrichtung handelt,
ist er, da er eine öffentlich-rechtliche Aufgabe wahrnimmt, zumindest mittelbar grundrechtsverpflichtet.
Er kann weder das öffentlich-rechtliche noch das privatrechtliche Hausrecht frei oder gar willkürlich wie
ein Privater nach Belieben ausüben, sondern muss
bei der Erteilung von Hausverboten die Grundrechte
aller Bewohner_innen sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Hierzu gibt es eine Reihe
von gerichtlichen Entscheidungen zu Hausverboten
aufgrund häuslicher Gewalt in Obdachlosenunterkünften, in denen Gerichte feststellen, dass das Hausverbot des Täters einem legitimen Ziel dient: dem
ordnungsgemäßen Betrieb der Einrichtung. Im Rah-
men der Verhältnismäßigkeit werden die Belastungen
des Täters aufgrund der Dauer des Hausverbotes, des
zeitlichen Ablaufes, erneuter Obdachlosigkeit, sowie
der Beschränkung seines Rechts auf Familienleben
berücksichtigt und selbst ein unbefristetes, kurzfristig
angeordnetes Hausverbot als geeignet und erforderlich bewertet, solange der Täter unterbringungsfähig
und –willig ist, über eigene Mittel verfügt oder eine
andere Unterkunft angeboten bekommt.93 Die mögliche Umverteilung der Betroffenen als milderes Mittel
zur Vermeidung weiterer Gewalt wird verworfen.94 Wie
oben bereits ausgeführt, sind bei Asylsuchenden und
Geduldeten darüber hinaus die ausländerrechtlichen
Beschränkungen zu berücksichtigen. Daraus resultieren je nach Dauer des Hausverbotes Anforderungen
an flankierende Maßnahmen wie bei der polizeilichen
Intervention oder der gerichtlichen Anordnung (siehe
hierzu unter 4.1, 4.2).
5 Zusammenfassung und
Empfehlungen
5.1 Zusammenfassung
Nichtrepräsentative Untersuchungen zum Gewaltaufkommen bei geflüchteten Frauen deuten auf eine hohe
Gewaltprävalenz hin: Die Frauen sind von geschlechtsspezifischer Gewalt in Erstaufnahmeeinrichtungen und
Gemeinschaftsunterkünften in Deutschland betroffen.
Täter sind auch Mitbewohner oder mitreisende Partner.
Eine entsprechende Vulnerabilität bei Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*- und Inter*-Menschen (LSBTI)
wird von Seiten der Beratungsstellen und Interessenverbänden zunehmend thematisiert.
Die Betroffenen sind aufgrund der strukturellen und
rechtlichen Rahmenbedingungen ihres Lebens in
der Unterkunft in ihrer Autonomie, den rechtlichen
Möglichkeiten und damit in ihrer Wehrfähigkeit
eingeschränkt. Dies steht im Widerspruch zu den
Verpflichtungen Deutschlands aus den internationalen und europäischen Menschenrechtsverträgen.
Insbesondere die bevorstehende Ratifikation der
Istanbul-Konvention des Europarates gibt Anlass zur
91 Wird die Einrichtung in staatlicher Trägerschaft betrieben muss die Hausordnung in Form einer Satzung niedergelegt sein: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Februar 1994–1 S 1027/93.
92 Staatliche Träger sind je nach Verwaltungsstruktur der Bundesländer das Land, die Bezirksregierung, der Kreis, die Gemeinde oder eine
Stadt; freie Träger sind z. B. die Wohlfahrtsverbände, die gemeinnützig sind sowie private Träger, die nicht gemeinnützig sondern auf
wirtschaftlichen Profit ausgerichtet sind.
93 Zum Beispiel VG Augsburg, Beschluss vom 23. 08. 2012, Az. Au 7 S 12.1108; VG Osnabrück, Beschluss vom 04. 05. 2012, Az. 6 B 44/12; VG
Aachen, Beschluss vom 04. 04. 2007, Az. 6 L 113/07.
94 VG Augsburg, Beschluss vom 23. 08. 2012, Az. Au 7 S 12.1108, juris, Rz. 52.
21
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
Weiterentwicklung des Gewaltschutzsystems in Bezug auf die Lebenssituation von Asylsuchenden und
Geduldeten in Deutschland.
Neben einem Beschwerdemanagement für geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen, das der CEDAW-Ausschuss für Flüchtlingsunterkünfte vorsieht, müssen
allen Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt auf
der Grundlage der Istanbul-Konvention kurz- und längerfristige Schutzanordnungen zugänglich gemacht
werden. Unabhängig davon, wie oder in welchem
Rechtsgebiet diese Maßnahmen verankert sind, sind sie
an den Anforderungen der Konvention zu messen: Sie
müssen kurzfristig und mit sofortiger Wirkung Schutz
bieten, unabhängig von anderen rechtlichen Verfahren
beantragt werden können sowie für einen bestimmten
Zeitraum und ohne unangemessenen administrativen
und finanziellen Aufwand zur Verfügung stehen.
Die Konvention sieht hierfür die Trennung von Täter
und Opfer vor, bei dem die Betroffenen die Wahlmöglichkeit haben und ihr Schutz das vorrangige Ziel ist.
Um die menschenrechtlichen Verpflichtungen umzusetzen, wird es nicht ausreichen, „nur“ entsprechende gesetzliche Regelungen zur Verfügung zu stellen.
Aufgrund der Vulnerabilität der Angehörigen dieser
Gruppen muss ein Schwerpunkt auch auf die Ermöglichung der Inanspruchnahme, also den Zugang zu
diesem Recht, gelegt werden.
Asylsuchende und Geduldete leben relativ isoliert in
den Unterkünften. Sie wissen kaum um ihre Rechte bei
Gewalt. Ihr Zugang zum externen Unterstützungs- und
Rechtssystem ist eingeschränkt. Die Inanspruchnahme rechtlicher Möglichkeiten wird für Betroffene dann
schwierig, wenn sie fürchten, ihren Aufenthaltsstatus
zu gefährden. Haben Frauen ihren Asylantrag nicht auf
eigene Fluchtgründe gestützt, aus Scham, sexuelle Gewalt zu offenbaren oder weil „nur“ ihr Partner verfolgt
wurde, ist ihr Asylantrag von dem Bestand der Ehe
abhängig. Rechtliche Unwissenheit oder Unsicherheit
verstärkt die Tendenz, Gewalt auszuhalten.
In der Regel sehen weder Landesaufnahmegesetze,
deren Durchführungsbestimmungen noch Verträge
zwischen Ländern bzw. Kommunen und Betreiber_innen die Verpflichtung vor, in Einrichtungen und Unterkünften ein Beschwerdemanagement zu errichten
oder Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln. Schutz vor
geschlechtsspezifischer Gewalt ist dementsprechend
auch kein regelmäßiger Bestandteil der Prüfung durch
die jeweiligen Aufsichtseinrichtungen.
Darüber hinaus unterliegen Flüchtlinge aufgrund ihres Status auch aufenthalts- und asylrechtlichen Beschränkungen. Dies führt dazu, dass Ausländer- und
Leistungsbehörden sowie die Flüchtlingsunterkünfte
eine zentrale Rolle beim Gewaltschutz spielen und
auch einnehmen müssen. Kommt es zu geschlechtsspezifischer Gewalt, werden sie zum einen unmittelbar
mit dem Bedarf nach Schutz adressiert, wenn Betroffene sich an die Heimleitung, Sozialarbeitende oder
den Wachschutz wenden. Alternativ stellen Betroffene
einen Antrag auf Umverteilung bei der Ausländerbehörde, in der Hoffnung, die gewalttätige Situation
verlassen zu können.
Gewaltschutz wird derzeit in der Praxis – wenn überhaupt – über eine Trennung von Täter und Opfer innerhalb der Einrichtungen organisiert, oder die Betroffenen gehen in ein Frauenhaus. Die sich daran unter
Umständen anschließenden Umverteilungsverfahren
dauern Monate. Die Praxis scheint wenig einheitlich.
Vorgaben oder Mindeststandards für die Vorgehensweise für Mitarbeitende in Unterkünften oder Ausländer- und Leistungsbehörden bei Gewalt in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften gibt es
in der Regel nicht.
Zusätzlich muss die Anwendung von Gewaltschutzvorschriften in bestimmten Situationen von Maßnahmen
der Ausländer- und Sozialbehörden flankiert werden:
Zwar sind die polizeiliche Wegweisung95, zivilrechtliche
Kontakt-und Näherungsverbote sowie die Wohnungszuweisung nach den §§ 1, 2 Gewaltschutzgesetz auch
in Flüchtlingsunterkünften grundsätzlich anwendbar.
Das Personal in den Unterkünften kann im Rahmen
des Hausrechts zum Schutz der Betroffenen gegenüber
den Tätern ein Hausverbot aussprechen. Asylsuchende und Geduldete sind aber für eine bestimmte Zeit
verpflichtet, in Aufnahmeeinrichtungen zu leben und
dürfen wegen der dreimonatigen Residenzpflicht ein
von der Ausländerbehörde bestimmtes Gebiet nicht
verlassen. Anschließend werden sie in der Regel über
Wohnsitzauflagen verpflichtet, in einer bestimmten
Region, Stadt oder Unterkunft zu wohnen.
Die Einhaltung dieser Verpflichtungen ist dann als berechtigtes Interesse der Täter im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen, wenn die polizeiliche oder
95 Wegweisung wird stellvertretend genutzt für die unterschiedlichen Begriffe Platzverweis, Wohnungswegweisung, etc. in den Länderpolizeigesetzen.
22
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
gerichtliche Maßnahme mit den ausländerrechtlichen
Verpflichtungen kollidiert. Sind die ausländerrechtlichen
Regelungen so ausgestaltet, dass sich Residenzpflicht
und Wohnsitzauflagen auf ein gesamtes Bundesland
beziehen, wird das in der Regel nicht der Fall sein. Zur
Wahrung der Verhältnismäßigkeit bedarf es dann den
verständlich formulierten Verweis auf kurzfristige Unterbringungsmöglichkeiten sowie auf die Notwendigkeit, bei der Leistungsbehörde die Zuweisung in eine
andere Unterkunft zu beantragen. In den Regionen des
Bundesgebietes, wo die Täter engen Beschränkungen
und Auflagen unterliegen, können zusätzlich flankierende Maßnahmen der Ausländerbehörden erforderlich
sein, wie die Umschreibung der Wohnsitzauflagen oder
die Entlassung aus der Erstaufnahme. Diese Maßnahmen stehen zum Teil im Ermessen der Ausländerbehörden. Geschlechtsspezifische Gewalt ist in der Regel
nicht als ermessenleitendes Kriterium in Verwaltungsverschriften festgeschrieben. Die Entscheidungsverfahren dauern Monate und sind damit derzeit nicht auf
kurzfristigen Schutzbedarf der Betroffenen ausgerichtet.
Die derzeitige Praxis genügt damit nicht den Anforderungen der Istanbul-Konvention. Es fehlt an einem
institutionalisierten Ineinandergreifen der zivilrechtlichen und ausländerrechtlichen Regime in Gewaltschutzschutzfällen.
5.2 Empfehlungen
Um Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt
in Flüchtlingsunterkünften effektive Schutzmaßnahmen zu gewähren, wird ein Schwerpunkt auch auf der
schnellen behördlichen Umverteilung und damit im
Zuständigkeitsbereich der Ausländer- und Sozialbehörden liegen. Aufgrund der aktuellen Belastung dieser
Behörden durch die steigende Anzahl von Asylanträgen ist die Diskussion derzeit stark verengt auf Fragen nach der Unterbringung und Kostenlast. Aber auch
wenn die Länder derzeit zuallererst vor der Herausforderung stehen, Obdachlosigkeit zu vermeiden, ist es
wichtig, in der Fachdiskussion nicht beim Status Quo
stehen zu bleiben. Jetzt werden die Weichen gestellt
für den Aufbau weiterer Unterkünfte und damit auch
für die Lebensbedingungen von geflüchteten Frauen.
Eine „neue“ Problematik allein in die Diskussion und
die Forderungskataloge für die Unterbringung einzu-
führen, stellt eine Herausforderung dar. Hier könnte
es sich anbieten, aktuell laufende Prozesse zu nutzen.
Ein solcher Prozess ist die Umsetzung der reformierten
EU-Aufnahmerichtlinie, die Maßnahmen zur Versorgung und Unterbringung „besonders schutzbedürftiger
Personen“ wie z. B. Schwangere, Alleinerziehende oder
auch gewaltbetroffene Personen vorsieht.96 Hierzu gibt
es bereits verschiedene Projekte und Initiativen in den
Bundesländern.
Zur Umsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz von Frauen und LSBTI vor geschlechtsspezifischer Gewalt macht das Deutsche Institut für
Menschenrechte folgende Empfehlungen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Schutz von Frauen. Im Bereich von LSBTI sind diesbezüglich viele Aspekte noch
zu diskutieren.
5.2.1 Anpassung der Verfahren in
Ausländer- und Sozialbehörden an den
Schutzbedarf
Organisation von kurzfristigem Schutz durch die
Ausländer- und Sozialbehörden
Eines der dringlichsten Probleme ist die Anpassung der
Verfahren von Ausländer- und Sozialbehörden an die
kurzfristigen Schutzbedarfe der Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt. Um die menschenrechtlichen Vorgaben der Istanbul-Konvention zu gewährleisten, sind verschiedene Wege denkbar:
Entweder werden im Fall von geschlechtsspezifischer
Gewalt die rechtlichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Betroffenen aufgehoben und damit
ihre Wehrfähigkeit erhöht. Ohne Gesetzesänderung
könnte dies dadurch gewährleistet werden, dass
die Betroffenen unverzüglich aus der Verpflichtung
entlassen werden, in der Erstaufnahme zu wohnen,
sowie die Erlaubnis des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge (BAMF) erhalten, den ihnen räumlich gestatteten Bereich zu verlassen und / oder ihre
Wohnsitzauflage wird auf das gesamte Bundesland
erweitert. Entsprechende Regelungen könnten in den
Bundes- und Landesvorgaben für die Ausländerbehörden verankert werden. Sie hätten aber zur Folge, dass in der Regel die Betroffenen die Unterkunft
verlassen müssten. Ob das in allen Fällen zu einem
96 Zwar hätte die Richtlinie bereits bis Ende Juli 2015 umgesetzt werden müssen, aufgrund von Verzögerungen ist der Prozess aber noch nicht
abgeschlossen: Bundestag (2015): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, psychosoziale Betreuung
und Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen, Drucksache 18/4622 vom 29. 04. 2015, S. 8: Die Bundesregierung prüft derzeit die
erforderlichen Schritte zur Umsetzung der Richtlinie.
23
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
sachgerechten Ergebnis führt, müsste in der Praxis
diskutiert werden.
Oder es muss sichergestellt werden, dass Entscheidungen der Ausländerbehörden und / oder der Sozialbehörden für eine Umverteilung bei geschlechtsspezifischer
Gewalt durch Partner oder andere Bewohner in der
Einrichtung schnell, niedrigschwellig und ohne hohen
administrativen Aufwand für die Betroffenen ergehen.
Dies setzt folgende Schritte voraus:
•
In den Sozial- und Ausländerbehörden werden
Sonderzuständigkeiten und ein Schnellverfahren für die Umverteilung bei Gewalt eingerichtet. Solche „fast track“-Regelungen gibt es in
einigen Bundesländern bereits für andere vulnerable Gruppen wie zum Beispiel Betroffene
von Menschenhandel, für die eine kurzfristige
Regelung der Unterbringung aus Schutzgründen entscheidend ist. Erforderlich sind eine
schnelle Erreichbarkeit der zuständigen Behördenmitarbeitenden und ein Verfahrensablauf, der es den Mitarbeit_innen ermöglicht,
innerhalb weniger Tage eine Umverteilung zu
gewährleisten.
•
Die Sozialbehörden halten in einer oder mehreren Flüchtlingsunterkünften eine bestimmte
Anzahl von Notplätzen vor, so dass gefährdete Personen kurzfristig untergebracht werden
können. Hierzu bieten sich Einrichtungen an,
die auch nachts Personen aufnehmen können.
•
Fortbildung der Zuständigen und Vernetzung
mit dem auf geschlechtsspezifische Gewalt
spezialisierten Unterstützungssystem.
Rechtliche Klarstellung der Bedeutung
geschlechtsspezifischer Gewalt in den Vorgaben für
die Ausländer– und Sozialbehörden sowie für das
BAMF
Um zu gewährleisten, dass die zuständigen Behörden
schnell rechtssichere Entscheidungen treffen können,
bietet es sich an, handlungsleitende Vorgaben für den
Fall geschlechtsspezifischer Gewalt zu implementieren. Je nach Bundesland und Ausgestaltung der aufenthaltsrechtlichen Beschränkungen sind hierfür die
Ausländer und/oder die Sozialbehörden die entscheidenden Akteure:
•
Die Innenministerien des Bundes und der Länder97 sollten in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz bzw. den
Verfahrensleitlinien an die Ausländerbehörden
klarstellen, dass geschlechtsspezifische Gewalt
einen besonderen Schutzbedarf auslöst. Da Täter auch Mitbewohner und nicht nur Partner
sind, ist eine Engführung auf häusliche Gewalt
zu vermeiden. Die Entscheidung, ob Täter oder
Opfer die Einrichtung verlassen, sollte an Sicherheitsfragen orientiert sein. Es sollte eine
einheitliche Formulierung in Bezug auf alle
Normen gewählt werden, die Betroffene durch
Wohnsitzauflagen und die Residenzpflicht in ihrer Bewegungsfreiheit und damit ihren Möglichkeiten, Sicherheit zu organisieren, einschränken.
Für Asylsuchende betrifft das in den verschiedenen
Phasen ihres Aufenthaltes in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften den
Begriff der „zwingenden Gründe“ in § 57 Abs. 1
AsylVfG und § 58 Abs. 1 sowie § 60 Abs. 2 AsylVfG. In Bezug auf geduldete Personen ist in § 61
Abs. (1d) S. 3 Aufenthaltsgesetz klarzustellen, dass
Schutz vor Gewalt unter den Begriff der „humanitären Gründe“ fällt. In den §§ 57 und 60 AsylVfG
und § 61 AufenthG wird der Hinweis erforderlich,
dass sich bei Gewalt das Ermessen zu einen Anspruch der Betroffenen auf Schutz verdichtet.
Folgende Formulierung wäre denkbar:
„Geschlechtsspezifische psychische, körperliche
und sexualisierte Gewalt gegen Personen durch
Bewohner_innen, Familienangehörige oder (ehemalige) Partner_innen im Gebiet der räumlichen
Aufenthaltsgestattung bzw. der Wohnsitzauflage verursacht einen besonderen Schutzbedarf.
Die Zustimmung zu einem Wohnortwechsel des
Täters oder der Betroffenen ist in diesen Fällen
zu erteilen. Bei der Prüfung der Voraussetzungen ist sprachlichen, kulturell bedingten oder
psychischen Problemen der betroffenen Person
Rechnung zu tragen. Solche Probleme können zu
Schwierigkeiten bei der Darstellung der Gewalt
führen. Insofern genügt es, wenn die Gewalt
durch die betroffene Person oder spezialisierte
Beratungsstellen plausibel dargestellt wird. Sind
Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz wie
die Wohnungszuweisung sowie Kontakt- und
Näherungsverbote angeordnet oder ist eine polizeiliche Wegweisung erfolgt, ist die Zustimmung
zu erteilen.“
97 Eigene Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz haben nur einige Länder, wie zum Beispiel Berlin.
24
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
•
•
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) sollte geschlechtsspezifische Gewalt
in der Dienstanweisung Asylverfahren (DAAsyl) Stand 04. 03. 2010 aufnehmen und sie als
zwingenden Grund für die Erlaubnis nach § 57
AsylVfG definieren, die Erstaufnahmeeinrichtung zu verlassen. Die Entscheidung darüber,
wer die Einrichtung vorzeitig verlässt, darf die
von Gewalt betroffene Person nicht zusätzlich
belasten.
Die Innenministerien der Länder sollten in ihren jeweiligen Ausführungsvorschriften zu
den Landesaufnahmegesetzen Regelungen zur
Umverteilung von Bewohner_innen bei geschlechtsspezifischer Gewalt aufnehmen bzw.
vorhandene Regelungen anpassen. Folgende
Formulierung ist dabei denkbar:
„Geschlechtsspezifische psychische, körperliche und sexualisierte Gewalt gegen Personen
durch Bewohner_innen, Familienangehörige
oder (ehemalige) Partner_innen sind zwingende Gründe für eine Umverteilung von Täter oder
Opfer, auch wenn zum Schutz die Verlegung in
den Bezirk einer anderen Ausländerbehörde oder
ein anderes Bundesland erforderlich ist. Aufgrund der zu nutzenden Gemeinschaftsräume
bietet eine Trennung von Täter und Betroffener
innerhalb einer Einrichtung in der Regel keinen
angemessenen Schutz. Den Betroffenen steht
dabei ein Wahlrecht zu, ob sie in der Unterkunft
bleiben oder diese aus Sicherheitsgründen verlassen möchten. Möglich ist die Verlegung des
Täters oder die Unterbringung der Betroffenen in
einer anderen Unterkunft oder in einem Frauenhaus. Auch bei einer Verlegung des Täters gegen
seinen Willen sind die Anforderungen an Belege
für Gewalt an den Maßstäben eines effektiven
Gewaltschutzes zu messen: Eine polizeiliche Anzeige der Betroffenen ist nicht erforderlich. Es
genügt, wenn die Gewalt durch die betroffene
Person oder spezialisierte Beratungsstellen plausibel dargestellt wird. Sind Maßnahmen nach
dem Gewaltschutzgesetz wie die Wohnungszuweisung sowie Kontakt- und Näherungsverbote
angeordnet oder ist eine polizeiliche Wegweisung erfolgt, ist die Zustimmung zu erteilen.“
5.2.2 Rechtliche Klarstellung in Bezug auf
polizeiliche Befugnisse in Unterkünften
Viele Innenministerien der Länder haben in verschiedenen Formaten, wie zum Beispiel durch Broschüren,
Handlungsleitlinien98 oder Erlasse, die Polizei zur Vorgehensweise bei häuslicher Gewalt informiert und
sensibilisiert. Die besondere Situation von Migrantinnen mit prekärem Aufenthaltsstatus wird häufig nur
mit Bezug zu § 31 AufenthG thematisiert.99 Vereinzelt
beziehen sich die Vorgaben explizit auf die Situation
in Flüchtlingsunterkünften.100 Daher sollten Informationen über die Anwendung polizeilicher Maßnahmen
in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften sowie die ausländerrechtlichen Konsequenzen
in die Vorgaben aufgenommen werden:
•
Klarstellung, dass die polizeiliche Wegweisung101 von Störern auch in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften
anwendbar ist. Betroffene können in Schutzwohnungen oder Frauenhäuser gebracht werden. Je nachdem, wie die räumliche Gestattung
ausgestaltet ist, muss auch das kurzfristige Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung nach der
polizeilichen Maßnahme vom BAMF genehmigt
werden.
•
Bei Verständigungsschwierigkeiten und fehlender Sprachmittlung kann das Bundeshilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ hinzugezogen
werden, um Informationen an die Betroffenen
zu geben.102
•
Zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind Störer in einer für sie verständlichen
Sprache über Not- oder Obdachlosenunterkünfte
zu informieren.
98 Zum Beispiel in Hessen: https://www.polizei.hessen.de/File/2009–02-Handlungsleitlinien-haeusl-Gewalt-Internet.pdf (PDF, 180 KB) (Stand:
02. 07. 2015).
99 Zum Beispiel Innenministerium NRW (2002): Häusliche Gewalt und polizeiliches Handeln – Information für die Polizei und andere Beteiligte: http://www.mgepa.nrw.de/mediapool/pdf/emanzipation/frauen/hausliche_Gewalt_IM_NRW.pdf (PDF, 527 KB, nicht barrierefrei)
(Stand:02. 07. 2015).
100 Schleswig-Holstein hat im April 2015 den Erlass zum polizeilichen Einschreiten in Fällen von häuslicher Gewalt vom 21. 03. 2013 ergänzt
um Vorgaben zum „Sonderfall HG in Flüchtlings-und Asylunterkünften“.
101 Wegweisung wird hier stellvertretend für die zum Teil unterschiedlichen Begriffe in den Polizeigesetzen der Länder benutzt.
102 So der Erlass Schleswig-Holstein Fn. 98, der ausführlich über die Unterstützungsmöglichkeiten des Hilfetelefons im Einsatz sowie verfügbare Sprachen informiert.
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Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
•
•
Aufgrund der überwiegenden, zwingend zu
nutzenden Gemeinschaftsräume wie Küchen,
Waschküchen, Mehrbettzimmer, Aufenthaltsräume etc. ist in der Regel eine Trennung von
Täter und Betroffener innerhalb einer Einrichtung keine geeignete Maßnahme.
werden. Aus Gründen der Qualitätssicherung sollte zu
den Maßnahmen auch die Fraueninfrastruktur gegen
Gewalt sowie die LSBTI Organisationen konsultiert
werden. Denkbar wäre zum Bespiel104:
•
Regelmäßige Information der Bewohner_innen
über ihre Rechte bei Gewalt sowie über das
Unterstützungssystem: Bei der Informationsvermittlung ist zu berücksichtigen, dass Asylsuchende bereits mit einer Vielzahl von schriftlichem Informationsmaterial konfrontiert sind. In
einem ersten Schritt könnte mehrsprachig auf
das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen
Frauen“ hingewiesen werden, da hier bei Bedarf ein externer Dolmetscherdienst einschaltet
werden kann.
•
Gewährleistung von abschließbaren Zimmern
und Sanitäranlagen.
•
Einrichtung von Frauenräumen innerhalb der
Unterkünfte105. Hier können dann beispielsweise auch externe Beratungsstrukturen Angebote
anknüpfen.
•
Vernetzung von Unterkünften mit dem auf Gewalt gegen Frauen spezialisierten Unterstützungssystem sowie LSBTI Organisationen.
•
Sensibilisierung des Personals von Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften: Fortbildungen für Heimleitung, Sozialdienst, Wachschutz, die auf die jeweiligen
Befugnisse / Kompetenzen der Gruppen zugeschnittenen sind.
•
gemischtgeschlechtliche Besetzung des Wachschutzes.106
Wie bei Einsätzen in Privathaushalten auch, sind
bei polizeilichen Maßnahmen in Flüchtlingsunterkünften die Betroffenen über Möglichkeiten
des Gewaltschutzgesetzes und Beratungsangebote zu informieren und, soweit dies im jeweiligen Bundesland vorgesehen ist, die Daten der
Betroffenen gegebenenfalls an Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt zu übermitteln.
5.2.3 Mehr Schutz durch strukturelle
Änderungen (Innen-, Sozial- und Frauenministerien)
Errichtung von Gemeinschaftsunterkünften für
Frauen und Kinder
Im Kontext der Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie
sollten in den Bundesländern Unterkünfte für Frauen und
ihre Kinder eingerichtet werden. Dies ist in einigen Ländern bereits umgesetzt oder in Planung; dort aber mit einem Schwerpunkt auf allein reisende Frauen oder durch
Bedingungen im Herkunftsland bzw. auf der Flucht belastetste Frauen gedacht. Bei der Errichtung solcher Einrichtungen sollte insbesondere mit Blick auf Kapazitäten von
vornherein auch die Gruppe der Frauen mitberücksichtigt
werden, die in Unterkünften Gewalt erfahren.
Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gewalt in
Standards der Unterbringung und Prüfverfahren
Die je nach Bundesland und Unterkunftstyp – Erstaufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft –
zuständigen Innen-, Integrations- oder Sozialbehörden
sollten geschlechtsspezifische Gewalt bei Entwicklung
beziehungsweise Überarbeitung von Vorgaben für die
Unterbringung in Form von Mindeststandards, Leitlinien oder Konzepten103 berücksichtigen. Dabei sollte
darauf geachtet werden, dass diese Vorgaben auch
Bestandteil von Überprüfungen der Einrichtungen
Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gewalt
bei Errichtung eines Beschwerdemanagements in
Unterkünften
Die Errichtung eines Beschwerdemanagements für
Bewohner_innen von Erstaufnahmeeinrichtungen und
Gemeinschaftsunterkünften ist eine immer wieder vor-
103 Siehe zum Beispiel Paritätischer Gesamtverband (2015), Fn. 48.
104 Weitere Aspekte zu einer geschlechtersensiblen Unterbringung von Frauen siehe UNHCR (2008): Handbook for the Protection of Women
and Girls, S. 324, 325, http://www.unhcr.org/47cfa9fe2.html (Stand: 02. 07. 2015).
105 So sehen zum Bespiel die Leistungsbeschreibung über Standards in Unterbringungseinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen
ein Frauencafé unter weiblicher Betreuung vor. http://www.mik.nrw.de/fileadmin/user_upload/Redakteure/Dokumente/Themen_und_
Aufgaben/Auslaenderfragen/Asyl/2014–10–12_leistungsbeschreibung_neu.pdf (PDF, 148 KB) (Stand: 02. 07. 2015).
106 UNHCR (2008), Fn. 104, S. 324.
26
Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften
gebrachte Forderung107. Sie erhält mit Blick auf Prävention und Intervention bei Gewalt gegen Frauen rechtlichen Nachdruck von Seiten der UN- Frauenrechtskonvention.108 Bei Gewaltvorfällen kann es für Betroffene
wichtig sein, sich an Beschwerdestellen wenden zu
können. In der aktuelle Diskussion sowie der Errichtung
solcher Stellen sollte das Thema geschlechtsspezifische
Gewalt daher mitgedacht werden. Dies wird auf verschiedenen Ebenen relevant.
•
Wenn die Konzeptentwicklung, wie erforderlich und zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen
umgesetzt, mit Nichtregierungsorganisationen
erfolgt, sollten auch die Frauenberatung sowie
LSBTI Organisationen beteiligt werden.
•
Die Stellen sollten für Betroffene niedrigschwellig zugänglich sein. Aus diesem Grund sollte es
möglich sein, eine weibliche Ansprechperson
anzutreffen. Ansprechpersonen sollten für das
Thema sensibilisiert sein.
•
Die Stelle sollte mit dem Hilfesystem gegen geschlechtsspezifische Gewalt vernetzt sein.
•
Sollte es, wie in Nordrhein-Westfalen109, über
einen Runden Tisch beim Innenministerium eine
organisierte Rückkoppelung der Erfahrungen
mit Beschwerdestellen geben, sollten Vertreter_
innen des Hilfesystems gegen geschlechtsspezifische Gewalt daran teilnehmen.
ten oder kommunale Runde Tische sollten die
Perspektive der Flüchtlings- und Migrationsberatung integrieren.
5.2.4 Finanzierung der Veränderung
der Praxis von Frauenberatung,
Flüchtlingsberatung, Einrichtungspersonal (Frauen- und Innenministerien)
Insgesamt gibt es einen Bedarf an Qualifizierung und
Sensibilisierung, Vernetzung der Praxis sowie Konzeptentwicklung. Hierfür sollten Frauen- und Innenministerien die Finanzierung für entsprechende Maßnahmen bereitstellen. Der Landtag Nordrhein-Westfalen
hat 2015 beispielsweise einen Fonds mit insgesamt
900.000 Euro für die Unterstützung traumatisierter
Flüchtlingsfrauen bewilligt und ein Förderprogramm
aufgelegt.110 Aus der Praxis werden folgende Maßnahmen als notwendig thematisiert und vereinzelt auch
schon umgesetzt:
•
Qualifizierung der Frauenberatung zur Situation geflüchteter Frauen mit einem Schwerpunkt auf aufenthalts- und asylrechtlichen
Fragen. So wurde zum Beispiel bereits vor Jahren „Ein Ratgeber für Frauenberatungsstellen,
Frauennotrufe und Frauenhäuser zur Beratung
von Frauen und Mädchen mit Behinderung“
entwickelt.111 Dieser Ansatz ließe sich auf den
Bereich Flüchtlingsfrauen übertragen.
•
Qualifizierung des Personals in Unterkünften zu
geschlechtsspezifischer Gewalt. Wichtige Elemente dabei wären die Erkennung von Gewalt,
rechtliche Befugnisse der Einrichtung, polizeiliche Maßnahmen, aufenthalts- und asylrechtliche Schutzmöglichkeiten sowie Angebote des
Hilfesystems.
•
Vernetzung zwischen der Unterstützungsstruktur Gewalt gegen Frauen und der Struktur der
Flüchtlings- und Migrationsberatung.
•
Entwicklung von Konzepten für den Zugang zu
und die Beratung von Frauen in Unterkünften.
Erweiterung der Arbeits- und Vernetzungsgremien
zu Flucht sowie zu geschlechtsspezifischer Gewalt
•
•
Die Gremien, Arbeitsgruppen und Treffen auf
Landes- und Bundesebene, die sich mit der
Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen befassen, sollten das Thema Schutz vor
geschlechtsspezifischer Gewalt in Unterkünften
aufnehmen.
Vernetzungsgremien zu häuslicher und / oder
sexualisierter Gewalt, wie die Bund-Länder AG
häusliche Gewalt, Landesarbeitsgemeinschaf-
107 Siehe zum Bespiel Wendel, Kay (2014), Fn. 42, S. 52 mit weiteren Nachweisen.
108 UN, Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (2014), Fn. 16.
109 http://www.frnrw.de/images/Themen/Unterbringung/2015/Planungsstand_bzgl._neuer_Aufnahmeeinrichtungen_und_aktuelle_Situation.
pdf (PDF, 7,8 MB, nicht barrierefrei) (Stand: 02. 07. 2015).
110 Den größten Anteil sollen dabei Projektförderungen einnehmen: Schulungen von Personen, die im professionellen oder ehrenamtlichen Kontext mit Flüchtlingsfrauen befasst sind sowie die niedrigschwellige Begleitung und Betreuung von traumatisierten Flüchtlingsfrauen. Ein weiterer Schwerpunkt sind Leistungen an Frauenhäuser, die Frauen ohne Leistungsanspruch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz aufnehmen.
111 Weibernetz (2012): Ein Ratgeber für Frauenberatungsstellen, Frauennotrufe und Frauenhäuser zur Beratung von Frauen und Mädchen
mit Behinderung.
27
Deutsches Institut für Menschenrechte
Zimmerstr. 26/27
10969 Berlin
Tel.:
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Fax:
+49 (0)30 25 93 59 – 59
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