Ansprache Dieter Schwarz Vernissage Hans Arp/William Tucker I

Ansprache Dieter Schwarz
Vernissage Hans Arp/William Tucker I Kunstmuseum Winterthur I 29.01.2016
Meine Damen und Herren,
nachdem wir Anfang Januar eine Ausstellung mit Zeichnungen an der Schwelle zum 20.
Jahrhundert eröffnet haben, gehen wir in diesem Jubiläumsjahr mit grossen Schritten
weiter durch das 20. Jahrhundert. Dabei kommen wir heute mit Hans Arp zu einem der
Meister der klassischen Moderne, und mit William Tucker berühren wir bereits die
Gegenwart. Als wir uns vor über zwei Jahren mit der Planung des Jubiläumsjahrs zu
beschäftigen begannen, kamen wir bald auf den Gedanken, Hans Arp in den
Vordergrund zu stellen, denn unbestrittenermassen ist er ein Künstler, der die
Sammlung prägt und der zugleich einen der anregendsten und eigenwilligsten Beitrag
zur Moderne geleistet hat. Weshalb ist Arp in Winterthur derart präsent? Die meisten
von Ihnen wissen es: Dank dem Legat von Clara und Emil Friedrich-Jezler, den Sammlern,
die mit Arp befreundet waren und ihn sowohl als Künstler wie auch als Mentor für ihre
Sammlung schätzten. Clara und Emil Friedrich-Jezler verdanken wir fünf Skulpturen,
zwei Reliefs und vier Collagen von Arp. In den 1950er Jahren wurde der Cobra-Centaure
angekauft, ein weiteres Relief und eine Collage aus “papiers déchirés” kamen aus dem
Legat von Erna und Curt Burgauer in die Sammlung, und kürzlich schenkte Markus
Schöb noch eine Gouache dazu.
Zunächst dachten wir, die weitreichende Wirkung von Arps Werk in einer grossen
Ausstellung sichtbar zu machen, die von den Künstlern von Arps Epoche bis zu
Zeitgenossen wie Ellsworth Kelly geführt hätte – eine lange Liste. Dieses Projekt hätte
jedoch, da muss man ehrlich sein, unsere Kapazitäten etwas überschritten, und so blieb
es ein Gedanke, wenn auch ein schöner, der vielleicht eines Tages doch noch Realität
wird. So entschieden wir uns dann zu einer anderen Lösung, nämlich dazu, Arp zwei
sehr unterschiedliche Künstler an die Seite zu stellen – einerseits den englischen
Bildhauer William Tucker, andererseits den amerikanischen Künstler Richard Tuttle, die
sich beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, mit skulpturalen Fragen befassen.
Der Erweiterungsbau des Kunstmuseums ist ja wie ein Schachbrett gegliedert, auf dem
man nach Wunsch Ausstellungen plazieren kann. So haben wir von den neun grossen
Räumen die mittleren drei Arp gewidmet und dies mit Bedacht – ich komme noch darauf
zurück. Die Raumfolge zur Rechten besetzt nun Tucker, und diejenige zur Linken wird
Tuttle gewidmet. Absichtlich haben wir die Vernissage seiner Ausstellung einen Monat
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später angesetzt, um die beiden lebenden Künstler nicht an einem Vernissageabend
gegeneinander auszuspielen. Ihre Haltungen und ihre Œuvres liegen derart weit
auseinander, dass sie besser je für sich betrachtet und reflektiert werden.
Was wir heute Abend sehen, ist keine Retrospektive, sondern eine konzentrierte ArpAusstellung, die drei charakteristische Momente seiner Arbeit von Ende der 1920er bis
in die 1950er Jahre zeigt. Sie beginnt nicht wie üblich im Erweiterungsbau; eine erste
Skulptur empfängt Sie bereits im Foyer, eine weitere folgt bei Lehmbruck, und im
nächsten Sammlungssaal stehen vier grosse Skulpturen – das Museum ist durch und
durch verarpt. Am Eingang des Erweiterungsbaus gibt es ein Zeichnungskabinett mit
“dessins déchirés” und mit berührenden späten Gouachen, in denen Arp in der Trauer
um seine verstorbene Frau Sophie Taeuber ein Abschiednehmen “in kindlichen
Mitteilungen” versuchte.
Die Ausstellung beginnt danach mit einer Gruppe von Bildreliefs. Damit hatte Arp eine
neuartige, flächig geordnete Bildform an die Stelle der Malerei gesetzt, in der er ihre
dekorative Wirkung aufnahm und die fliessenden Linien der Zeichnung, die räumliche
Präsenz plastischer Elemente und das Prinzip des Zufalls zu einer Synthese brachte. In
den Konstellationen der auf Holzplatten montierten Elemente liess Arp den Zufall
mitwirken und ein Schreiner wurde mit der Ausführung der auf Papieren
aufgezeichneten Figuren und ihrer Befestigung auf dem Grund beauftragt. Arp
verzichtete also darauf, die Anfertigung der Reliefs zu personalisieren und ihnen den
Ausdruck seiner Hand mitzugeben. Solche Gedanken finden im zweiten Kapitel der
Ausstellung, das sich mit Arps neuartigen skulpturalen Lösungen befasst, ihre
Fortsetzung: Die 1930er Jahre waren das Jahrzehnt der Concrétions, der abstrakten,
sockellosen Skulpturen. Listig gab Arp den Anschein, als ob diese Werke nicht von
seiner Hand, sondern von anonymen Kräften erschaffen seien, Naturschöpfungen,
entstanden analog der Schöpfung des Kosmos, zufällig festgehaltene Momente aus
einem stetigen Fliessen und Werden. Da manche dieser Skulpturen keine feste
Ausrichtung im Raum besitzen, sondern auf verschiedene Weise aufgestellt oder
hingelegt werden können, warf Arp ein weiteres Element der traditionellen Skulptur
über Bord, die tektonische Fügung ihrer Elemente. Spielerisch geht er mit den Massen
um und entwickelt ihre Transformationen. In den Werken der Nachkriegszeit tritt erneut
Arps Anstreben gegen die feste Form hervor, ihre Auflösung in der flockenartigen
Bemalung der Bildfläche, dem Verteilen der zerrissenen Formen nach dem Zufallsprinzip
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und dem Gestalten von Skulpturen durch das Auftürmen, Aneinanderreihen –
Vorgehensweisen, mit denen er von der konventionellen Komposition Abstand nahm.
Von den drei Arp-Sälen aus ist man jeweils gezwungen, in einen seitlich gelegenen Saal
weiterzugehen, und so steht man unmittelbar vor William Tuckers Bronzen. Da ist
zunächst der monumentale Kopf Homage to Rodin (Bibi), mit dem sich Tucker auf den
Mann mit der eingeschlagenen Nase des grossen Bildhauers bezieht. In dem kaum
artikulierten Antlitz tritt eines von Tuckers zentralen Themen hervor – der Kopf als
Figur und als Ding, als plastisches, modelliertes Objekt, das eine Beziehung zum Boden
hat, auf dem es steht, und zum Raum, den es besetzt. “Ich habe Jahre gebraucht, um
Rodin schätzen zu lernen”, schrieb Tucker, “und seine Skulpturen wecken in mir immer
noch ein Gefühl des Unbehagens, das ich bei Degas nie empfand. Heute verstehe ich es
jedoch als Stärke, dieses Annehmen des Seltsamen, des Hässlichen und Missgestalteten
als Folge des Modellierens, das in seiner reinsten Form eine direkte Energieübertragung
aus dem menschlichen Körper in die Materie ist, ohne jede Vermittlung durch
Werkzeuge, ohne Zensur durch das Auge oder Gehirn.”
Das sind ungewöhnliche Worte eines Bildhauers, der in den ersten Jahren seines
Schaffens konstruktive Skulpturen aus abstrakten Elementen baute. Das Modellieren
war denn auch, was ihn anzog, die Figuren waren nicht gewollt, sie entstanden wie von
selbst. Tucker arbeitet in Gips, beginnend bei faustgrossen Klumpen, wie wir sie in den
kleinen Bronzen im Kabinett aufgereiht sehen. Aus dem Zufälligen wird etwas
Bestimmtes, doch die Formung lässt das noch Unbestimmte nie ganz verschwinden. Bei
manchen Arbeiten erhält man den Eindruck, die Figur sei allein durch ein leichtes
Knicken des Klumpens entstanden, der ihm ein genügendes Mass an Artikulation mitgibt,
um ihn für den Blick anziehend zu gestalten. Dieser Eingriff besitzt ein weites Spektrum
von Ausdrucksmöglichkeiten: Als primäre Scheidung teilt er die Masse und lässt sie auf
diese Weise Raum einfangen, er richtet sie in Horizontale und Vertikale aus,
unterscheidet Vorder- und Rückseite, Statik und Bewegung – er schafft eine primäre
Differenzierung. Wenn die Skulptur an figürlichem Ausdruck gewinnt, so behält sie ihre
abstrakte Struktur; erscheint sie als Fragment – Kopf, Fuss, Hand, Torso –, ist sie in
ihrer Präsenz zugleich eine Ganzheit.
Dies erleben wir gleich hier im ersten Saal. Als Gegenstück zu den Werken von Rosso
und Rodin sind zwei Skulpturen Tuckers ausgestellt – der Kopf des Ikarus und derjenige
von A Poet of Our Time. Es sind nicht Bildnisse, man schaut den beiden nicht in die
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Augen; die Köpfe sind vom Rumpf getrennt und liegen auf der Seite oder auf dem
Rücken wie die gotischen Gisants, als lesbare, vom Tod handelnde Figur und als
skulpturales Ding, das aus der Welt der Dinge herausragt. Es könnte wohl keine
plausiblere Einführung in Tuckers Werk geben als die hier geschaffene Situation. Seine
jüngste Arbeiten sind die Oedipus-Skulpturen in den Kabinetten. Es sind sieben
Variationen, die alle ausgehen von der antiken mythologischen Erzählung, in welcher der
tragische Held, Oedipus, durch den Versuch seines Vaters ihn auszusetzen einen
geschwollenen Fuss durchs Leben trägt. Wenn Tucker mit der Form des Fusses arbeitet,
dann vermeidet er alles Anekdotische, denn er erzählt nicht, er gibt diesem V-förmigen
Ding eine Position im Raum – liegend, stehend –, er arbeitet an seiner Oberfläche, mit
ihrer Taktilität und Farbigkeit, um ihm eine Bestimmung zu geben, siebenmal aufs Neue
ins Offene vorstossend, um die räumliche Geste nicht durch eine sekundäre Bearbeitung
zu relativieren. So wie die greifende Hand in den beiden Monumentalwerken zum
Sinnbild des Raums wird, den die Skulptur artikuliert, behandelt dieser Fuss die
Standfestigkeit im Raum, das Abstossen auf dem Grund. Und wenn man von Raum
spricht, so ist es, wie Tucker sich einmal ausdrückte, “nicht der intellektuelle Raum des
Physikers noch der optische Raum der Maler – sondern eine physische, zugängliche,
reale, spezifische Raumordnung”.
Für die beiden Ausstellungen habe ich viel zu danken – ich beginne mit Arp. Da sind die
Leihgeber – Museen und private Sammler –, die uns grosszügig geholfen haben. Allen
voran ist Rainer Hüben, der Konservator der Fondazione Marguerite Arp in Locarno, zu
nennen, der uns von Anfang an seine Unterstützung zusagte und dem wir eine
umfangreiche Gruppe von Werken verdanken. Viele Leihgaben sind äusserst fragil, und
ich verstand, wenn jemand bei unserer Anfrage erst zögerte. Und doch bekamen wir
kaum je ein Nein zur Antwort, denn man freute sich, ein Projekt mit Arp zu
unterstützen. Besonders berührt hat mich die Mail, die mich vor zehn Tagen erreichte
und in der ein Sammlerfreund aus der Ostschweiz mich auf ein frühes Werk aufmerksam
machte, das er besass, und anbot, es gleich vorbeizubringen. Vielen herzlichen Dank
diesem Ungenannten und überhaupt allen Leihgebern für Ihre Loyalität zu Künstler und
Museum. Ebenso danke ich William Tucker für seine Bereitschaft, sich an die Seite Arps
zu stellen. Tucker ist ein skeptischer Geist, und er fragte mich auch mehrmals, ob er
denn wirklich dahin passe, doch schliesslich sagte er zu. Dear Bill, thank you very much
for having agreed to show your work at the Kunstmuseum Winterthur and parallel to
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Arp. I am very happy and proud that after Bilbao Winterthur is the second museum on
the European continent to present your sculptures in a one-man show. Thank you also
for honoring us with your presence tonight, and thanks to Pamela too for joining us.
Grosse Verdienste um die Vermittlung von Tuckers Werk in Europa hat sich André
Buchmann erworben, und ohne die Vorarbeit in seiner Berliner Galerie hätten wir diese
Ausstellung nicht realisieren können. Danke vielmals für Deine Hilfe, André.
Um die Werke von Arp und Tucker in den jeweiligen Katalogen angemessen darzustellen,
haben wir uns entschlossen, die Ausstellungen photographieren zu lassen und die
Publikationen ein paar Wochen nach der Vernissage herauszubringen. Serge
Hasenböhler hat die nicht leichte Aufgabe übernommen, die Ausstellungen
aufzunehmen, und Franziska Schott und Marco Schibig haben die Texte bereits gesetzt,
so dass wir nicht mehr zu lange auf die Kataloge warten müssen. Der Arp-Katalog wird
sechs Interviews aus den Jahren 1954–1962 mit dem Künstler enthalten, übersetzt
von Suzanne Schmidt, der Tucker-Katalog seinerseits einen ungemein schön
formulierten Text des Künstlers und einen Aufsatz von einer Kennerin seines Werks,
Julia Kelly. Ich danke allen Beteiligten herzlich für ihre Beiträge.
Das Einrichten von Ausstellungen mit Skulpturen unterscheidet sich grundsätzlich von
der Arbeit mit Gemälden oder Zeichnungen. Kann da der Kurator die Werke
nebeneinanderstellen, ihre Abfolge betrachten und dann den Auftrag zum Hängen
geben, so ist dies mit Skulpturen schlichtweg unmöglich. Erstens müssen diese
überhaupt einmal physisch bewegt werden, und dies war im Falle Tuckers nicht so
einfach. Zweitens schafft man mit der Plazierung einer Skulptur eine räumliche Situation,
die durch das Dazukommen einer zweiten gänzlich verändert wird und so fort. Man ist
mitten drin, unter den Werken, und je nach Standort präsentiert sich der Raum
unterschiedlich – einmal harmonisch ausgewogen und beim Umwenden misslungen und
ungleichgewichtig. Das Aufstellen der Skulpturen ist eine wirkliche Teamarbeit, und es
braucht Leute mit Augen und Gefühl für den Raum. Ich bin glücklich, ein solches starkes
Team um mich zu haben, und die Einrichtung der beiden Ausstellungen hat dies wieder
einmal bewiesen. Herzlichen Dank also an Simona Ciuccio, die zusammen mit mir schon
die Auswahl der Arp-Werke vorbereitet hat, an Thomas Huth, Pascal Stalder und Ivan
Filaferro, die nicht nur Skulpturen ausgepackt und herummanövriert, Sockel gebaut und
gestrichen haben, sondern beide Ausstellungen begriffen und mitgestaltet haben. Dank
auch an Caroline Jaeggli für die Registrararbeit, an Petra Gibler für die konservatorische
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Betreuung der heiklen Arp-Werke und erstmals an Chantal Wartenweiler für die
Kommunikationsarbeit.
Und lassen Sie mich, da wir in einem Jubiläumsjahr sind, am Schluss einen Traum
anfügen, der über meine Zeit am Museum hinausweist: Kunstmuseum und Museum
Oskar Reinhart gehören seit Jahresbeginn zusammen. Wie wäre es, wenn der Weg vom
einen Haus zum anderen im Stadtgarten durch eine markante Skulptur bezeichnet
würde, und wer würde sich nach dem Erfolg der Deacon-Skulptur dafür anders eignen
als wieder ein Engländer und diesmal William Tucker? Ich wünsche Ihnen allen einen
schönen Abend und hoffe Sie am Freitag, dem 26. Februar, für Richard Tuttle
wiederzusehen.
Dieter Schwarz