Wahre Abrechnung Maßnahmenvollzug: Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Österreich Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Österreich vor kurzem einstimmig wegen überlanger Dauer der Überprüfung einer Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt (Kuttner v Austria 2015). Das Urteil beinhaltet zudem eine wahre Abrechnung mit dem System des Maßnahmenvollzugs, das als schwer menschenrechtswidrig verurteilt wird. Österreichische Gerichte hingegen gießen noch Öl ins Feuer. Das österreichische System des Maßnahmenvollzugs sieht vor, dass Straftäter in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher (§ 21 StGB), in Anstalten für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher (§ 22 StGB) sowie in Anstalten für gefährliche Rückfalltäter (§ 23 StGB) untergebracht werden können. Während die Einweisungen in Anstalten für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher und in Anstalten für gefährliche Rückfalltäter kaum vorkommen, weisen Österreichs Strafgerichte immer mehr Straftäter in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher ein. Wurden Anfang der 80er Jahre noch rund 300 in solchen Anstalten angehalten, sind es heute bereits fast 1.000. Potentiell lebenslänglich Rund die Hälfte der Insassen der Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher sind zurechnungsfähig und erhalten für ihr Delikt eine Strafe. Zusätzlich erfolgt die Einweisung, die bei einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher potentiell lebenslänglich ist (entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher: max. 2 Jahre; gefährliche Rückfalltäter: max. 10 Jahre). Die Notwendigkeit der weiteren Anhaltung muss laut Gesetz einmal pro Jahr vom Gericht geprüft werden. Laut österreichischem Obersten Gerichtshof genügt es, wenn das Gericht das Überprüfungsverfahren innerhalb der 1-Jahres-Frist einleitet. Die Entscheidung kann später ergehen. Diese Judikatur des OGH erwies sich nun als menschenrechtswidrig. Im vorliegenden Fall (Kuttner v Austria 2015) dauerte es 16 Monate von der letzten rechtskräftigen Entscheidung über die Fortsetzung der Anhaltung bis zur darauffolgenden solchen rechtskräftigen Entscheidung. Für den EGMR war das kein zügiges Überprüfungsverfahren mehr wie es die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Art. 5 Abs. 4) garantiert. Vernichtendes Urteil Einer der EGMR-Richter nahm die Verurteilung wegen der überlangen Verfahrensdauer zum Anlass, sich darüber hinaus grundsätzlich mit dem System des österreichischen Maßnahmenvollzugs auseinander zu setzen und kommt zu einem wahrhaft vernichtenden Urteil. Der portugiesische Richter Paulo Pinto de Albuquerque bezieht sich auf die langjährige massive Kritik des Systems durch den Rechnungshof, die Volksanwaltschaft und die Wissenschaft und weist darauf hin, dass die von Justizminister Brandstetter eingesetzte „Arbeitsgruppe Maßnahmenvollzug“ selbst „ernstzunehmende menschenrechtliche Probleme“ festgestellt hat sowie „im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ die Notwendigkeit von Maßnahmen gegen die zunehmende Anhaltedauer. Willkürliche Gutachterpraxis und mangelhafte gerichtliche Aufsicht Die österreichischen Gesetze in diesem Bereich seien „durch und durch vage“, was verstärkt werde durch „willkürliche psychiatrische (Gutachter)Praxis“ und durch einen „Mangel an ordentlicher gerichtlicher Aufsicht“ (par. 6). Das „Fehlen einer wissenschaftlichen Basis für das veraltete ´Abnormalitäts´-Konzept begünstige einen Teufelskreis durch den Delikte, die ungewöhnlich sind oder die ungewöhnliche Merkmale aufweisen, per se als Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung gewertet werden, die automatisch mit Gefährlichkeit gleichgesetzt wird“ (par. 6). Sowohl die Einweisungen als auch die Anhaltedauer steigen. In den letzten Jahren erfolgten auch immer mehr Einweisungen in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher auf Grund von bloßen Vergehen, kritisiert der EGMR-Richter (par. 7). Strafe statt Therapie Das dem Maßnahmenvollzug zu Grunde liegende Prinzip „Therapie statt Strafe“ werde in der Realität des Vollzugs faktisch in sein Gegenteil verkehrt: in „Strafe statt Therapie“ und erfülle damit die gleiche Rolle wie die deutsche Sicherungsverwahrung 1933 (par. 8). Der „Etikettenschwindel der Einstufung als ´abartige´ Personen“ diene dazu, die restriktiven gesetzlichen Anforderungen an die Unterbringung in einer Anstalt für gefährliche Rückfalltäter (§ 23 StGB) (die damit zu totem Recht gemacht wird) zu umgehen und potentiell lebenslänglich einzuweisen (par. 9). Unfaire Gerichtsverfahren Zudem seien auch noch die Überprüfungsverfahren der Gerichte vielfach unfair: die Anhörungen sehr kurz, Beweisanträge werden oft abgewiesen, Ladungen erfolgten zu kurzfristig, Zugang zu und Beratungen mit Verteidigern ungenügend, und alternative Sachverständigengutachten nicht zugelassen, obwohl gerade die kritische Überprüfung der oft sehr mangelhaften Gerichtsgutachten von „besonderer Wichtigkeit“ sei (par. 11, par. 5 FN 11). Die Garantie einer regelmäßigen gerichtlichen Überprüfung der Anhaltung sei „mehr virtuell als real“, so der EGMR-Richter. Dringender Handlungsbedarf Zusammenfassend qualifiziert die Zusatz-Opinion zum Urteil des EGMR das österreichische System der Einweisung in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher als eine „vage und unverhältnismäßige Form unfreiwilliger Einweisung zurechnungsfähiger Personen in psychiatrische Einrichtungen“ (par. 12). Das österreichische System sei „rechtswidrig, unverhältnismäßig und diskriminierend“ (par. 12). Zudem sei ein weitverbreitetes Versagen festzustellen, in den gerichtlichen Überprüfungsverfahren die von der Menschenrechtskonvention garantierten Standards einzuhalten (par. 12). Es sei höchste Zeit für die Verantwortlichen zu handeln und das System des Maßnahmenvollzugs im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen Österreichs zu reformieren (par. 12). Im Gegensatz zu diesem vernichtenden Befund aus dem Menschenrechtsgerichtshof gießen österreichische Gerichte noch Öl ins Feuer. Nach der Judikatur der Höchstgerichte und der herrschenden Meinung darf eine Einweisung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nur erfolgen (oder eine Anhaltung bei einer Überprüfung fortgesetzt werden), wenn (a) das Delikt unter dem Einfluß eine höhergradigen geistig seelischen Abartigkeit begangen wurde, (b) eine hohe Rückfallgefahr in Schwerkriminalität bestehe und (c) diese hohe Rückfallgefahr nicht durch ambulante Maßnahmen hintangehalten werden kann, wobei alle drei Voraussetzungen „mit voller Bestimmtheit“ vorliegen müssen und im Zweifel nicht einzuweisen (oder fortzusetzen) ist (siehe Ratz in Wiener Kommentar zum StGB 2. Auflage Vorbem zu §§ 21-25 Rz 1, 4; § 45 Rz 10; § 47 Rz 5ff, 7, 10, 11, 14). Kein Rechtszug an die Höchstgerichte In der Praxis werden diese vernünftigen Anforderungen von Untergerichten immer wieder ignoriert. Und die Geltendmachung von Menschenrechtsverletzungen beim Obersten Gerichtshof ist in Strafund Maßnahmenvollzugssachen ausgeschlossen (!); ganz anders als im gesamten übrigen Bereich des Strafrechts. Die allein vor dem Obersten Gerichtshof zur Anfechtung in solchen Sachen berechtigte Generalprokuratur (die dem Justizminister untersteht) verweigert regelmäßig die Herantragung an das Höchstgericht. So werden Personen trotz unstrittig nicht hoher (sondern geringer oder mittelgradiger) Rückfallgefahr weiter (potentiell lebenslänglich) angehalten (OLG-Wien 25.09.2014, 17 Bs 314/14x: 14-39% nach unzutreffenden kanadischen Daten, 4-14% nach öst. Daten laut der Begutachtungsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter des BMJ und SV-Befund ausdrücklich „niedrige Rückfallgefahr“; OLGWien 30.07.2014, 21 Bs 257/14v: 12-24% nach unzutreffenden kanadischen Daten, 8-15% nach öst. Daten laut der Begutachtungsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter des BMJ, sohin 85-92% Wahrscheinlichkeit des Nichtrückfalls; vom OLG ignoriert; OLG-Wien 04.11.2014, 21 Bs 355/14f: „moderates Rückfallrisiko“). Vorzug für „Daumen-mal-Pi“-Gutachten Statistisch-nomothetische Kriminalprognoseverfahren sind heute state-of-the-art und haben die früheren bloß intuitiven Prognosegutachten abgelöst, um die Prognose zu objektivieren und Subjektivität und Willkür hintanzuhalten. Mit diesen Kriminalprognoseverfahren arbeitet auch der Maßnahmenvollzug, allen voran die Begutachtungsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter des BMJ. Das OLG-Wien hingegen erklärt diese Verfahren für irrelevant und die veralteten subjektiv-intuitiven Verfahren als die allein maßgebenden (OLG-Wien 04.11.2014, 21 Bs 355/14f: in dieser Sache ergab die fachgerechte statistisch-nomothetische Kriminalprognose ein lediglich moderates, kein hohes, Risiko). 4 Gutachter- 4 unterschiedliche Diagnosen Personen werden fortgesetzt (potentiell lebenslänglich) angehalten, obwohl zwei Gerichtsgutachter zu unterschiedlichen Diagnosen kommen und die Fachdienste der Justizanstalt gar keine krankheitswertige Störung sehen (OLG-Wien 30.07.2014, 21 Bs 257/14v) bzw. trotz 4 unterschiedlichen Diagnosen durch 4 verschiedene Gutachter (OLG-Wien 04.11.2014, 21 Bs 355/14f). Volle Bestimmtheit? In beiden Fällen wurde der, zur Erzielung der geforderten „vollen Bestimmtheit“ gestellte, Antrag auf die in der Strafprozessordnung in solchen Fällen vorgesehene Einholung eines Obergutachtens durch eine Person mit Lehrbefugnis an einer Universität abgewiesen (!). Plädoyer nach (!) der Beratung Das Plädoyer des Verteidigers darf auch erst nach der Beratung des Senates erfolgen (wodurch es zur sinnlosen Formalität verkommt), denn Plädoyers von Verteidigern bedürften keiner ausführlichen Erörterung (OLG-Wien 25.09.2014, 17 Bs 314/14x). Die Angehaltenen hätten in den Anhörungen im Überprüfungsverfahren „keinesfalls“ die gleichen Rechte wie Beschuldigte in der Hauptverhandlung (OLG-Wien 25.09.2014, 17 Bs 314/14x: ganz entgegengesetzt der Entscheidung OLG-Wien 21.06.2007, 18 Bs 124/07b, an der damals der jetzige Senatsvorsitzende beteiligt war; von wegen „keinesfalls“). Gerichte als Brandbeschleuniger mangelhafter Gutachten Schließlich betätigen sich Vollzugsgerichte nach wie vor als Brandbeschleuniger mangelhafter Gerichtsgutachten. 10 Minuten Begutachtung seien für die Erstattung eines vollwertigen kriminalprognostischen Gutachtens samt tiefgehender Analyse der Persönlichkeit ausreichend (OLGWien 04.11.2014, 21 Bs 355/14f). Privatgutachten, die Mängel in Gerichtsgutachten nachweisen, seien in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen und daher unbeachtlich (OLG-Wien 09.01.2015, 21 Bs 410/14v). Zudem würden die Gerichte Gerichtsgutachter deshalb bestellen, weil sie selbst keine Kenntnisse in Psychologie und Psychiatrie hätten; aus diesem Grund könnten sie die Sachverständigengutachten ohnehin nicht überprüfen (!) (OLG-Wien 04.11.2014, 21 Bs 355/14f). Die (in der Strafprozessordnung vorgesehene) Bestellung eines Obergutachters (mit Lehrbefugnis an einer Universität) werde deshalb nicht gewährt, weil trotz der Widersprüche zwischen ihren beiden Gutachten die Gerichtssachverständigen „letztlich zum selben Ergebnis“ gekommen sind (OLG-Wien 04.11.2014, 21 Bs 355/14f). 4 (!) von 5 (80%!) zu Unrecht eingewiesen Wohlgemerkt: in diesen Verfahren geht es nicht um Bagatellen sondern um die potentiell lebenslange Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Wie die von Justizminister Brandstetter eingesetzte „Arbeitsgruppe Maßnahmenvollzug“ in ihrem im Jänner 2015 präsentierten Bericht festgestellt hat (Seiten 42f) werden („im besten Fall“) von 5 in die Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesenen Personen 4 (!) (also 80%!) zu Unrecht eingewiesen, weil sie auch ohne die Anhaltung nicht mehr rückfällig würden. Wobei dieser Befund „im besten Fall“ gilt, also unter der Maßgabe mängelfreier Gutachten, und in der Praxis noch weit schlimmer ausfällt … Dr. Helmut GRAUPNER, Rechtsanwalt Co-Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Sexualwissenschaften (ÖGS) Anwalt des Beschwerdeführers in Kuttner v Austria (2015) und der von den zitierten OLGEntscheidungen Betroffenen 10.09.2015
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