Lebewohl, Anatolien

Dido Sotiriou
Lebewohl,
Anatolien
Roman
Dido Sotiriou
LEBEWOHL, ANATOLIEN
roman
Dido Sotiriou
LEBEWOHL, ANATOLIEN
roman
Übersetzung aus dem Griechischen von Inge van meerendonk
mit einer Erläuterung zum historischen Hintergrund von Dilek Güven
und einem nachwort von maria nikolopoulou
originaltitel: Ματωμένα Χώματα (1985 [1962]) Kedros-Verlag, athen
aus dem Griechischen übersetzt von Inge van meerendonk
Lektorat der 1985 im romiosini-Verlag, Köln, erschienenen Übersetzung:
Dennis Püllmann
Lektorat der Begleittexte: Claudia Schmölders, Ulf-Dieter Klemm
© 2016 Edition romiosini/CemoG, Freie Universität Berlin. alle rechte vorbehalten.
Vertrieb und Gesamtherstellung: Epubli (www.epubli.de)
Satz und Layout: Kostas Kosmas
Gesetzt aus minion Pro
Umschlaggestaltung: Freie Universität Berlin, Center für Digitale Systeme
ISBn 978-3-946142-11-9
Printed in Germany
online-Bibliothek der Edition romiosini:
www.edition-romiosini.de
Dido Sotiriou
wurde 1909 in aydın geboren und wuchs in Izmir auf. nach dem griechisch-türkischen Krieg und der Vertreibung der griechischen Bevölkerung aus Kleinasien 1922 lüchtete sie nach athen. Sie studierte
französische Literatur in athen und Paris, trat in die griechische KP
ein und engagierte sich in Frauenorganisationen. Während der deutschen Besatzung arbeitete sie für die Widerstandspresse, nach dem
Krieg schrieb sie für linksliberale Blätter sowie solche, die sich für die
rechte der Frauen einsetzten. Sie war Gründungsmitglied des Komitees für die Griechisch-Türkische Freundschat. Lebewohl, Anatolien
(originaltitel: Ματωμένα χώματα, Blutgetränkte Erde, 1962, unter
dem Titel Grüß mir die Erde, die uns beide geboren hat bei romiosini
Verlag 1985 erschienen) war ihr zweiter roman und eines der meistgelesenen Bücher der nachkriegszeit. Weitere romane sind u.a. Die
Toten warten (1959), Das Gebot (1976, 1992 auf Deutsch im romiosini Verlag erschienen) und Wir werden dem Erdboden gleichgemacht
(1982); ihr Werk wurde in Griechenland und der Türkei mehrfach
preisgekrönt. 2004 starb sie in athen.
I n Ha LT
Vorwort der autorin zur 1. ausgabe (1962) 9
Lebewohl, anatolien 9
Friedliches Leben 11
Amele Taburu
73
Es kamen die Griechen 185
Die Katastrophe 251
Historisch-politischer Hintergrund, von Dilek Güven 309
nachwort von maria nikolopoulou
315
Vo rWo rT z U r E r ST E n aU S G a B E ( 1 9 6 2 )
Vierzig Jahre sind nun vergangen seit damals, als das kleinasiatische
Griechentum entwurzelt und aus seiner angestammten Heimat vertrieben wurde, und diese Vertreibung stellt eines der bewegendsten
Kapitel unserer neueren Geschichte dar.
Diejenigen, die diesen Sturm miterlebt haben, treten nun einer
nach dem anderen ab, und ihre lebendigen zeugnisse gehen verloren.
Verloren geht auch der Schatz ihrer Traditionen und ihres Brauchtums, oder er wird eingemottet in historischen archiven. »Erwarte
keine Träne vom auge eines Toten«, sagt ein kleinasiatisches Sprichwort.
Ich habe mich vor den Erinnerungen der Überlebenden niederbeugt, voll Liebe und Schmerz das ohr an ihre Herzen gelegt, dort,
wo jene Erinnerungen bewahrt werden wie die Kränze und Palmzweige an der Ikonostase.
Hinter manolis axiotis, dem Haupterzähler des Buches, steht der
kleinasiatische Bauer, der die arbeitsbataillone (amele taburu) der
Jahre 1914-18 erlebte, die Uniform des griechischen Infanteristen
trug, die Katastrophe mitansah, in Gefangenschat geriet und das bittere Brot des Flüchtlings aß. Vierzig Jahre lang war er Hafenarbeiter
und Gewerkschater, Kämpfer in unserem nationalen Widerstand.
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9
Er kam und fand mich und gab mir ein Het mit seinen Erinnerungen. als rentner hatte er sich geduldig darangemacht, in einfachen
Worten aufzuschreiben, was seine augen in mehr als sechzig Jahren
gesehen hatten.
Von solchen augenzeugen nahm ich den Stof, den ich brauchte,
um diesen roman zu schreiben, mit dem einen ziel, die Erinnerung
an eine Welt wachzuhalten, die für immer verloren ist. Damit die alten nicht vergessen und die Jungen gerecht urteilen.
D.S.
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DIDo SoTIrIoU
F r I E D L IC H E S L E B E n
I.
Bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr lief ich barfuß und wusste
nichts von neuen Kleidern. meines Vaters einzige Sorge war es, viele
Äcker zu erwerben, Öl- und Feigenbäume zu planzen. meine mutter
kam vierzehn mal ins Kindbett, es blieben aber nur sieben Kinder am
Leben, und von ihnen verschlangen die Kriege vier.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir mein Vater, als ich noch
ein Kind war, jemals ein Geldstück gegeben hätte, um mir Süßigkeiten
zu kaufen. Eines Tages, als ich mit meinen zwei jüngeren Geschwistern
zum Empfang des abendmahls aubrechen wollte, gingen wir zu meinem Vater, um ihn um Vergebung zu bitten, und hoten insgeheim,
er würde seinen Geldbeutel ziehen und uns etwas geben. als er aber
merkte, dass wir auf Geld warteten, wurde er ärgerlich und wollte uns
schlagen. Da machten wir uns aus dem Staub und gingen zu unseren
Paten, um ihnen die Hand zu küssen, vielleicht würde bei ihnen etwas
abfallen. als sie jedem von uns einen Groschen gaben, waren wir außer uns vor Freude! Stamatis, der kleinste von uns, lief schnurstracks
zum Laden des Herrn hodoros, der bunten Kandis hatte, groß wie
Kieselsteine, und damit stillte der Kleine seinen Heißhunger. Jorgos
und ich hatten andere Wünsche. Wir sehnten uns danach, Spielzeug
zu besitzen. Jorgos kaute sich die erste Trompete, die er sah. Ich hielt
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mich zurück, suchte nach etwas Besserem. als ich zufällig eine graue
Blechmaus sah, die man aufziehen konnte, war es um mich geschehen.
Ich ergrif sie und zögerte keinen augenblick, all mein Geld für sie
auszugeben.
Wir gingen nach Hause, um mit unseren Schätzen anzugeben. mein
Bruder spielte stolz den Trompeter und nahm die Trompete nicht
vom mund. Ich legte mich der Länge nach hin, stellte die maus vorsichtig auf den Boden, zog den Gummi aus ihrem Bauch, und als ich
sah, dass sie hin und her lief, rief ich immer wieder: »Sie bewegt sich!
Sie ist lebendig.«
meine anderen Geschwister kamen hinzu und stritten sich, wer sie
als erster aufziehen dürte, damit die maus ihre runden drehen konnte. Etwas aufregenderes habe ich in meiner ganzen Kinderzeit nicht
erlebt!
als wir ganz im Spiel versunken waren, merkte ich zufällig, dass der
Blick meines Vaters streng wurde. »Was hat er jetzt wieder?«, dachte
ich. aber bevor ich mir darüber klar werden konnte, hörte ich seinen
wütenden Befehl:
»Ihr … los! Bringt mir den Plunder hierher!«
noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, packte ich meine
maus, drückte sie vorsichtig an meine Brust und ließ mich kopfüber
die Haustreppe hinunterrollen.
mein Bruder Jorgos war mir nicht gefolgt, sei es, dass er die Gefahr
nicht erkannte, sei es, dass er nicht wagte, sich zu widersetzen. Er ging
zum Vater, gab ihm die Trompete und blieb mit erschrockenen augen
vor ihm stehen. Der packte sie, quetschte sie in seiner eisenharten
Hand zusammen und warf sie ins Feuer.
»So, ihr nichtsnutze!«, sagte er. »Damit ihr lernt, euer Geld nicht für
solchen Plunder auszugeben. auf die Idee, ein Schreibhet oder einen
Bleistit zu kaufen, konntet ihr nicht kommen, was?«
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DIDo SoTIrIoU
Es war das erste mal, dass ich mit der Blindheit der macht konfrontiert wurde, und ich war außer mir. Wie konnte ich wissen, dass ich
mein ganzes Leben gegen sie anzukämpfen haben würde ...
meine mutter war eine zarte und geduldige Frau. Die Barschheit ihres mannes hatte sie gelehrt, den mund zu halten. Sie machte ihn nur
auf, um ein gutes Wort zu sagen oder zu lächeln. »Wenn man einem
leicht aubrausenden mann nicht widerspricht, dann hat man ihn
zum Sklaven«, plegte sie zu sagen. Inwiefern sie Vater zum Sklaven
hatte, das konnte nur sie wissen, die mit ihm eine Schar Kinder hatte.
Doch einmal, nur dies eine mal, stellte sie sich gegen ihn. Sie sah,
dass er mich mit solcher Wut schlug, dass mir das Blut aus mund und
nase schoss. Da trat sie zwischen uns, breitete ihre arme wie Flügel
aus und sagte erschüttert mit Tränen in den augen:
»Unglücklicher, du wirst dein Kind umbringen!«
anlass für die schlimme Tracht Prügel war ein Geldstück. mein Vater hatte es mir gegeben, um beim Krämer Salz zu holen.
Ich wusste, was mir blühte, wenn ich es verlor, und hielt es deshalb
kramphat in meiner feuchten Hand fest. Unterwegs traf ich auf einen zigeuner mit einem afen mit rotem Hintern, einen geschickten
Schauspieler, der einmal den Lehrer, einmal das gnädige Fräulein und
das nächste mal den Pillendreher spielte. Das war sehr, sehr komisch.
Viele Leute standen drum herum und hatten ihre Freude daran; als es
aber ans Bezahlen ging, machten sich die meisten aus dem Staub. Der
afe kam, blieb mit dem Tamburin vor mir stehen. Wir blickten uns
in die augen. Ich konnte dem Blick nicht standhalten, meine Faust
öfnete sich ganz von allein und tick, tack, tock kullerte mein Geldstück in das Tamburin.
als ich mit leeren Händen nach Hause kam, sagte ich nicht die
Wahrheit, sondern nur, ich hätte das Geld verloren. Das war’s. Ich sah,
dass mein Vater so wütend wurde, dass ich erschrak und mit einem
Sprung von oben auf die Straße sprang, auf die Gefahr hin, mir das
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Genick zu brechen. aber selbst diese Verzweilungstat half mir nichts.
Er jagte hinter mir her, und als mich ein nachbar, der Chaberoglu,
festhielt und ihm übergab, ing er an, mich zu schlagen, egal wohin.
Von diesem Tag an wurden mir immer, wenn ich meinen Vater wütend sah, die Knie weich, und ich machte in die Hosen. Und doch
kam die zeit, wo ich meinem Vater sein Verhalten verzieh. nur das
Eingreifen jenes Fremden, des Chaberoglu, verstand ich nie und habe
es ihm niemals verziehen.
alle bei uns zu Hause erkannten zwei autoritäten an: die von Gott
und die des Vaters, denn mit ihnen war unser Dasein verbunden. Unsere mutter sahen wir wie eine von Wolken verdeckte Sonne, die man
ahnt, deren Strahlen aber nicht ausreichen, einen zu erwärmen. nie
fand sie zeit, uns zu liebkosen, uns auf ihren Schoß zu nehmen und
uns ein märchen zu erzählen. Das ganze Jahr stand sie im morgengrauen auf, machte Feuer, setzte den Kessel auf, um all die münder
satt zu machen. Dazu hatte sie immer einen schreienden Säugling in
der Wiege. Sie hatte die Tiere zu versorgen, den Backtrog zu richten,
den Teig zu kneten, zu waschen, den Haushalt zu führen und zu nähen; das ganze Dorf sprach von ihrer Sauberkeit und von ihrer Tüchtigkeit als Hausfrau.
Es ist wahr, dass die Leute auch meinen Vater achteten, denn er
hielt sein Wort, war ehrlich bei seinen Geschäten, gastfreundlich
und arbeitsam. auch äußerlich war er ein mann von edler Gestalt,
groß, schlank, mit lockigem Haar und tieblauen augen und regelmäßigen starken zähnen, die er bis zu seinem Tod behielt. Wegen all
dem war ich stolz, wenn die nachbarinnen zu meiner mutter sagten:
»Dein Sohn manolis ist dem Barba Dimitros wie aus dem Gesicht
geschnitten.«
noch bei nacht, die Sterne standen noch am Himmel, erhob sich
mein Vater von seinem Lager. zuerst setzte er seinen Fez auf, zog seine
Tuchhosen an, das Hemd und die Weste und seine Schuhe. Strümpfe
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trug er keine, er sagte, sie beengten ihn und schadeten seiner Gesundheit. Er wusch sich ziemlich geräuschvoll das Gesicht, schlug sein
Kreuz vor den Ikonen. Er röstete etwas Brot in der Glut, tunkte es in
Wein, bis es vollgesogen war, aß auch ein paar oliven, spuckte ihre
Kerne aus, zusammen mit einigen Verwünschungen, die ihm Glück
bringen sollten, und ging aufrecht, leichten Schritts zu seinen Feldern.
Sechzehn bis achtzehn Stunden arbeitete er ohne Pause. allein hob
er Lasten von sechzig bis siebzig okka, aber niemals hörte man ihn
darüber murren. Hacke und Plug gehorchten seiner Hand. Die Tiere
fürchteten ihn und liebten ihn zugleich, denn um sie kümmerte er
sich mehr als um uns.
mit der abenddämmerung kam er nach Hause, ohne im Kafenion
Halt zu machen. Er grif die Flasche mit raki, nahm ein paar kräftige Schlucke und aß das Essen, das meine mutter für ihn aufgehoben hatte. Bei dieser Gelegenheit gab er dem einen oder anderen von
uns noch eine abreibung und iel dann erschöpt in den Schlaf und
schnarchte, dass die Wände wackelten.
man konnte sich nicht mit ihm unterhalten, auch nicht an den
Sonn- und Feiertagen. Keiner von uns wagte es, in seiner Gegenwart
zu sprechen, wir hatten gelernt, alles mit den augen mitzuteilen, unseren zorn, unseren Kummer, unsere schlauen Einfälle und unsere
Freude. nur wenn er zufällig gute Laune hatte, sonntags, wenn die
ganze Familie am Tisch saß, dann machte es ihm Freude, mich aufstehen zu lassen, um das »Pater imon«, das »Vaterunser«, zu sprechen,
denn er hielt mich für den Gebildetsten der Familie. Ich verstand damals kein Wort von diesem Gebet und sagte zu meiner mutter:
»Das ›Pat‹, liebe mutter, das verstehe ich. aber dieses ›erimon‹
bringt mich ganz durcheinander.«
Von meinen Geschwistern stand mir Jorgis am nächsten. Er verstand mich, bevor ich meinen mund aufmachte und war immer
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einer meinung mit mir. Er war achtzehn monate jünger als ich, ein
empindsamer, zarter Junge mit merkwürdig langen, schmalen Fingern, die die mädchen bewunderten, weil kein anderer im Dorf solche hatte. Die Hände von uns waren von der schweren arbeit fest
geworden, sie waren wie aus Holz.
Jorgis hatte immer Bleistit, Kohle oder Kreide bei sich, und wenn
die Erwachsenen ihn nicht beobachteten, malte er Tiere, menschen
und Landschaten. Eines Tages, als ihn mein Vater einem Fremden
mitgegeben hatte, um diesen gegen Bezahlung durch die ruinen von
Ephesus zu führen, bemalte unser Guter die marmorstatuen mit seinen Figuren. Damals sagte der Fremde zu ihm: »Esi kalo zografo«,
»Du bist ein guter zeichner.« Er ließ sich unsere adresse geben und
schickte mit der Post Farben und Pinsel. Von da an malte Jorgis mit
Farben; er malte Bischöfe, Heilige, marienbilder und die anführer
des aufstands von 1821. Vater nahm seine Werke und verkaute sie
bei den Volksfesten, manchmal heimlich, ein anderes mal ofen.
meine vier älteren Geschwister arbeiteten immer mehr als sie verkraten konnten; umsonst aß keiner sein Brot. Sophia als die Älteste
von uns trug die ganze Last der Familie. Sie war stundenlang über
den Backtrog gebeugt, der näharbeit, dem Kohlebecken oder bei der
Feldarbeit. Ich weiß nicht, ob sie jemals zeit fand, in den Spiegel zu
sehen, wie süß sie war – wie eine barmherzige Gottesmutter. Die es
ihr hätten sagen, sie in die arme hätten nehmen können, kamen nicht
dazu. zwei männer hatten sie leidenschatlich geliebt, waren mit ihr
verlobt gewesen. Beide kamen ums Leben, der eine im Krieg von
1912, der andere in dem von 1914.
Dies hatte unsere große Schwester sehr verbittert; zaghat und bescheiden, wie sie war, glaubte sie, dies sei ihr anteil an der Freude
gewesen, und danach blickte sie keinen mann mehr an. auch die jungen Burschen des Dorfes waren verschreckt und mieden ihre nähe.
Sie sagten: »Wer Sophia liebt, muss sterben. So will es ihr Schicksal.«
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Ihr schnürte es das Herz ab und sie vertrocknete und alterte vorzeitig. Sie verlangte nichts, gab aber, was sie konnte. Die Geschwister,
die nach Sophia kamen, Kostas, Panagos und michalis, traten in die
Fußstapfen des Vaters. Vom Schreiben und Lesen hielten sie nichts,
dagegen aber viel von den Äckern. Sie waren stark, hatten die Widerstandskrat eines ochsen und waren sehr leißig. Sie sorgten für
die weiße Weste des Vaters. als sie etwas größer wurden und sich auf
die Landarbeit stürzten, reichten uns zwei gute Ernten an Trauben,
Feigen und Tabak, um die Schulden für ein Grundstück zu bezahlen
und auch das zweite und dritte schuldenfrei zu machen. Der alte Dimitros axiotis setzte seinen Fez auf ein ohr, lachte und war zufrieden.
Er unterhielt sich ungezwungen, obwohl er sonst immer abweisend,
verschlossen und missmutig war. Damit ihr versteht, wie es ein alter Bauer fertiggebracht hat, sich auf redliche art ein ansehnliches
Vermögen zu schafen, muss ich euch erzählen, wie unser Land und
unser Leben in der Türkei war, bevor der Balkankrieg ausbrach und
das verdammte Jahr 1914 kam.
Wenn es so was wie ein Paradies gibt, dann war unser Dorf Kirkinca
ein Beispiel dafür. Wir lebten nahe bei Gott, hoch oben zwischen den
grünen bewachsenen Bergen, von wo wir das ganze fruchtbare Feld
von Ephesus überblickten, das unser war, kilometerweit bis runter
zum meer, Feigengärten, Ölbäume, Tabak, Baumwolle, Weizen, mais
und Sesam.
Großgrundbesitzer, die uns das mark aus den Knochen hätten saugen können, hatten wir in Kirkinca nicht. Damals war es schwierig,
uns als Pfand zu schlucken. Jeder Bauer war Herr seines Grund und
Bodens. Jeder hatte ein zweigeschossiges Haus, hatte auch draußen
ein anwesen mit Gemüsegarten, mit nussbäumen, mandel-, apfel-,
Birn- und Kirschbäumen. Und er vergaß auch nicht, zu seiner Freude einen Blumengarten anzulegen. Was kostete ihn das schon, da er
sprudelndes Wasser und springende Bäche hatte, die Sommer wie
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Winter plätscherten. Wenn Weizen und Gerste reif waren, dann glichen unsere Felder goldfarbenen meeren. aber etwas Prächtigeres als
unsere oliven fand man nirgendwo; sie trugen üppig, ihre Früchte
waren fest, glänzend, schwarz wie echte araber! Eine gute Einnahmequelle für unser Dorf war das Öl, aber der Dorfsäckel füllte sich
mit Goldpfunden auch durch die Feigen, die nicht nur in dem Städtchen aydın, sondern in ganz anatolien, in Europa und in amerika
berühmt waren. Dünnhäutige, seidene Feigen, voll zucker, mit goldenem Sat wie Honig, mit dem ganzen Feuer und der Süße anatoliens.
aber Gott hatte unser Land noch mit etwas anderem gesegnet,
nämlich mit den Seen, die mit ihrem aubrausen und ihren Überschwemmungen eins mit dem meer wurden. Jeden Tag hielt der zug
am Bahnhof von Hacisuluk, damit sich die reisenden und Händler
mit Fisch eindecken konnten, zappelnden Ketten köstlicher Fische,
jeder etwa zwei bis drei okka schwer. aufgereiht standen die Kohlenbecken mit den Pfannen; die nachfrage war so groß, dass die Straßenköche nicht nachkamen. Der Wasserreichtum brachte unseren Wiesen einen ewigen Frühling; das Vieh fand Futter im Überluss und
wenn es ruhig dalag, ähnelte es wohlgenährten Beys.
Im Sommer war Kirkinca leer. Es blieben nur einige wenige Wächter. alle anderen waren draußen beschätigt. Wenn es aber oktober
wurde mit dem großen Festtag des Heiligen Dimitrios, kehrten alle
ins Dorf zurück. Die Frauen von Kirkinca machten sich ans Putzen
und Streichen. Sie begannen bei ihrem Kupferzeug und hörten erst
bei den Straßen auf, so dass das Dorf so strahlend sauber wurde, dass
man sich nicht traute, irgendwo hinzutreten. Die Läden, die Kafenions, unsere beiden Kirchen, ja das einzige türkische Haus, das wir
hatten, das Karakol, die Gendarmeriestation, waren mit myrten und
Lorbeer geschmückt.
Die Gesichter von Groß und Klein strahlten vor Freude, besonders,
wenn die Ernte gut und günstig verkaut worden war.
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Die Familien nahmen ihre Ersparnisse und gingen hinunter nach
Smyrna, um anschafungen für den Winter zu machen, sie kauten
aussteuer und Schmuck. Die jungen männer ließen sich neue Hosen nähen und kauten sich seidene Tücher und Troddeln für ihre
Feze. Die jungen mädchen, die etwas anschafen wollten, ließen sich
grellbunte atlaskleider nähen mit zwei, drei reihen gezähnter Goldpfunde um den Hals, dem Geld entsprechend, das sie eingenommen
hatten.
auch das Getuschel über die neuen Verbindungen hörte auf, denn
am Tag des Heiligen Dimitrios fanden alle Hochzeiten statt. Die Pfarrer gönnten sich keine ruhepause. Fünfzehn bis zwanzig Paare standen Schlange, um zu heiraten. Wenn man zufällig eine Verlobte fragte: »Wann wollt ihr heiraten?«, dann gab es nur eine antwort: »Wenn
Gott will, am Tag des Heiligen Dimitrios.«
andere Feste und Feiern hatten wir am Tag des Heiligen Johannes
des heologen. Das war das Fest der männer. Stattliche junge Burschen mit Pistolen und Dolchen im Gürtel ritten ihre gut trainierten Hengste und maßen ihre Kräte auf freiem Feld. aber wenn das
Fest der Heiligen Dreifaltigkeit kam und die Knorpelkirsche reite,
dann sah man auf den Pferden nicht nur männer. auf der Kruppe
ritten auch die jungvermählten Frauen, lebhat, stolz, geschmückt mit
Goldstücken und in Festtagskleidern. Wer hätte sich damals mit den
reitern aus Kirkinca messen können!
Den ganzen Tag und die nacht erklangen draußen die Geigen,
Gitarren, die Flöten und die Trommeln. Unter den Bäumen wurde
getanzt, Karşılama, Chassapiko, Seïbekiko. Die von den mühen des
alltags befreiten Körper sprangen wie Flammen zum Himmel, der
Wind küsste sie, der mondschein liebkoste sie und dort fand sie die
aufgehende Sonne. Kaum hatten wir zeit, unsere arbeitskleider anzuziehen und die Hacke auf die Schulter zu nehmen.
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Und hatten wir jemals ein Fest vorübergehen lassen, ohne zu feiern?
Was für Weihnachten, neujahrstage, Lichtmess, Fastnacht und ostern! auf ihre art feierten die neuvermählten den rosenmontag. Sie
zogen ins Freie, machten Feuer, rösteten Kastanien, tranken raki und
erzählten sich ihre harmlosen Entführungsgeschichten: Wie sie sich
in ihre Frauen verliebt hatten, wie sie sich heimlich getrofen hatten,
bevor der oizielle Brautwerber kam und die Heirat abgesprochen
wurde, was für Tricks sie angewandt hatten, damit Eltern, Tanten und
nachbarn nichts merkten.
zu diesen zusammenkünten der Jungverheirateten waren keine
alleinstehenden, weder männer noch Frauen, zugelassen. Kam einer
ohne seine Frau, so sagte man ihm: »Geh und hol deine Kepitakke,
und wenn sie neu ist, dann bist du uns willkommen.« (Kepitakke
nannte man die schwere Filzmütze, die Hirten und Feldarbeiter bei
Kälte trugen.)
ob es die Wärme anatoliens war oder der fruchtbare Boden, für
uns wurde alles zu Liedern. mit Liedern wachten wir auf, Lieder begleiteten unsere Freude und Traurigkeit. Der junge mann, der heiraten wollte, baute zuerst sein Haus, das war eine unabdingbare Voraussetzung. niemals brachte die Frau das Haus mit in die Ehe. Wenn er
den Grundstein legte, plegten Freunde und nachbarn ihm zu Hilfe
zu kommen, sie brachten Steine, machten Erdarbeiten. Und all diese
arbeiten waren begleitet von den leidenschatlichsten Liebesliedern.
aber auch die Feldarbeit war undenkbar ohne Lieder. Von oktober
bis Februar war olivenernte, von Februar bis märz galt es, die Felder
zu bestellen. Von april bis Juli waren wir mit dem Tabak beschätigt,
danach mit den Trauben und Feigen. Felder, Berge und Schluchten
hallten wider von unseren Liedern. aber wie hätten auch unsere Tage
schwer sein sollen und die nächte unruhig, da wir keine Sorge ums
tägliche Brot hatten und die angst vor dem Tode fehlte? Bis 1914 hatte man in unserem ort von nicht einem mord gehört, abgesehen von
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dem einem mal, als zwei junge männer um das Herz eines schönen
mädchens kämpten, ofen und fair unter zeugen.
In der nähe unseres ortes hatten wir die berühmten altertümer
von Ephesus, worum wir uns, ofen gestanden, nicht viel kümmerten, obgleich unsere Häuser – von den Fensterumrandungen bis zur
Haupttreppe – mit Stücken der altertümer verziert waren. Uns war
das Wichtigste, dass unser Dorf in den griechischen Büchern als
Ephesus im Gebirge verzeichnet war und so unser Verwurzeltsein seit
uralten zeiten bewiesen wurde.
all dies erfuhr ich von einem Lehrer, der vor kurzem aus Samos gekommen war, dem Herrn Pythagoras Larios. Dieser Christenmensch
war verrückt nach den altertümern. Wenn man ihn suchte, fand man
ihn, wie er irgendwo dort herumstreite, im Tempel der artemis, im
heater, in der byzantinischen Festung, bei der Pforte der Vertreibung.
Er hatte sich unseren Esel für seine Streifzüge ausgesucht. aber
mein Vater hatte kein Vertrauen zu ihm und sagte zu mir:
»Bub, geh mit diesem Phantasten, damit ihm der Esel nicht verloren
geht und wir dann den Schaden haben. Er spricht wie ein Träumer.
Er redet mit sich selbst in magischen Stunden, abends, morgens und
bei mondschein! Und seine Sprache ist weder unser Griechisch noch
Türkisch.«
Eines Tages hörte ich ihn auch selbst, mit eigenen ohren, und fragte
ihn:
»Was für eine Sprache sprichst du, Herr Lehrer?«
»altgriechisch«, antwortete er mir und wollte sich vor Lachen ausschütten. »Euer arzt, Emanuel, weißt du, wie er heißt?«
»ach du liebes bisschen, ich soll nicht wissen, wie der arzt heißt?
Er heißt Homer.«
»Bravo! Homer habe ich nämlich deklamiert.«
Und der gute Lehrer erzählte. Er ing bei Homer an, der, wie er
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sagte, ein Landsmann von uns war, und kam von ihm zu einer Unmenge namen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, und er
nahm mich mit zu all den altertümern des antiken und byzantinischen Ephesus. zu jedem Stein, den man auhob, hatte er eine Geschichte. Ich konnte augen und ohren nicht weit genug aufsperren,
um all das, was ich zum ersten mal hörte, in mich aufzunehmen und
es auswendig zu lernen wie das »Vaterunser.«
Er erzählte mir, dass Ephesus, dessen Pracht in der antike die ganze
Welt geblendet hatte, von androklos, dem Sohn des Königs Kodros
von athen, gegründet worden sei. aber das sei nicht ganz sicher, sagte
er, denn möglicherweise kamen als Erste an die tausend Sklaven von
Samos hierher. Sie hatten sich gegen ihren Herren erhoben, waren
ihm entkommen und hatten sich in unserem Land angesiedelt. Diese
zweite Geschichte geiel mir besser, und wenn ich mit meinem Bruder
Jorgis in den ruinen nach Wildtauben jagte, kam es vor, dass ich diese
tausend jungen Leute lebendig vor mir zu sehen glaubte.
mit dem Lehrer gingen wir auch zu den byzantinischen ruinen,
und auch dort erzählte er mir Geschichten von Kaisern, die diesen
Boden betreten, vom apostel Paulus, der hier gelehrt hatte und noch
vieles andere mehr. Von allem, was er mir erzählte, machte die zahl
Sieben den größten Eindruck auf mich. Eines der sieben Weltwunder,
erzählte er mir, war der Tempel der Göttin artemis. aber auch die
byzantinische Kirche des Johannes heologos war einer der sieben
Sterne der apokalypse. Wie auch die Höhle, in die wir uns vor einem
überraschenden Unwetter gelüchtet hatten, die »Höhle der Siebenschläfer« genannt wird.
Dieses Herumstreifen mit dem Lehrer und meine wachsende
Wissbegierde geielen meinem Vater überhaupt nicht. Wozu sollte
es gut sein, wenn ich die Äcker im Stich ließ, um so ein Gutenberg
zu werden? (So hatten die Kinder den Herrn Pythagoras getaut, weil
er, wenn sie das Buch nicht in die Hand nahmen, ihnen mit seinem
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DIDo SoTIrIoU
riesengroßen eisernen Haustürschlüssel auf den Kopf klopte und zu
ihnen sagte: »Ein Unglück, dass bei uns noch kein Gutenberg geboren wurde!«)
als aber die Europäer und amerikaner mit ihrer westlichen Kleidung und ihrer fremden Sprache in das antike und in unser Ephesus
kamen und unsere altertümer um und um drehten und mit ihnen
auch griechische Gelehrte kamen, da platzten die Kirkicoten vor
Stolz, und allen voran mein Vater. Wie gesagt, unsere Gegend war
etwas Besonderes. Und wenn die Pfarrer uns sagten: »Das Ende der
zeiten ist nahe« und »der marmorne König wird wieder auferstehen«,
dann bestärkte uns das noch mehr in unserm Wunsch nach der Vereinigung mit Griechenland.
Türken hatten wir keine in unserem Dorf, auch wenn Türkisch unsere
Umgangssprache war. Wie eine ewige Lampe brannte im Herzen die
Liebe zu unserem Vaterland. Die Türken der nachbardörfer Kireçli,
Havuzlu und Balacık achteten und bewunderten uns; wir waren arbeitsam und nicht auf den Kopf gefallen. nie gaben wir ihnen anlass,
ihre meinung zu korrigieren. Immer hatten wir ein gutes Wort für sie
und knauserten nicht mit dem Trinkgeld. Kein Tag verging, an dem
nicht türkische Bauern auf unseren markt kamen. Sie brachten Holz,
Kohle, Gelügel, Sahne, Eier, Käse, den ganzen Überluss anatoliens.
all das verkauten sie auf dem Bazar und kauten dann in unseren
Läden, was sie selbst brauchten. am abend kehrten sie in ihre Dörfer
zurück. Einige blieben als Gäste in den Häusern von Freunden. Sie
aßen Brot mit uns und schliefen auf unseren Lagern. Das Gleiche taten auch unsere Leute, wenn sie in die türkischen Dörfer gingen, um
rinder, Pferde oder den milchertrag eines ganzen Jahres zu kaufen.
Wenn wir uns in den Bergen begegneten, dann grüßten wir uns mit
Verbeugungen und »Guten morgen« oder »Guten abend«:
»Sabahlar hayrolsun« – »akşamlar hayrolsun.«
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zum Fest des Heiligen Dimitrios füllte sich das Dorf mit Türken,
die von weither kamen, aus der Gegend von Konya. Sie wurden Kirliden genannt und waren hochgewachsene männer, geprägt von der
Sonnenglut und der schweren arbeit. Die Kirliden waren Pächter,
ohne eine Handbreit eigenen Bodens, abhängig und ausgenutzt von
den Beys, den Gutsherren. Das ganze Jahr sah ihr magen kein Öl, und
sie litten bitteren Hunger, ihr strapazierter Körper wusste nichts von
neuen Kleidern. Von Großvater zu Großvater kauten sie altes zeug,
verfärbte und tausendmal gelickte Pluderhosen und Überwürfe.
als sie immer wieder sehen mussten, dass ihr Leben zugrunde gerichtet wurde, beschlossen sie, sich bei fremden Leuten zu verdingen, um von den Gutsherren loszukommen. Sie gingen ringsum in
die Dörfer und verkauten ihre arbeitskrat. Sie arbeiteten so viel wie
heute die Traktoren. mit zwei axthieben und einem krätigen Fußtritt schlugen sie Ungetüme von Steineichen, zedern und Fichten
um. Wenn man ihnen dreißig, fünfzig morgen Land überließ, nur Dickicht, Gestrüpp und Steine, von denen man meinte, es sei unmöglich,
sie in Brachland zu verwandeln, dann gaben sie sie dir als fruchtbares
Feld zurück, bereit, die Saat aufzunehmen. Diese Felder bearbeiteten
wir ein bis zwei Jahre, meldeten sie dann bei der türkischen Behörde
an und wurden ohne große Formalitäten Grundbesitzer.
So auch mein Vater. Er legte Gärten an, wie man sie sich nur wünschen konnte. Er übergab sie den Kirliden zur Bearbeitung und nahm
selbst seine Flinte und seine beiden Dolche, etwas trockenes Gerstenbrot und ging für zwanzig bis dreißig Tage auf die Jagd. Er schoss
Wildschweine, verkaute sie in den Dörfern, nahm den Erlös, ging
nach Hause und bezahlte den Türken ihren Tagelohn.
an den christlichen Feiertagen hatten die Türken die gleiche Freude
wie wir. Da bot sich die Gelegenheit, so viel zu essen, wie ihre starken Körper brauchten. Es gab kein christliches Haus, das sie nicht mit
dem Besten bewirtete, das es hatte. zu neujahr war es Brauch, dass
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DIDo SoTIrIoU
die Kirliden am Brunnen standen. Wenn die Frauen dann kamen, um
Wasser zu holen, brachten sie ihnen Tabletts mit Süßigkeiten: Baklava, Halvas und neujahrskuchen. am rosenmontag, wenn die Fastenzeit aning und die Frauen der Kirkicoten ihre Kessel ausrieben, damit
auch nicht eine Spur vom Festtagsessen blieb, begann für die Kirliden
der schönste Tag ihres Lebens. Jede Familie gab ihnen ganze Bleche
mit Käsekuchen, Eierspeisen, nudelgerichten und Süßigkeiten. Und
die Kirliden, froh und glücklich, wünschten den »Herren« und »Damen« alles Gute:
»Das Gleiche, was ihr uns gegeben habt, das gebe Gott auch euch!
Çok şükürler abla allah sizden razıolsun ablacığım.«
Wenn der april mit dem Fest des Heiligen Georg kam, packten sie
ihre Siebensachen und kehrten in ihre Dörfer zurück. Sie gingen von
Haus zu Haus und nahmen bewegt abschied von uns Griechen.
»Gönne mir von Herzen, Hirt, das Brot, das ich bei dir aß.«
Und die Unsrigen antworteten:
»möge es dir Krat geben. Lebt wohl. Lasst es euch gut gehen – Hetal
olsun.«
Es gab einige unter ihnen, die insgeheim die silberne Ikone des
Heiligen Georg verehrten und Weihgaben daließen, damit er sie vor
Übel und Krankheiten bewahre und sie auf der langen reise gesund
blieben.
LEBEWoHL, anaToLIEn
27
II.
Kaum sah mein Vater, dass ich die vier Grundrechenarten beherrschte und Worte zu Papier bringen konnte, rief er mich zu sich und sagte:
»mach deine Sachen fertig, manolis, ich habe beschlossen, dich in
diesen Tagen nach Smyrna zu schicken. Ich möchte dich mit dem
Geschät vertraut machen, auf dass du den Handel lernst, und zwar
gründlich, dass du bei Kauleuten, Händlern und in der Faktorei arbeitest.«
zum ersten mal sprach mein Vater zu mir, als sei ich ein mann.
Es schien mir ein besonderer Tag zu sein, die Tür zu seinem Herzen
schien ofen. So nahm ich all meinen mut zusammen und sagte zu
ihm: »Ich werde tun, was du bestimmst, Vater. aber ich möchte, dass
du weißt, dass mein Herz mehr am Lernen hängt, an den Büchern, die
ich so leicht in mich auf nehme, wie man Wasser trinkt, wenn man
Durst hat.«
meine Worte mussten ihm irgendwie Eindruck gemacht haben. Er
gab mir keine antwort, es kam nur ein tiefes, unartikuliertes »Hm!«,
das mir nicht half, zu verstehen, was er zu tun gedachte. am nächsten Tag, als wir von unserem Grundstück in die Berge zurückgingen,
blieb er auf dem Bergsattel stehen, blickte auf das Feld zurück und
sagte zu mir:
LEBEWoHL, anaToLIEn
29
»Was willst du mit den Büchern, wo wir so viel Überluss an Land
haben, das bearbeitet werden muss? Willst du Pope werden oder
Lehrer oder was? Ich brauche doch jemanden, der sein Geschät versteht, um in den Städten Handel zu treiben, wo die Halsabschneider,
die Schmarotzer und Kauleute uns um den Gewinn bringen. Wenn
ich dich ausgewählt habe, um dich nach Smyrna zu schicken, so tat
ich das, weil du Köpfchen hast und klar denken kannst. Es ist mein
Wunsch ...«
Ganz früh am Sonntag, als mein Vater nach aydın zur arbeit gegangen war, ergab sich für mich die Gelegenheit, hinauf in die Berge
zu steigen, um Şevket zu trefen und ihm zu sagen, dass ich fortgehen würde. mit diesem Hirtenjungen verband mich eine sehr enge
Freundschat. In den osterferien, wenn auch ich mit den Schafen
auf den Berg zog, verleitete ich ihn zu den verrücktesten Spielen.
Wir kletterten auf hohe, unbegehbare Gipfel, suchten nach adlerhorsten und verborgenen Höhlen und schwammen in den Bächen.
Wenn uns ein Unwetter erwischte und wir sahen, dass die Bäume
vom regen gepeitscht wurden, liefen wir ins Gestrüpp und rannten
mit nacktem oberkörper herum, trunken von einer seltsamen Freude, die unsere Gefühle aufpeitschte. Wenn uns das Wasser bis auf
die Knochen durchweicht hatte, verkrochen wir uns in den Höhlen,
wo wir das Vieh untergebracht hatten. Wir machten Feuer, aßen etwas. Damals hielt ich die Phantasie von Şevket in meinen Händen;
ich konnte sie formen, wie man mit Hefeteig Lazarakia – ein Gebäck
zum Tage des Lazarus, am Samstag vor dem Palmsonntag – formt.
zu ostern nahm ich Şevket mit hinunter nach Kirkinca. Es machte
ihm Freude, in der nacht die Kerzen zu sehen, die wie Sterne leuchteten, das »Christos anesti« und den melodischen auferstehungsruf
der Glocke zu hören, mit uns Schwärmer anzuzünden und loszulassen und an unserem Tisch die mit Eier- und zitronensoße angemachte dutende ostersuppe meiner mutter zu essen.
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DIDo SoTIrIoU
Das Vertrauen, das Şevket zu mir hatte, wurde durch ein Ereignis
noch mehr bestärkt. Sein Dorf war rückständig wie alle Türkendörfer.
man kannte weder arzt noch Lehrer. Wurde jemand krank, so schickte man einen reiter auf den drei Stunden langen Weg, um den Hodscha in einem anderen Dorf aufzusuchen, der als Weiser galt.
»Hodscha«, sagte dann der Bote zu ihm, »das und das hat unser
Kranker. Was können wir tun, damit er wieder gesund wird?«
Der Hodscha veriel in tiefes nachdenken. Er überdachte die Worte
des Korans. Und wenn er fand, was zu dem Fall passte, so setzte er sich
hin und schrieb es auf ein Blatt. Der Bote bezahlte ihn für seine mühe,
nahm das zusammengefaltete Papier und kehrte ins Dorf zurück. Den
Kranken ließ man das Papier schlucken, damit er geheilt würde.
Eines Tages wurde der Vater von Şevket schwer krank, und Şevket
kam zu mir und sagte:
»Wir verlieren unseren Vater. Das Papier des Hodscha hat ihm nicht
geholfen und es steht von Stunde zu Stunde schlechter um ihn.«
»Willst du ihn nicht in unser Dorf bringen?«, erwiderte ich. »Wir
haben einen guten arzt, der gibt den Kranken kein Papier, sondern
arznei, Sirup, Pillen, Salbe, die ein erfahrener Drogist zusammengestellt hat.«
Şevket kam das etwas seltsam vor, er hatte auch ein bisschen angst,
sich zu versündigen, wenn er zu einem arzt ging anstatt zum Hodscha. Doch ganz früh am anderen morgen brachte er seinen halb
bewusstlosen Vater auf einer Trage. meine Leute nahmen ihn auf, bereiteten ihm ein Lager und riefen den arzt. Durch die Behandlung
und die arznei kam er wieder zu sich, und gegen acht Uhr abends
stieg er auf seinen Esel und kehrte wie Lazarus in sein Dorf zurück.
als die Türken ihn lebendig und wohlauf wiedersahen, konnten sie es
kaum fassen.
»Was für ein Volk sind unsere Griechen? Wieso hat allah ihren
Kopf so gescheit gemacht?«
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Şevket kam nach Kirkinca zurück. Er brachte uns Honig und Käse
als Dank für das, was wir für seinen Vater getan hatten. Dann nahm er
mich beiseite, zog einen Viergroschenschein heraus, den er tausendmal zusammengefaltet hatte, steckte ihn mir zögernd in meine Hand
und sagte leise:
»Bana bir mum yak. – zünde für mich eine Kerze an. – Vielleicht
schließen auch unsere Götter Freundschat, so wie wir Freunde geworden sind …«
als ich jetzt den Berg hinaufstieg, um mich von Şevket zu verabschieden, dachte ich an die schönen Stunden, die wir zusammen
verbracht hatten, und mein Herz wurde schwer. als ich mich seinem Versteck näherte, pif ich auf zwei Fingern. Şevkets ohr war
durch die Einsamkeit geschult und nahm den Klang sofort auf. Er
pif die antwort zurück, sprang von Fels zu Fels wie eine Gämse
und schwenkte vergnügt seinen Stock. Ich ließ ihm kaum zeit, Lut
zu holen und mich zu begrüßen und platzte mit meiner neuigkeit
heraus:
»Denk dir, Şevket, ich geh fort! mein Vater schickt mich nach Smyrna.«
Der Türkenjunge wurde blass, sein Stock iel ihm aus der Hand, er
vergaß zu atmen. Ich wollte ihm das Ganze erklären, um ihn zu trösten.
»mein Vater sagt, ich hätte Köpfchen und könne denken und ich
sollte ins Geschät gehen, um den Ein- und Verkauf zu erlernen, ich
solle Händler werden.«
»Händler, was soll das heißen?«, fragte er mich bedrückt.
»Händler, das bedeutet, du stiehlst selbst, anstatt dich von anderen
bestehlen zu lassen …«, antwortete ich ernsthat.
»Und wieso hat dein Vater für dich so eine nichtswürdige arbeit
ausgesucht, wo er doch ein redlicher mann ist!«, sagte Şevket geringschätzig.
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DIDo SoTIrIoU
»Du hast mich nicht verstanden, Şevket. Er will mich nicht zu einem
Dieb machen, wie sie in den Gefängnissen landen. Wie soll ich es dir
bloß erklären ... Du hast doch die gut angezogenen Lackafen gesehen,
die aus den Städten zu uns kommen, in ihrer westlichen Kleidung,
und unsere ganze Ernte aukaufen? Das sind die Händler. Sie nehmen
unsere rosinen, Feigen, oliven, Tabak für billiges Geld und verkaufen
all das teuer in den Städten. Einfacher reichtum, verstehst du?«
»Vay, Vay«, stöhnte der Türkenjunge ganz verzweifelt .
an dieses Kindergespräch dachte ich noch ot, als ich zum arbeiten in Smyrna war.
meine mutter wollte mich wenigstens noch ein Jahr im Dorf behalten, ich sollte nicht schon so jung in die Fremde gehen. Es geschah
etwas Unvorhergesehenes, und das Schicksal tat ihr, wie man sagt,
den Gefallen. man forderte mich zur arbeit in Belevi an, einem nachbardorf. Dort befand sich das große Landgut von molla Efendi, das
seine Söhne Hussein und ali geerbt hatten. Die beiden Beys waren
gutherzige Lebemänner, die Vergnügungen und Gemütlichkeit den
Sorgen der arbeit und der Politik vorzogen.
Sie hatten anestis als aufseher eingesetzt, einen durchtriebenen
Griechen, und hatten ihm gesagt: »Stell Christenhunde, Teufel ein,
damit sie aus Eins Hundert machen ...« Etwas anderes hatte anestis auch nicht im Sinn. Er übernahm das Kommando in Belevi, holte
sich gute Gespannführer aus Kirkinca. Sie hatten zu säen, zu ernten,
sie hatten sich mit dem Ölschlagen, den Schafställen, dem Holzfällen
und der Käserei zu befassen.
Die Beys kamen ab und zu mit musikern und farbenprächtigen
Frauen, sie öfneten das väterliche Kule und vergnügten sich fünf bis
zehn Tage. Dann, wenn die Stunde der abreise gekommen war und
sie zufällig nüchtern waren, unterschrieben sie die rechnungen von
anestis, ohne sie zu prüfen. Eines Tages sagte ali Bey zu ihm:
LEBEWoHL, anaToLIEn
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»Freund anestis, sitzt du allein und schreibst all diese zahlen?«
»Ganz allein, Chef.«
»Und warum, du zevzek, nimmst du keinen Schreiber, damit er dir
hilt? Damit dir keine zahl im Endbetrag fehlt.«
Das traf anestis wie ein Faustschlag und beunruhigte ihn; denn sein
nest war nicht allzu sauber. Er ging nach Kirkinca, suchte meinen
Vater auf und sagte:
»Ich habe gehört, Dimitros, dass dein Sohn manolis gut mit zahlen
umgehen kann. Kannst du ihn mir nicht nach Belevi schicken, damit
er mir etwas zur Hand geht? Es wird sich auch für dich lohnen. Der
Bey will dieses Jahr auf dem Landgut bleiben, und ich möchte, dass
meine Bücher in ordnung sind.« mein Vater brauchte dringend Geld,
denn die Händler hatten ihn bei den Sultaninen ziemlich übers ohr
gehauen. Deshalb sagte er zu. So befand ich mich anstatt in Smyrna
im grünen Belevi mit dem lockeren, roten Boden und dem dichten
Wald.
am anfang war anestis sehr zufrieden mit mir. als er die Schwierigkeiten aber überstanden hatte, da änderte er seine melodie. Er hatte gemerkt, dass ich mehr sah, als ihm lieb war, und fürchtete, dass ich
seinen schmutzigen Geschäten auf die Spur kommen und ihm schaden könnte. Sein ganzes Gebaren ekelte mich an. Er stahl, was den
arbeitern gehörte, nahm uns das Essen weg, verhängte empindliche
Geldstrafen für nichts und wieder nichts – weil du pinkeln musstest
und dich deshalb verspätetest, weil du zu viel oder zu wenig Wasser
in die rinnen geleitet hattest. Er war verrückt danach, reich zu werden und den reichtum seiner Herren zu vermehren, damit sie ihn in
ihren Diensten behielten und ihm immer noch mehr macht gaben.
Eines abends konnte der alte Stephanis, der Gespannführer, nicht
mehr an sich halten und machte ihm Vorwürfe: »nimm dich in acht,
anestis! mit wie viel Unrecht belädst du deine Seele. Gott wird es dir
heimzahlen.« am nächsten Tag, es war ein Samstag, entließ er ihn
34
DIDo SoTIrIoU
nach der auszahlung. Dem türkischen Gutsherrn sagte er: »Der alte
trinkt zu viel, seine Hände zittern. Das Brot, das er isst, ist weggeworfen.«
Das Schlimmste, was anestis sich ausgedacht hatte, war die Behandlung eines armen Jungen in der ersten Woche, in der ich auf
dem Gut war. Der Schwerenöter hatte zwei, drei Kinder aus dem araberdorf Kuyucu aufgelesen, die er hart arbeiten ließ. Die einzige Bezahlung war der Teller Essen, den er ihnen gab. In Kuyucu wohnten
araber, die früher Sklaven gewesen waren. Bei ihrer Freilassung hatte
man ihnen ein Stückchen Boden gegeben, das gerade groß genug war,
dass sie ihre Hütte darauf stellen konnten. Sie hatten nicht einmal ein
paar meter, um eine zwiebel oder einen Kopf Salat darauf zu ziehen.
Ihnen gehörte nur ihr Lachen, das ihre starken weißen zähne zum
Vorschein brachte.
Die etwa hundert Hütten der araber waren aus gelochtenen Weidenruten und mit Kuhmist abgedichtet. Tag und nacht arbeiteten die
Leute hart für ihre früheren Herren. Ihre Befreiung aus der Sklaverei
mussten sie als Fluch ansehen, denn für sie brachte das nichts; ihre
mühe war die gleiche geblieben, nur mussten sie jetzt auch noch um
ihren Tagelohn bangen, sie zitterten, dass er ihnen bleibt und dass
ihre Kinder nicht hungern müssten.
Ein araberkind aus Kuyucu, schüchtern und mit santen augen, erlag der Versuchung und stahl vor anestis’ augen: Während der Junge
auf dem maisfeld arbeitete, warf er ab und zu einen maiskolben über
den zaun, und am abend sammelte er sie sorgfältig wieder auf und
brachte sie seiner mutter, die bettlägerig war, und seinen drei kleineren Geschwistern, die vom Hunger geplagt einmal da und ein andermal dort bettelten. anestis gelang es bald, das Kind zu erwischen. Um
ein Exempel zu statuieren, hängte er es mit den Füßen an der Platane
auf und schlug es. Da der Junge zart und schwächlich war, kehrte er
abends in seine Hütte zurück, iel auf sein Lager und wachte nicht
LEBEWoHL, anaToLIEn
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wieder auf. »Yanlış oldu, das war ein Fehler«, sagten die türkischen
Gutsherren und verziehen anestis.
Dennoch wendete sich unser Leben in Belevi plötzlich zum Besseren.
Der Chef, ali Bey, verliebte sich leidenschatlich in eine kleine arbeiterin, artemitsa, und versuchte sich von seiner besten Seite zu zeigen.
Sogar um unser Essen begann er sich zu kümmern. Eines Tages legte
er sich mit anestis an, um bei dem mädchen Eindruck zu schinden:
»Du mistkerl«, sagte er, »du hast mit mir vereinbart, dass du die
Leute ordentlich ernährst, wieso willst du sie dann bei Grütze und
Lupinen verhungern lassen? mach sie mit Fleisch satt, damit der Kirkicote sich nicht beschweren und sagen kann, dass die mollalar unersättlich sind und ihre arbeiter ausbeuten.«
Das sagte er, während seine augen das mädchen liebkosten.
artemitsas Schönheit konnte sogar einen Hengst zum Stehen bringen! Glänzende große augen, lange Haare bis zu den Fußknöcheln
und ein gertenschlanker Körper. Sie hatte von anfang an die Schwäche bemerkt, die der Bey für sie hatte, und wusste nicht, wie sie sich
verhalten sollte. Sie konnte sich aber nicht entschließen, ihre arbeit
aufzugeben. Sie wusste, dass ihr Vater ihre Hilfe brauchte, denn er
hatte elf mäuler zu stopfen und nur wenig Land zum Beackern. allmählich gewann der Bey das mädchen für sich, aber ganz behutsam.
Er ließ sie seinen Kafee kochen und seine Kleider in ordnung halten.
niemals trat er ihr zu nahe. ali Bey, in dessen armen viele Frauen
gelegen hatten – von echten Hanımlar bis zu einfachen Dirnen, die
das Geld unbedingt brauchten und die in die Dörfer ausschwärmten,
sobald die Gutsbesitzer ihre Ernte verkaut und Geld in den Taschen
hatten –, bei diesem mädchen, der artemitsa, verhielt er sich wie ein
unerfahrener Schuljunge.
»Heimlicher Liebeskummer verbrennt meinen Herrn«, sagte sein
»Keferi«, der Leibdiener, »die ganze nacht spielt er auf der Ut und
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DIDo SoTIrIoU
schließt kein auge. Keine Frau betritt mehr sein Haus, und er grunzt
wie ein Eber …«
Die Gespannführer hörten und sahen das alles, aber sie verloren
kein Wort darüber und fällten auch kein Urteil, denn sie fürchteten,
ihr tägliches Brot zu verlieren. nur die Frauen steckten heimlich ihre
Köpfe zusammen und tuschelten: »Eines Tages wird das Übel zum
ausbruch kommen, denn es gibt keine schlimmere Sünde als wenn
eine Christin zur Türkin wird …«
Eines mittags, artemitsa war nicht dabei, als die Landarbeiter sich
unter der Platane ausruhten, begann Katinio hinterhältig das Lied
von jener Elli zu singen, der »der Tod ziemt durch ein zweischneidiges messer, weil sie ihren mann verließ und einen Kommissar nahm.«
Die anderen kicherten in sich hinein und schlossen die augen. aber
die alte Parliaräna, die »Schielende«, brannte vor Begierde, den jungen
mädchen eine Lektion zu erteilen. Sie begann die Leidensgeschichte
des hodoros Delimanolis zu erzählen, »der die Gebote Gottes vergaß, sich in eine Türkin verliebte, eine Witwe mit zwei kleinen Buben,
und der hart bestrat wurde.«
»ach!«, sagte die alte voller Git und geheucheltem mitgefühl. »nur
wer den Delimanolis früher gekannt hat und sieht, wie weit es mit
ihm gekommen ist, kann ermessen, wie teuer ihn seine Unbesonnenheit zu stehen kam. als er noch Junggeselle war, konnten die Frauen
es nicht lassen, ihm nachzusehen, wenn er auf seinem Hengst vorbeiritt. Wie kam er bloß zu so einer verbotenen Şekat? Gab es denn
keine Christinnen? Verlucht sei die Stunde, wo er in dem türkischen
Bergdorf in der nähe von hira eine mühle aufmachte. Dort lernte
er seine Chein, die Witwe des richters, kennen und verlor seinen
Verstand. auch sie war von Sinnen, und eine unbändige Leidenschat
erfasste sie, obwohl sie zwei Kinder hatte. Wann immer man sie vermisste, wo konnte man sie inden? In der mühle des Delimanolis, Tag
und nacht. Wenn die mühlsteine zu mahlen auhörten, dann mahlten
LEBEWoHL, anaToLIEn
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sie selbst, die Fleißigen! … aber die Liebe bleibt nicht verborgen, genau wie reichtum und Husten, und das Verhältnis wurde bekannt.
»Komm, wir gehen weg«, sagte sie eines Tages zu ihm, »bevor wir
unsere Liebe mit dem Leben bezahlen müssen.« Gesagt, getan: Delimanolis entführte sie, brachte sie nach Piräus, ließ sie – mein Gott,
was für eine Sünde – auf den christlichen namen angeliki taufen
und heiratete sie! Später kam er nach Kirkinca zurück, baute sich
eine eigene mühle. Er hatte vier Kinder mit ihr, zwei Buben und zwei
mädchen. aber in die nähe von hira traute er sich nicht.
Bis dahin ging alles gut. aber Gott vergisst nicht. Er schreibt auf
und wartet. als der älteste Sohn von Delimanolis erwachsen war, beschloss er, fasziniert von dem, was er über das Dorf seiner mutter
gehört hatte, dorthin zu gehen und dort zu leben. Er mietete die verrufene mühle und stürzte sich in die arbeit. Es war aber kein monat
vergangen, da fand man den jungen mann leblos auf seinem Lager,
mit einem messer tief in seinem Herzen, genau im Herzen.«
Die alte Parliaräna aus Smyrna schielte mit ihrem einen gesunden
auge nach den mädchen, blickte eine nach der anderen an, ob ihre
Geschichte ihnen auch Eindruck gemacht hatte. »Seid ihr erschrocken, ihr hitzigen, leichtsinnigen Dinger?«, fragte sie. »Solch schmutzige angelegenheiten sind nur durch Blut zu bereinigen, nur durch
Blut, versteht ihr! Das werde ich auch der artemitsa sagen, damit sie
daran denkt …«
Parliaränas Drohungen ließen mich um das Geschick von artemitsa bangen. aber ich hatte nicht den mut, mit ihr darüber zu reden.
Weder die Parliaräna noch jemand anderes sprach mit artemitsa, alle
proitierten von der Liebe, die den Bey beruhigte, ihn nachsichtig und
edelmütig machte. aber sie hörten nicht auf, das mädchen schlechtzumachen und sein Verderben vorauszusagen.
als ich eines Sonntagabends von Kirkinca zurückkam, traf ich mitten im Wald von Belevi auf artemitsa und den Bey, auf dem Wald38
DIDo SoTIrIoU
boden in innigster Umarmung. Ich konnte weder vor noch zurück,
am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. mein Blut stieg mir zu
Kopf, und bisher unbekannte Gefühle gingen mir durch den ganzen
Körper. Barfuß wie ich war, rannte ich mit riesenschritten weiter, ich
war in Gefahr, dass mich der Bey entdeckte und mir vielleicht eine
Kugel in den Leib jagte. Krämpfe schüttelten meinen Körper, als hätte
ich hohes Fieber. nach jeder Verkrampfung weinte ich, als hätte auch
ich mich schwer versündigt …
Durch dieses Ereignis kam mir das Tun und Treiben von anestis
noch schändlicher vor, als es wirklich war, und ich suchte selbst von
dem Gut wegzukommen, bevor er mir den Laufpass gab.
zu unserer zeit waren Vorfälle wie die Geschichte mit Delimanolis
und ali selten. Wer so etwas wagte, sei er Türke wie ali oder Grieche
wie Delimanolis, der tat es aus großer Liebe. In keinem der Türkendörfer rund um uns gab es solche Paare, außer in Kuyucu, dem Dorf
der araber. Die dunklen Leute von Kuyucu hatten enge Verbindungen mit unserem Dorf. Wenn ihnen etwas Gutes oder etwas Böses
begegnete, kamen sie zu uns und holten sich rat. Die größte achtung
hatten sie vor meinem onkel Votanoglu, dem Hirten. Für sie war er
der klügste mensch auf Erden, auch wenn er noch nicht einmal seinen
namen schreiben konnte. So kam eines Tages Jussuf ganz aufgeregt in
unser Dorf. Er lief schnurstracks zu meinem onkel und fragte ihn:
»Kehaya, sag mir, kann ein schwarzes Schaf, das von einem weißen
Bock gedeckt wurde, ein weißes Lamm zur Welt bringen?«
mein onkel kratzte sich am Kopf, dachte nach, dachte noch einmal
nach und, schlau wie er war, antwortete er: »natürlich kann es das,
Jussuf. Wenn der schwarze Bock oder das schwarze Schaf eine weiße
Seele hat, dann kommt einmal ein weißes Lamm zur Welt und ein
andermal ein schwarzes.«
Er gab diese antwort, weil er erfahren hatte, dass sein Hirt Vousios,
jedes mal, wenn er zum Bach ging, um die Schafe zu tränken, dort
LEBEWoHL, anaToLIEn
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Fatima traf, Jussufs junge Frau, und dass die beiden was miteinander
hatten.
»Und wie kommt es, mein Lieber, dass etwas Schwarzes eine weiße
Seele hat?«, fragte der araber nachdenklich.
»Das ist es eben, Jussuf. Das schreiben auch die Schriten, und die
irren sich nie. Die Seelen, sagen sie, wandern von Körper zu Körper
und sehen nicht auf die Farbe. ab und zu gehen die Seelen der weißen
in schwarze und die Seelen der schwarzen in weiße Körper.« außer
sich vor Freude ergrif Jussuf die Hände des Hirten und küsste sie:
»aman, arkadaş, mein Freund«, sagte er bewegt, »du hast mich vor
einer großen Sünde bewahrt. als ich sah, dass sich der Leib meiner
Frau rundete, sagte ich mir, der Segen allahs kam, dass ich sehe, wie
mein Same in ihrem Schoß wächst. als mir aber ein weißes Kind geboren wurde, umwölkte sich mein Sinn, und ich wusste nicht, was ich
sagen oder tun sollte …« Und der schwarze Bock machte sich auf den
Weg, um das schwarze Schaf mit der weißen Seele zu trefen.
aber Vousios rief der Gemeinderat an und gab ihm die strikte
anweisung, seine Siebensachen zu packen, aus den Bergen zu verschwinden und sich nie wieder blicken zu lassen.
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DIDo SoTIrIoU
III.
Im September 1910 ging ich zum ersten mal hinunter nach Smyrna.
Ich erinnere mich, wie erschrocken ich allein in einer so großen Stadt
war. Unbekannte, andersartige menschen, fremd auch die Gassen. Ich
kannte keinen, und niemand kannte oder grüßte mich; ich kam mir
vor wie ein entwurzelter Baum.
Ich ließ meine Hirtentasche mit Wäsche und Essen, die mir meine
mutter mitgegeben hatte, in einer Herberge und machte mich auf den
Weg zu dem rosinenhändler, der mich einstellen sollte. mit der adresse in der Hand, mit den ersten Schuhen meines Lebens, die mich
schrecklich drückten, mit westlichen Drillichhosen, zu knapp für
meine großen Beine und im Schritt zu eng, ging ich sachte und zögernd. nichtsdestoweniger war ich stolz auf meinen neuen Staat und
bückte mich immer wieder, um mit der Hand meine Schuhe abzuwischen, und blickte mich heimlich und etwas furchtsam um, um zu
sehen, wo ich war und ob mich die Passanten beachteten.
als ich an den Kai kam, vergaß ich alles, sogar meine Schüchternheit. Die Eindrücke überwältigten mich, sie nahmen mich ganz gefangen, und ich wusste nicht, wo ich zuerst hinsehen, woran ich mich
zuerst freuen sollte. Das meer? Die Schife des »Hamidiye«, die das
Wasser durchplügen, ohne zu sinken? Die großen marmornen HäuLEBEWoHL, anaToLIEn
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ser mit ihren geheimnisvollen, geschlossenen hölzernen Balkonen?
Die Karossen mit ihrem rhythmischen Klopfen auf dem granitenen
Plaster? Die Pferdebahnen? oder die ganze, fröhlich sorglose menge,
die mit viel Lärm in die Klubs und Kafenions strömte und ihr Leben
feiernd zu verbringen schien, ohne den gewöhnlichen alltag der arbeit.
Ich stand ganz am rand der mole, meine Hände in den Hosentaschen vergraben, und war tief beeindruckt. Die Wellen kamen und
gingen, und wenn sie gegen die Felsblöcke schlugen, versprühten sie
einen Hauch, der nach meer roch. muscheln, hunderttausende von
muscheln saßen an den Eisenträgern der anlegeplätze. Diese anlegeplätze, der Englische anlegeplatz, der neue anlegeplatz, der Lange
anlegeplatz, waren wie Hände des großen Hafens. Von dort aus wurde verschit, die gesegnete Frucht anatoliens ging in fremde Länder,
und das Gold kam herein. »Sag mir, Emmanouil, was weißt du vom
goldenen Vlies?« Lehrer, ich habe dir damals nicht so geantwortet,
wie du es von mir erwartetest. aber hier und jetzt verstehe ich deine
Frage. Vor meinen augen werden all die Geschichten lebendig, die du
mir erzählt hast, klar liegen sie vor mir, wie sie in unseren Schriten
geschrieben sind. noch näher aber sind mir die lebendigen Geschichten, die ich von dem musikanten Christos über Smyrna gehört habe.
Er erzählte sie uns, wenn er an den Volksfesten seine Saz spielte, ein
fast ein meter langes Instrument, das wie ein Gott sang. Wir Kinder
bekamen Sehnsucht: »ach, wann werden wir diese Stadt kennenlernen?«
als ich noch sehr klein war, lößte mir, wenn ich mit meiner mutter zur Kirche ging, das riesige gemalte auge Gottes in der Kuppel
schreckliche angst ein. Jetzt wäre ich am liebsten so ein auge geworden, um alles auf einmal sehen zu können. auch wäre ich am liebsten
ein riesenohr geworden, um mich an die Brust dieser Stadt zu legen
und ihr Herz zu hören.
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DIDo SoTIrIoU
Ich ging langsam durch die Karawansereien mit den schweren
Holztüren, die mit nägeln verziert und mit riegeln versehen waren,
die nachts zur Sicherheit geschlossen wurden. Einst hatten hier Franken, Venezianer, Genuesen und malteser gelebt, ritter und abenteurer. Sie hatten im Hafen von Smyrna festgemacht, sie hatten, den
Erzählungen von Christos nach, die fränkischen Herbergen gebaut,
Kolonnaden von lauter Gewölben, um ihre Schätze sicher aufzubewahren. monsieurs und mesdames mit Diamanten und in Seide, sie
gingen nicht, so erzählte er, zu Fuß, sondern wurden von Trägern in
Sänten getragen, das war eine art überdachte Sessel. Und wenn sie
nachts auf die Straße gingen, schritt ein Sklave mit einer brennenden
Fackel vorneweg ...
Heute gehören all diese Herbergen dem omiros, dem Spontis, dem
Tenekidis, dem Spartalis, dem anas tas-ağas, dem griechischen Klub,
dem alliotis, dem Yussuf und der amalthia. Sie sind nicht mehr fränkisch. Wie ganz Smyrna, so hat das griechische Element auch ihnen
seinen Stempel aufgedrückt.
Die Bewohner von Smyrna sprachen alle griechisch, sogar die Türken, Levantiner, Juden und armenier. Doch trugen viele große Etablissements in der fränkischen Siedlung ausländische namen, die ich
nicht verstand: Comptoir, Louvre, Bonmarché, Paradies des Dames
und viele andere. Und was konnte man in diesen Läden nicht alles inden! Von Paradiesvogellügeln für die Haare der Frauen bis zu
Pantöfelchen für aschenputtel und schöne Spielsachen, Spielsachen
zum aufziehen. Wie glücklich mussten die Kinder hier sein und wie
verwöhnt die Frauen!
Geradewegs eilte ich zur Hagia Photini und zündete eine Kerze für
sie an, so wie meine mutter es mir aufgetragen hatte. Dann blickte
ich wie gebannt auf den Glockenturm und konnte mich nicht sattsehen. zwanzig meter hoch, vier Stockwerke, ganz aus marmor. Und
als relief Christus, wie er am Brunnen sitzt und mit der Samariterin
LEBEWoHL, anaToLIEn
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spricht. Und die Glocken: mächtig, wohlklingend, ein Geschenk der
Großherzöge von russland, und oben auf der Kuppel das in der Sonne glänzende Goldkreuz, Trost und Schutz für die Untertanen, die
stolz darauf sind, weil das Kreuz höher ragt als der Halbmond auf
dem minarett der Hissar-Dschami.
Dort in der nähe der Hagia Photini befand sich auch die Evangelische Schule. Sie zu besuchen, war mein Traum gewesen, und mein
Lehrer Pythagoras Larios hatte mir helfen wollen. aber mein Vater
hatte ihn angefahren: »nein, Herr Lehrer, bei allem respekt! Ich will
nicht, dass mein Sohn ein Schwätzer wird. Wir sind Bauern, wir brauchen Hände ...«
als ich die Glocke der Hagia Photini zwölf schlagen hörte, fuhr ich
zusammen. War es schon mittag? Ich sagte mir, ich müsse mich sputen, zur arbeit eilen, aber als mir klar wurde, dass ich niemandem
rechenschat schuldete, dass ich zum ersten mal mein eigener Herr
war, da erfasste mich unbändige Freude. Ich stürzte mich in die menge, trank auf dem markt zizibira, rotes und grünes Sorbett und »Buz
gibi, Kekik suyu« und verschwendete vergnügt die wenigen Viergroschenscheine, die mir meine mutter zugesteckt hatte, ohne dass Vater
es merkte. aber dann stoppte mich etwas; der Bauer achtet das schwer
verdiente Geld besonders. Und ich sagte mir, ich hätte mich unverzüglich zum Laden des Herrn michalakis Chatzistavris zu begeben,
um mir meinen arbeitsplatz zu sichern, nachher konnte ich mit dem
Herumstrolchen weitermachen.
Ich traf den Herrn mitten in der arbeit. In diesen Tagen, wo die
Bauern kamen, um ihre Ernte zu verkaufen, schlossen die Händler
ihre Geschäte über mittag nicht. Sobald ich in den engen, langen Laden mit den vielen regalen kam, stieg mir der strenge, süße Geruch
von Feigen und rosinen in die nase. mittendrin stand Chatzistavris
und war ganz mit dem abwiegen beschätigt. arbeiter mit Lasten auf
dem rücken kamen und gingen durch die hintere Tür, wo sich der
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abladeplatz befand. Dort ließen sie die Kamele, die Wagen, die Esel
und ochsenkarren. zwei barfüßige Lastträger mit nackter, behaarter
Brust hielten den Balken, an dem die Waage hing, auf ihren Schultern. Chatzistavris mit seinem runden Bauch, dem Doppelkinn und
hochroten, wie Butter glänzenden Wangen, rief die okka aus. Er hatte
ein wachsames auge, das funkelte und unermüdlich überall war. Seine arme und Beine, die verglichen mit seinem Körper zu dünn waren, ließen ihn wie einen Frosch aussehen. Seine Bewegungen, seine
Schnelligkeit und sein ganzes Verhalten zeigten, dass er sein Geschät
von Grund auf gelernt hatte. Und tatsächlich hatte er es, wie ich später erfuhr, verstanden, als Lehrling seine Chancen zu nutzen. Er tat
sich mit Selim Efendi zusammen. Unbeschwert gingen die beiden mit
Herzen und Geldbeuteln um, sie schaten es, und das Geld loss.
Ich trat zu Herrn michalakis, sprach ihn mutig an, gab ihm das
Empfehlungsschreiben, das ich von den Gemeindeältesten unseres
Dorfes hatte. Dies Schreiben schmeichelte ihm sehr, denn es geiel
ihm, dass die mächtigen achtung vor ihm hatten. mich musterte er
mit einem Blick, der durch und durch ging, bis zu meiner Seele.
»Ja, ich weiß, auch andere haben mir von dir erzählt. Ich werde dich
nehmen. mir kommt es gelegen, dass du Türkisch kannst. morgen
früh kannst du mit der arbeit anfangen, dann werde ich dich prüfen
und wir werden über die Bezahlung sprechen.«
als ich nach draußen kam, war ich außer mir vor Freude; wenn ich
einen Bart gehabt hätte, hätte ich ihn gezwirbelt, so sehr fühlte ich
mich als mann. Jetzt konnte ich meinen Tag genießen, den ersten und
einzigen freien und unbeschwerten Tag meines Lebens.
Stundenlang streite ich durch die Bazare und Gassen von Smyrna, bis mich die nacht überraschte. arbeiter zündeten mit langen
Stangen die Gaslaternen an. Fein angezogene Damen fuhren in ihren
Karossen in die Klubs, zur »Provengera«, der abendlichen Unterhaltung, und »Javan Soupes.« Dekolletierte mädchen, braun und lustig,
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lanierten, lachten, lirteten. Paare in gehobener Stimmung kauten
Blumen. In den Kafeehäusern spielten musiker, sangen politische
Lieder, brachten Kellner Tabletts mit Flaschen und »mezedes«, den
Vorspeisen. Die mole dutete nach ouzo, Gurken, gebratenem Fleisch
und meer. Die dort saßen und herumlungerten, kauten Kerne, Pasatempos, geeiste mandeln, Leckerbissen, aber auch anderes glasiertes
zuckerzeug und Lutscher.
Selbst noch in den entlegenen Stadtvierteln waren die Häuser ofen
und gesellig. Vor den Haustüren saßen Familien und unterhielten sich
vergnügt. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, schlafen zu gehen.
Gerade erst hatte ich Smyrna kennengelernt, und schon kam es mir
so vor, als sei ich hier geboren und hätte die sechzehn Jahre meines
Lebens in der Stadt verbracht. als ich endlich ins Bett ging, wälzte ich
mich von einer Seite auf die andere und sprach zu ihr wie ein Verliebter: »Du bist schön, weißt du das? Du bist sehr schön!«
Hier in Smyrna würde ich träumen können, soviel ich wollte, ohne
gleich Schläge zu bekommen ...
Früh am nächsten morgen ging ich zur arbeit. Herr michalakis Chatzistavris war schon da. Er kam vor seinen Lehrlingen und öfnete allein den Laden.
»Ich werde dich an die Waage stellen, neben mich«, sagte er. »Du
scheinst recht aufgeweckt zu sein.«
Die türkischen Bauern waren bereits in der nacht angekommen.
man hörte die Glocken der Tiere: kling-klang. Schüchtern kamen sie
in den Laden, erschöpt von dem weiten Weg. Der Chef emping sie
freundlich. In diesen Tagen stellte er einen eigenen Kafeekoch ein,
damit er am laufenden Band Kafee kochen konnte. nach der Begrüßung und Bewirtung öfnete Herr michalakis die Säcke, prüte die
Qualität, suchte nach mängeln, beklagte sich über die Wirtschatslage
und über die hohen ausgaben, die die Händler hätten.
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DIDo SoTIrIoU
»Wenn ich nicht an euch, die armen Leute, denken würde«, sagte er
fast jammernd, »dann würde ich das Geschät schließen. Ich hab’ nur
mühe und sonst nichts davon ...«
Die Bauern sagten dauernd »ach! ach!« und sahen ihn betrübt und
verwirrt an. Diesen augenblick passte er ab, um den Preis mit ihnen
auszuhandeln. Er begann ganz unten und ging Groschen um Groschen in die Höhe, je nachdem, wie sein Partner reagierte.
»Efendi michalakis, geben sie etwas mehr«, sagten sie, »mühe und
Schweiß hat unsere arbeit gekostet. Komm, lass uns dir mit beiden
Händen danken ...«
Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass mein Chef ein Geizhals war, ein durchtriebener Händler, der noch aus einer Fliege Fett zu
gewinnen suchte. Wenn er einen Sack an die Waage hängte, blickte er
dem Bauern direkt in die augen und rief die okka aus.
»Doksan beş, fünfundneunzig okka!«, hörte ich ihn rufen, aber die
Waage zeigte hundertzehn okka an.
Er wird sich geirrt haben, dachte ich mir und wollte es ihm sagen,
aber ein Blick und ein Stoß von ihm hielten mich zurück. Beim zweiten türkischen Kunden, wieder die linke Hand des Chefs an der Waage, wieder sein Blick fest auf die Bauern gerichtet, wieder kam ein
Verlust an okka heraus. am zweiten Tag hielt ich es nicht länger aus
und fragte ihn, was beim abwiegen los sei und warum er alle mit den
Blicken ixiere, wenn er die okka falsch ausrufe.
»Ich gebe acht«, antwortete er mir, »um zu sehen, ob sie was merken. Wenn ich sehe, sie schlafen im Stehen, wage ich sogar, ihnen zu
sagen: null okka.«
Er war ganz begeistert von seiner Geschicklichkeit, mir aber drehten sich die Eingeweide um vor Ekel. Er schien etwas gemerkt zu haben und hatte es eilig, die Sache ins richtige Licht zu rücken.
»Der Handel, manolis, verlangt von dir, tausendmal klug zu sein.
Bist du es nicht, dann gehst du zum Teufel. Sieh dir die Bauern an,
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ihr Gehirn arbeitet. Führe einen Griechen hinters Licht, wenn du es
schafst! Die Sklaverei lehrt dich Wachsamkeit, macht dich schlau.
Was heißt das bisschen Proit, das ich hier von diesen Teufeln nehme,
verglichen mit dem, was uns der türkische Staat abverlangt? Hast du
jemals den Selim Efendi, meinen Kompagnon, gesehen? Du hast ihn
nicht gesehen, und du wirst ihn auch nicht sehen. aber monat für
monat kommt er und nimmt mir den halben Verdienst weg!«
Seine rechtfertigung konnte meine meinung nicht ändern, die ich
mir über ihn und den Handel gebildet hatte. Ich dachte an das, was
mein Vater im Vorjahr erlebt hatte. Die Preise für rosinen waren zu
dem zeitpunkt, als die Bauern verkaufen wollten, gefallen, das war jedes mal so. Eintausendachthundert okka Sultaninen hatten wir zum
Verkauf gebracht, beste Qualität. mit dem Preis, den uns die Händler
boten, erzielten wir kaum einen Gewinn von fünf Goldpfund, wenn
wir die Kosten abzogen, die wir hatten, bis die Sultaninen in den Säcken waren. mein Vater lehnte es ab, den Ertrag seiner mühen zu
solch einem Schleuderpreis abzugeben, er beschloss, die Sultaninen
nach Smyrna zu einer großen und mächtigen Handelsgesellschat zu
schicken, mit der aulage, die rosinen auf unsere rechnung zu verkaufen, sobald die Preise wieder anzogen. Es vergingen einige monate, und eines Tages erhielten wir einen Brief, in dem man uns schrieb,
wir sollten die Sultaninen auf jeden Fall verkaufen, sonst bestünde die
Gefahr, dass wir noch nicht einmal unsere Unkosten decken könnten.
angesichts einer solchen Erpressung mussten wir das angebot annehmen. als jener ehrenwerte Händler uns die abrechnung schickte,
schrieb er uns, dass wir ihm noch dreißig Groschen schuldig seien,
aber ... großzügig wie er war, erließ er sie uns!
Ich kannte also den Kummer der Bauern sehr gut, deshalb tat mir
mein Herz doppelt weh bei dem, was ich beim Handel sah. Eines Tages kam ein türkischer Kunde von Vourlas. Er war ein Tagelöhner,
zerlumpt, statt Schuhen Lappen um die Füße. Seine Wangen, einge48
DIDo SoTIrIoU
fallen wie bei einem Heiligen, sein zahnloser mund, seine gütigen
augen und sein weißer schütterer Bart erweckten mitgefühl. Er hatte
zwanzig Säcke rosinen. Er wartete geduldig, bis er an der reihe war.
Seine rosinen waren appetitlich, blond, honigsüß. Immer wieder
streichelte er sie mit seinen schwieligen Händen. Es schmerzte ihn,
sich von ihnen zu trennen. Soviel mühe und arbeit, bis er sie zum
Verkauf brachte.
»ach, meine Blonde«, sprach er liebkosend zu ihnen, »komm, meine zarte! Du hast mich mühe gekostet und hast mich zappeln lassen.
also, bis zum nächsten Jahr.«
als Herr michalakis gerade mit dem abwiegen anfangen wollte,
kam der Sohn des türkischen Landarbeiters gelaufen. Er brachte einen Doppelsack mit 40 okka Ware, sagte etwas zu seinem Vater und
ging wieder.
»Leg auch das noch auf die Waage«, sagte der Landarbeiter, und seine augen glänzten. »Ich habe einen guten Sohn, Efendi michalakis.
Ich gab ihm die rosinen, damit er sie mit nach Hause nehme, dass
seine Kinder gut durch den Winter kommen. aber gutherzig, wie er
ist, als er von seinem onkel erfuhr, dass ich Schulden am Hals habe,
brachte er umgehend die rosinen zurück, damit ich sie verkaufen
kann!«
Der Händler fand schöne Worte, lobte den Sohn des Türken, aber
die vierzig okka verschlang die Waage, ohne dass er sich schämte.
anstatt den Doppelsack an den Wiegebalken zu hängen, hängte er
ihn an die Haltestange!
Damals war ich noch ein bartloser Bub, aber in meinem Innern war
die Wut über die Ungerechtigkeit erwacht. Was passieren doch für
befremdliche Dinge auf der Welt, dachte ich voll abscheu. Der Bauer
müht sich ab, den Boden zu zwingen, ihm Frucht zu bringen, und hier
haben die Händler, wohlhabende Leute, die alles Gute und Schöne
des Himmels besitzen, eine Waage und halten es für ihre aufgabe,
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den armen zu bestehlen! Später lernte ich ehrliche Händler kennen,
die es verschmähten, mit den billigen Tricks des Chatzistavris zu arbeiten. Doch es wollte mir nicht in den Kopf gehen, dass es möglich
war, dass einer unsere mühen mit einem Gewinn von fünfzig und
hundert Prozent verkaute!
Was wissen sie von der arbeit im Weinberg? Vom Graben, Pfropfen, Schneiden und Spritzen, vom Ärger mit der reblaus, den Sorgen,
bis die Traube reit, bis sie gelesen wird und in die Kelter kommt oder
zum Trocknen ausgebreitet wird! Wie man zum Himmel blickt, ob
sich ein Wölkchen zeigt und wie man es dann Tag und nacht beobachtet, dass es keinen regen ausgießt. Und später vielleicht wieder Herzklopfen, während des abreibens und beim Verlesen, Beere um Beere,
das aussortieren der verdorrten, der verfaulten, der verschmutzten
Früchte. Und nachts rennt man mit Decken raus, um die rosinen wie
Säuglinge zuzudecken, damit sie der raureif nicht verdirbt!
als es nach einer Woche ans auszahlen ging, sagte ich zu Herrn
michalakis Chatzistavris:
»Chef, gib mir andere arbeit. Ich tauge nicht fürs Wiegen. Ich werde
dir keine Freude machen …« Der Händler verstand mich. Er drehte
sich zu mir um, betrachtete mich mit Erstaunen und nachdenklich:
»Ein Jammer!«, sagte er. »Und ich hielt dich für schlau ... « Ich senkte meinen Kopf, biss die zähne zusammen, damit ich keine Unverschämtheiten sagte, doch ich konnte nicht an mich halten:
»ach, was soll’s, Herr michalakis«, antwortete ich ihm ironisch. »Du
hast mich anscheinend nicht richtig abgewogen … so, wie du es gewohnt bist!«
Diese meine Haltung und die Ironie führten zu meiner Entlassung.
am nächsten Tag ging ich durch die Gassen von Smyrna auf der Suche nach arbeit. Von august bis oktober war Hochkonjunktur für
Feigen. So kam ich für einige zeit als Tagelöhner im Lager des zacharias unter. Diese arbeit brauchte linke Hände. Die griechischen
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arbeiter waren mit der ersten Qualität beschätigt, die Türken arbeiteten mit der minderen Qualität, und man hielt sie auch noch von
uns getrennt. Wir formten die bekannte Kurkubini, die »Laer-Feige«,
viereckig wie Loukoumi, und legten sie in Kisten. Die daneben stehenden Vorarbeiter gaben genau acht, ob das obere und das untere
muster auch gleichmäßig gesetzt war, denn die ganze Ware war für
Europa und amerika bestimmt.
Die ersten züge mit Feigen, die von aydm kamen, waren über und
über mit Lorbeerblättern und myrte geschmückt. In Punta präsentierte das militär das Gewehr und knallte begeistert in die Lut. Der
Staat prägte neues Geld, achtgroschenstücke und mecidiye. mich,
der ich selbst Bauer war, begeisterten diese Feste und auch die arbeit
mit den Feigen, ich war mit Leib und Seele bei der Sache.
»He, junger mann, jetzt reicht es«, sagte mir eines Tages der arbeiter neben mir, Gonias, der einmal bei den Feigen arbeitete, ein anderes mal in den Planzungen, oder Hühner und Fische zur Verlosung
ins Tampakhane brachte oder als Tischler arbeit fand. »mach auch
mal eine zigarettenpause, Freund! Wie du arbeitest, bist du morgen
mit den Feigen fertig und wir landen auf der Straße!«
Es war noch kein monat vergangen, da verstand ich sehr gut, was
Gonias mir gesagt hatte. Wir Gelegenheitsarbeiter waren alle entlassen worden, und ich musste wieder arbeit suchen. In der nähe meiner Bleibe befand sich eine Konditorei, die einen Laujungen suchte. Ich ging hin, trug die weiße Schürze und erledigte alle arbeiten,
so gut ich nur konnte. als aber der Chef zu mir kam und mir sagte:
»Du berührst nichts von dem, was du siehst, nichts. Wenn du etwas
willst, hast du zuerst mich zu fragen …«, da zog ich beschämt und
verärgert die Schürze aus, gab sie ihm und ging. Ich tat jede mögliche arbeit, bis ich irgendwo Fuß fassen konnte. Für einen monat
ging ich ins Taragaç, ein Lebensmittelgeschät mit Gastwirtschat. Die
Kunden waren die arbeiter der umliegenden Fabriken und HafenLEBEWoHL, anaToLIEn
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arbeiter. meist aßen sie nichts, tranken nur auf leeren magen einen
Wein, einen raki. Der Chef hatte eine riesige schwarze Tafel mit den
namen seiner Kundschat. neben jeden namen machte er mit Kreide
einen Strich für jedes Glas. Er war ein zweiter Chatzistavris, ehrlicher
Gewinn genügte ihm nicht. »Besofene«, sagte er, »sehen doppelt.«
So zögerte er nicht, für jedes Glas zwei oder drei Striche zu machen.
auch dies war keine arbeit, die mir lag.
Für kurze zeit ging ich in eine Bäckerei. Es war Winter und schön,
auf der warmen ofenbank zu schlafen. aber der Chef schikanierte
mich, und ich ging wieder weg. Ich arbeitete in einer Tabakhane,
einer Gerberei, wo ich mir zwischen dickbäuchigen Typen öter in
die Hände schnitt als ich Brot darin hatte. zwei monate fand ich arbeit in einer Seifensiederei. Sogar als Hufschmied arbeitete ich in der
Schmiede an der Brücke der Karawanen …
Ich hatte gedacht, dass diese Stadt, die ich so sehr liebte, ofene Türen für alle armen hätte und dass es genügen würde, meine Hand mit
geschlossenen augen auszustrecken wie bei »Blindekuh«, um das zu
fassen, wonach ich mich sehnte. aber das Leben begann mich sehr
schnell von meinen kindlichen Irrtümern zu heilen. Soviel auch Verstand und Hände geschickt zusammenarbeiteten, ich blieb ein Handlanger, dessen Leben andere bestimmten und den sie auf die Straße
setzten, sobald es ihnen beliebte.
So vergingen etwa fünf monate, bis es sich ergab, dass ich einen guten
Lohn bekam und für Schlafen und Essen gesorgt war: in der Herberge von Jannakos Louloudias, einem alten Schmuggler, der auf den
Spitznamen »böser Hund« hörte. zuerst konnte ich mir nicht erklären, warum man ihn so nannte. Für mich war er ein prima Kerl, Geiz
war ihm fremd. Wie er das Geld verdiente, so gab er es wieder aus. Er
sorgte für den armen und Schwachen, und wo er ihn traf, beschützte er ihn, ohne viel auhebens zu machen. Er hatte der Seele seiner
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DIDo SoTIrIoU
vorzeitig verstorbenen Frau gelobt, jeden Samstagabend eine Kiste
mit Lebensmitteln an einen Bedürtigen zu schicken – und was für
Lebensmittel, Käse, Eier und Koulouria, süße Kringel! –, einmal dem
einen, das nächste mal dem anderen nachbarn, der in not war. auch
wollte er, dass sein Tun geheim blieb.
»Trag die Kiste hin«, sagte er mir, »und lass sie im Hof stehen. Und
weh dir, wenn dich jemand sieht …«
Jannakos war ein großer, krätiger mann, sein Körper etwas schwer,
mit breiten Schultern, buschigen augenbrauen, geschwollenen augen
und hochgezwirbeltem Schnurrbart. Er trug Pumphosen, eine zweireihige Samtweste und einen Fez mit üppiger Seidenquaste. Wenn er
die Quaste nach vorn trug, dann durte ihm keiner zu nahe kommen
und auch niemand mit ihm reden, noch nicht einmal seine fünf Töchter, an denen er sehr hing. In seinem Patronengürtel fehlte nicht der
zweischneidige Dolch, ein schöner roter, ein Geschenk von seinem
verstorbenen Vater. Später erfuhr ich, dass der Dolch die Ursache
für den Spitznamen war, den ihm die Türken gegeben hatten, »böser
Hund.« Er hatte nämlich einige umgebracht und war auch noch stolz
darauf.
madame margitsa, seine unverheiratete Schwester, die ihm die
Töchter großzog, sagte, dass Jannakos niemals unehrenhat getötet
habe, sondern aus Liebe zu Christus: »Wenn er einen Türken töten
wollte (denn einen Christen hatte er niemals angerührt), ging er zum
Heiligen Voukolas, zündete eine Kerze an, so groß wie er selbst, kniete
nieder und sagte zu Gott: »mein Vater, warum muss ich mich versündigen? Die Verdammten werden doch nicht alle. Wirf du doch Feuer
und Brand …«
Louloudias übertraf an Kühnheit sogar den sagenhaten raubold
von Smyrna Stelios Tirlalas, der am abend einen türkischen »subay«
oder »zaptiye« – einen oizier oder Polizisten – umbrachte und morgens seinen Kafee im Bella Vista trank und seinen Bart strich, ohne
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dass die Behörde ihm auch nur ein Haar krümmte.
auch den Schmuggel hielt Barba Jannakos für eine patriotische Tätigkeit. Selbst auf der mole von Smyrna zögerte er nicht, die zöllner
reinzulegen oder auszuschalten, um in ruhe den geschmuggelten Tabak ausladen zu können, den seine Kuriere und Schnellsegler geladen
hatten.
auch die verfolgten Christen eilten zu ihm, damit er sie nach Englezonisi brachte, nach Samos, Chios, mytilini oder zum Dodekanes.
Von den reichen forderte er hohe Preise, für einen armen aber war
er imstande, sich jeder Gefahr auszusetzen, um ihn völlig umsonst zu
befördern. Wer Louloudias’ Unterstützung genoss, konnte sicher sein,
dass er nicht in die Hände der Polizei geriet.
Wenn Louloudias etwas gut gelungen war, veranstaltete er ein riesiges Fest. Er lud eine bunte Gesellschat in die Herberge, holte auch
musikanten dazu: die Kör-Katina, die die Cafés aman in Smyrna mit
ihren Liedern begeisterte, den mehmetakis, einen berühmten türkischen Geiger, Jovanakis, den zauberer auf dem Santuri. Das Fest
dauerte Tage. Und jeden Tag lag eine andere Geliebte in Louloudias’
armen. War sein rausch verlogen, gingen die Spielleute und Frauen
mit Taschen voller Geld. Dann reinigte madame margitsa die Herberge, damit alles wieder glänzte. Sie holte die Töchter von ihrer Tante
annetoula nach Hause – dorthin hatte man sie vor Beginn des Festes
gebracht. Sie räucherten alles aus und murmelten Beschwörungsformeln:
Heiliger Johannes,
großer und dreimal großer,
ihr habt, ihr sollt anbinden,
die Kriechtiere der Erde
die Schlange und die Kreuzotter
den Skorpion und den Salamander
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DIDo SoTIrIoU
die kleine Eidechse
unter dem Kamin,
damit er brennt und riecht
und gelbgrün wird
der böse mensch,
der nachtschwärmer.
Jannakos blieb vierundzwanzig Stunden im zimmer seiner Frau
eingeschlossen – das zimmer hielt er immer abgesperrt –, keiner
wusste, was er dort tat. Die einen sagten, er falle in einen tiefen Schlaf,
die anderen, er bete und bitte seine selige Frau, ihm seine Verfehlungen zu verzeihen. Die Frau von Louloudias, Pari, lebte für ihn noch
immer im Haus, auch wenn schon ganze zwölf Jahre seit ihrem Tod
vergangen waren, sie hatte das Kommando über den Haushalt und im
Herzen des Jannakos. Sogar madame margitsa strahlte über das ganze
Gesicht, wenn sie sagte: »unsere Paritsa.« »Wenn unsere Pari noch
lebte«, sagte sie mir eines Tages, »dann wäre Jannakos kein Schmuggler, sondern ein Bischof.«
Die Welt, die ich in der Herberge von Louloudias kennenlernte,
werde ich niemals vergessen. am lebendigsten von allen aber ist in
meiner Erinnerung der Sänger ogdontakis und seine Geschichte.
Er war ein großer schlanker Jüngling mit einer mädchenhat zarten
Haut, heißen schwarzen augen und einer Stimme, die Bestien zähmte. Wenn er in der Herberge abstieg und Louloudias ihn dazu brachte,
zu singen, war das keine Unterhaltung, sondern eine Liturgie. alle
schlossen die augen wie im Gebet, und Jannakos, bleich und stumm,
umschloss sein Glas fest mit der Hand und zerdrückte es. Immer wieder öfnete er seinen Geldbeutel, nahm eine Goldlira heraus und klebte sie an die Stirn des Sängers.
»Du sollst leben, ogdontakis! Es lebe die nachtigall von anatolien!«
Eines Tages erreichte uns eine böse nachricht. ogdontakis war von
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den Türken festgenommen und ins Gefängnis gesteckt worden. Es
hieß, eine liebeshungrige Hanum hätte sich in ihn verliebt, er aber
verschmähte sie. Um sich an ihm zu rächen, hatte sie zwei Beys gewonnen, die ogdontakis wegen Spionage anklagten, eine furchtbare
und gefährliche Beschuldigung.
als Louloudias davon erfuhr, war er erschüttert. »Entweder gehe
auch ich ins Gefängnis«, sagte er, »oder morgen, spätestens übermorgen ist ogdontakis mit meinem Schnellsegler auf Englezonisi …«
aber die Sache war nicht so einfach, wie er sich das gedacht hatte.
Tage vergingen, und unsere Sorge erreichte den Höhepunkt, als wir
erfuhren, dass sie ihn ohne Prozess zum Tode verurteilt hatten und
ihn auhängen wollten.
Ihr könnt euch vorstellen, wie groß unsere Verwunderung war, als
an dem Tag, an dem das Urteil vollstreckt werden sollte, sich die Tür
öfnete und ogdontakis vor uns stand, bleich und benommen, als
käme er aus dem Hades: Er iel in die arme von Louloudias, die Frauen brachen in Tränen aus und riefen: »Du hast einen Schutzengel!
Einen Heiligen!«
»Es ist noch keine Stunde her, dass ich freikam«, sagte ogdontakis
und sank erschöpt auf einen Stuhl.
Louloudias schüttete ein, zwei Gläser raki hinunter, wischte sich
mit dem Handrücken die Tränen aus den augen, füllte das Glas von
ogdontakis, damit er trinke und zu sich komme, und fragte ihn: »Was
ist geschehen?«
»Gestern nachmittag«, begann der junge mann, »kam der Wächter mehmet in meine zelle. Er brachte Essen und raki. ›ach, arkadaş‹, sagte er zu mir, als ob er sich schämte, ›ich bringe schlechte
nachricht, aber ich will nicht, dass du mir böse bist … morgen früh
verlierst du deinen Kopf.‹ mir wurde eiskalt, aber ich zeigte es nicht.
Vielleicht will er mich nur ärgern, sagte ich zu mir, nimm es mit Humor: ›Das Leben, mehmet, ist nicht zur Sättigung. Jeder Christ, der
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DIDo SoTIrIoU
durch die Hand eines Türken stirbt, ist heilig und geht geradewegs
ins Paradies.‹ als der Wächter weg war und ich allein blieb, überiel
mich der Kummer. Ich nehme den raki, schütte ihn hinunter, um
Krat zu gewinnen, aber die Trübsal überwältigt mich, und ich fange
an zu singen. In diesem augenblick geht der Chef, der Pascha Suleiman, der die Gefängnisaufseher unter sich hat, über den Hof. Er
bleibt unter meiner zelle stehen und schüttelt seinen Kopf. ›Vay! vay!
Was ist das? Wer singt da?‹ Das Singen hielt ihn dort fest, er konnte sich nicht bewegen! Einige zeit später brachten sie mich in sein
Büro. ›Wo hast du, menschenskind, du verdammter Giaur, so schön
singen gelernt?‹, fragte er mich. ›Das Lied‹, antwortete ich ihm, ›ist
meine Seele. Und bevor ich sie aufgebe, lasse ich sie singen, um der
Welt Lebewohl zu sagen.‹ ›Setze dich, mein Junge, setz’ dich und sing
für mich. Sing, damit ich dir zuhören kann, denn ich liebe den Gesang sehr.‹ Ich sang und sah wie die augen des Ungeheuers weich
wurden. Ich sagte zu mir: ›auf, ogdontakis, auf, lass uns den Tod
auslachen.‹ Und so geschah es, ich schwöre es euch! Der Pascha war
wie ein Lamm. ›Ich schenke dir dein Leben‹, sagte er zu mir. ›Es ist
ein Verbrechen und ein Unrecht, wenn solch eine Stimme verloren
geht. morgen habe ich ein großes Fest, ich nehme dich mit, damit
du singst. Das Übrige überlasse mir.‹ In Handschellen brachten sie
mich in sein Haus. In der großen Halle speisten und tranken Paschas
und Beys. Und ich sang. ach, und wie ich sang, Brüder! Ich gab mein
Bestes. als der mann kam und mich von meinen Fesseln befreite
und mir sagte: ›Git! Hau ab!‹, traute ich meinen ohren nicht. Ich
sollte liehen? Sagen Sie die Wahrheit, oder spielen Sie nur mit meiner Qual, und sobald ich mich bewege, schießen Sie mich nieder?
Der mann trieb mich zur Eile, brachte mich bis ans Tor und sagte
mir: ›Flieh, ogdontakis, und mach’s gut! Und wenn dir dein Leben
lieb ist, bleib eine Weile weg von Smyrna! Das lässt dir der Pascha
bestellen …‹«
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am selben abend ließ Louloudias ogdontakis an Bord gehen und
schickte ihn nach Samos. aber das Lied, das Suleiman begeistert hatte, das blieb im mund von Smyrna, und die ganze Stadt sang es:
aman memo
Şekenm memo
Cilveli memo...
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DIDo SoTIrIoU
I V.
Ein Brief meines Vaters, kurz, aber streng, zwang mich, die Herberge zu verlassen. »Sobald du meinen Brief erhältst«, schrieb er, »mach
dich auf und verlasse Louloudias. Ich habe dich nicht geschickt, um
Schmuggel und Kratprotzerei zu lernen. Ich bin mit dem Händler Seïtanoglou übereingekommen, dass du bei ihm die arbeit aufnimmst …«
Es wäre eine Lüge, zu sagen, dass ich mich bei dieser Veränderung
verschlechterte. Die Herberge befriedigte mich auch nicht mehr, ich
hatte schon selbst daran gedacht, wegzugehen. Homer Seïtanoglou
und seine Söhne waren etwas neues für mich. Erfahrene, bekannte Händler, erinnerten sie in nichts an michalakis Chatzistavris. In
ihrem Laden gingen wirkliche Herren aus und ein, Leute, die den
reichtum anatoliens in ihren Händen hielten.
Seïtanoglou besaß ein Haus in Karantina, einen Palast. Das Serail
eines Paschas konnte nicht prächtiger sein. Ganz aus marmor, umgeben von einem Garten mit Dattelpalmen, Bougainvileen, Granatapfelbäumen, zitronenbäumen und Beeten voller Blumen. auch einen
Tennisplatz gab es und einen Pferdestall, einen künstlichen See und
einen Fichtenwald, in dessen Schatten die Söhne des Chefs und ihre
Frauen ausruhten und lasen. Im Erdgeschoss befanden sich Salons,
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Büros, eine komplette Bibliothek, Speisesäle mit Perserteppichen,
zimmerplanzen und möbeln, die aus Venedig importiert waren.
Hundert Personen konnten in den Sälen sein, und doch schienen sie
leer. Die Wände waren mit nussbaumholz getäfelt, an ihnen hingen in
schweren Goldrahmen die Porträts der ahnen, die einen wild, die anderen freundlich, aber stets so lebendig dargestellt, dass man meinte,
sie würden gleich heruntersteigen und mit einem reden und erzählen,
wie sie so viel reichtum zusammenbekommen hatten.
ot, wenn man Karten spielte oder große Festlichkeiten hatte, nahm
mich mein Chef zur aushilfe. an dem Tag, an dem ich zum ersten
mal das Haus betrat, war ich fassungslos.
»Du lieber Himmel, was ist das?«, sagte ich zu den Dienerinnen.
»Halt die Lut an«, sagten sie mir, »noch hast du nichts gesehen.«
In dem Saal, den sie Bufet nannten, standen gedeckte Tische, lang
wie eine Eisenbahnstrecke. Dort standen auf gestickten leinenen
Tischtüchern aufgereiht Fayencen mit den feinsten Leckerbissen –
schwarzer Kaviar, Fischrogen in Gelee, Schinken, eingelegtes Gemüse,
gefülltes Gelügel, roastbeef, austern, Langusten, Krabben, große Fische mit fester mayonnaise und Weißbrot mit mastix, hausgebacken.
Kristallene Gläser leuchteten, und hinein gossen sie ein Getränk, das
wie eine wilde Welle schäumte, und wenn sie die Flasche öfneten,
knallte es wie fişek.
Kutschen kamen und brachten männer in Frack und zylinder, viele
trugen im auge ein einzelnes Brillenglas, man konnte nicht begreifen,
wie es dort festgehalten wurde. Es waren fremde Konsuln und einheimische Bankiers, Großhändler, Gutsherren, Spekulanten, Ärzte,
Juristen, Journalisten, ortsvorsteher, auch zwei Bischöfe kamen. Und
die Frauen, was war das für eine Sache. appetitlich, geplegt, zierlich
und zerbrechlich, in raschelnde Seide gehüllt, von Kopf bis Fuß von
Diamanten und Brillanten übersät. Ging eine vorbei, dann blieb ein
Dut, als wolle sie mit den Frühlingsblumen wetteifern.
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DIDo SoTIrIoU
Sobald ich mit meiner arbeit fertig war, ging ich in die Küche, um
mich auszuruhen. mit Freude sah ich Barba Jakumis, den Kutscher
des Chefs. Er saß da und trank langsam etwas, den Fez bis zu den
augenbrauen heruntergezogen. Ich hatte Freundschat mit ihm geschlossen, setzte mich zu ihm und wir unterhielten uns. Ihn fragte ich
nach diesem und jenem:
»Leben alle Herren so, Barba Jakumis? Und gehen sie nicht zugrunde mit solch großen ausgaben?«
»mach dir keine Sorgen, mein armer Tropf!«, antwortete er mir
mit gütiger Ironie. »Glaubst du, manolis, dass die Herren zu Schaden
kommen könnten? Hier und heute abend werden große Geschäte
getätigt und zwar im Handumdrehen. So viele Schife Feigen, so viele
züge Eicheln, so viele Fässer Öl und Petroleum, so viele Ballen Baumwolle, Leder, Tabak. Keine angst, mein augapfel! Die Leute, die du
hier siehst, haben Berge, Dörfer, Bergwerke und Fabriken, die ihnen
gehören! oder was hast du gedacht? Die Behörde geht sie einen Dreck
an, sie schmieren sie, und sie schließt die augen. Der Pascha nimmt
seine Fünfergolddukaten, der Bey nimmt seine Pfunde, der Polizist
sein Geld und … adieu Türkei, einen leichten Schlaf und süße Träume.«
Barba Jakumis war ein erfahrener und kluger Bauer, denn er hatte
bei vielen großen Herren gearbeitet und es machte ihm Spaß, ein bisschen zu prahlen und zu zeigen, dass er die Welt gut kannte.
»Damit du begreifst«, fuhr er fort, »einmal arbeitete ich beim Lymperidis. Er schickte mich zu einem türkischen zollbeamten, der dort
eine hohe Stellung hatte. Seine Familie aß kein Fleisch, außer am
Bayram. Ihm überbrachte ich einen Gürtel voller Geld. »Ein kleines Geschenk«, sagte ich zu ihm, »von meinem Herrn.« Fast hätte er
mir die Hände geküsst. »oh allah, gib dem vornehmen Herren allen reichtum.« Wenige Tage später hatte der gleiche Kontrollbeamte
nachtdienst, und unser guter Lymperidis brachte es fertig, ein ganzes
LEBEWoHL, anaToLIEn
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Schif unverzollter Ware auszuladen! Kapierst du? Jetzt herrscht Streit
mit den Fremden, den Levantinern, sie sind unseren Leuten ein Dorn
im auge. Goldene Löfel, mein Sohn, sind die Verträge. Die Blutegel
mit europäischer adresse schlürfen das Blut der Türkei. Sie kommen
aus fernen Ländern und setzen sich auf unsere Brust. Eiterbeulen,
sage ich dir, aussatz, sie sollen verlucht sein! Denk daran, von ihnen
kommt das Übel, nicht von den Türken.«
Barba Jakumis drehte sich eine zigarette, trank mit Behagen seinen
raki, ließ sich von den Dienern noch einen geben. Irgendetwas bedrückte ihn.
»Setz dich, wir wollen sehen, was wird …«, sagte er bedeutungsvoll
zu mir.
»Warum, Barba Jakumis? Gibt’s was?«
»ach, es kommt was auf uns zu, ganz gewiss. Vielleicht sogar …
Blut!«
Er drehte sich um, um zu sehen, ob uns jemand beobachte, und als
er sich vergewissert hatte, zog er mich dicht neben sich, so dicht, dass
mich sein mundgeruch störte.
»Weißt du was?«, sagte er zu mir, und seine trüben augen funkelten. »Heute abend, hier drinnen, besprechen sie große Dinge. Wie
es scheint, erhebt sich Griechenland. Es beschat sich Wafen! Die
Freiheit geht um! Und wenn – mit Gottes Hilfe – die Freiheit zu mutter Griechenland gebracht wird, dann wird unsere hier verhungern.
Begreifst du?«
Die Worte des alten Kutschers sollte ich schnell begreifen. Der Balkankrieg von 1912 wurde erklärt, das Blut der jungen Türken geriet
in Wallung. Efendis, Derwische, Beys – zusammen mit den »muhacirler«, den türkischen Heimkehrern, die aus Griechenland vertrieben hier angekommen waren, kannten sie alle nur eins: das friedliche
Volk zu fanatisieren und gegen uns aufzuwiegeln.
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DIDo SoTIrIoU
Im Krieg von 1912 wurden meine beiden ältesten Brüder Panagos
und michalis von den Türken eingezogen. Doch gelang es michalis zu
desertieren. Er ging nach Griechenland und als Freiwilliger ins griechische Heer. »Er erfüllt eine heilige Plicht«, sagte der Vater. Und die
Popen, die Lehrer und Dorfältesten priesen das als ein Beispiel, das es
wert sei, nachahmer zu inden.
Uralte Sehnsucht nach Befreiung erwachte in den Herzen der Christen in der Türkei. aber die Bewegung der Jungtürken hatte die gleiche Sehnsucht. Wie sie nach Kreta gerufen hatten, so riefen sie jetzt
nach mazedonien: »Bizim makedonya – unser mazedonien!« Dieses
hema elektrisierte uns und sie. »Wach auf, du Tier«, sagten die Jungtürken zu ihrem Volk. aber das Tier ließ sich nicht mit Befehlen aufwecken. morde und Vertreibung von Christen begannen hier und da.
Der Sohn von Seïtanoglu, Timos, kam, ich erinnere mich, um diese
zeit aus mittelanatolien zurück.
»Vater, ich bringe dir schlechte nachrichten«, sagte er. »Die Türken
sind zu ›mülis‹, zu Bankrotteuren geworden. Ihnen liegen eine reihe
agenten in den ohren, Deutsche, Italiener, Franzosen. In Beirut traf
ich den nurimbey, und der gab mir ein Flugblatt, das in mittelanatolien kursiert. Lies es und sieh, was drin steht.«
Der alte setzte mit Bedacht seine goldene Brille auf, die er an einer schwarzen Schnur trug. nach den ersten zeilen verzog er seinen
mund und strich nervös seine Koteletten und seinen kurz geschnittenen Bart. »Wenn wir, die Türken, hungern und leiden, dann sind
die Christenhunde daran schuld, die unseren reichtum und unseren
Handel in ihrer Hand haben«, schrieb das Blatt. »Wie lange wollen
wir uns noch die ausbeutung und die Provokation gefallen lassen?
Boykottiert ihre Produkte. Brecht alle Geschätsverbindungen mit ihnen ab. Weshalb wollt ihr ihre Freundschat? Was für einen zweck
hat es, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen und ihnen mit so viel
ehrlicher Liebe auch noch unseren reichtum anzubieten?!«
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Dies und noch viel mehr dieser art schrieb das Blatt, und der alte
traute seinen augen nicht. Er las und las immer wieder sorgfältig jede
zeile.
»Weißt du, Vater, wer dieses schändliche Schreiben in ganz anatolien in Umlauf gebracht hat?«, sagte Timos.
»Die Jungtürken, wer sonst?«
»Das stimmt nicht. Gib dir keine mühe, es herauszuinden, ich will
es dir sagen. Die Deutsche Palästinensische Bank! Jawohl, die Deutsche Bank von Palästina hat es in Umlauf gesetzt. Verstehst du jetzt?«
Der alte Seïtanoglou schloss seine Fuchsaugen und blieb lange in
nachdenken versunken. als klugem Kaufmann wurde ihm klar, dass
das fremde Kapital hungrig in den unbefriedeten Weinberg der Türkei hineindrängte und jetzt darum kämpte, jede Konkurrenz auszuschalten, um freie Hand zu haben. als er in seinen Gedankengängen
an diesem Punkt angekommen war, wandte er sich an seinen Sohn:
»Ich denke, ich vergrößere meine anlagen bei der Schweizer Bank
und der von Frankreich! Damit wir nicht eines Tages auf der Strecke
bleiben! Gott möge mich Lügen strafen, aber ich fürchte, uns erwarten schlimme Tage. Das ist nicht mehr die Türkei, die wir kannten …«
Es war ein vernüntiges Wort. Doch ein Volk, das gelernt hat, brüderlich neben einem anderen zu leben, braucht starke Dosen an Hass,
bis es seine Gefühle ändert. So die einfachen Türken, die weit weg von
dem Git der Propaganda lebten. Sie verhielten sich uns gegenüber
immer noch recht freundschatlich. Der Handel wurde schwierig, aber
die griechischen Händler, Fabrikbesitzer, Grundbesitzer und Wissenschatler hielten weiterhin das Leben des Handels in ihrer Hand.
Es war noch kein monat vergangen, seit Timos Seïtanoglou aus
mittelanatolien zurückgekehrt war, als sein Vater ihn zu der Seifenfabrik seines kinderlosen onkels schickte, damit er dort die Leitung
übernehme. mich nahm Timos in seine neue Stellung mit, um ihm
zu helfen.
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Eines morgens kam ein Türke ins Büro, ein einfacher mann.
»Ich bin Ismail ağa von Prussa«, sagte er und verbeugte sich langsam, wobei er seine Hand leicht auf das Herz, an den mund und die
Stirn legte. »Wo ist Jorgakis Efendi?«
»In der anderen Welt«, antwortete ihm mein Chef.
»Ist er gestorben? o Gott! Sag mir, wer ist sein nachfolger?«
»Ich, mein Herr. Ich stehe zu euren Diensten.«
»Ich bin gekommen, um zu bezahlen«, sagte der Türke.
»Was willst du bezahlen, Ismail ağa, ich weiß von nichts.«
»Ich habe eine alte Schuld. Erst jetzt habe ich genügend Geld. Versteht bitte, dass ich mich etwas verspätet habe.«
mein Herr ing an zu suchen. Er sah alles sorgfältig durch und sagte
dann:
»mein lieber ağa, du scheinst nichts schuldig zu sein. ofenbar hat
der Verstorbene die Schuld gelöscht.«
»Such gut, Grieche, mach deine augen auf. Habt es nicht so eilig
mit den Worten. Der selige Jorgakis Efendi hatte ordnung in seinen
Büchern. Und das Geld reicht. Irgendwo wirst du schon meine rechnung inden.«
Seïtanoglou suchte wieder, öfnete Dossiers, Bücher, Schubladen –
nichts.
»Lass, mein Herr«, sagte er zu ihm, »lass mich noch in der ablage
nachsehen, wo wir einige alte Kontobücher aubewahren und komm
morgen wieder vorbei, damit wir noch einmal reden.«
am nächsten morgen kam der Türke.
»Hast du etwas gefunden?«, fragte er. »Hier bringe ich dir ein Papier,
damit du es leichter hast.«
»Ich habe deine rechnung gefunden, Herr Ismail. So und so viel bist
du schuldig.«
»aferim, das ist gut!«, sagte der Türke erfreut zu ihm. »Wie du sagst,
so ist es.«
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Er nahm aus seinem Patronengürtel, einem breiten Ledergürtel mit
großen Fächern, ein Baumwollsäckchen, wickelte die Schnur ab, ließ
es ein, zwei Kreise durch die Lut machen, steckte dann seine Hand
hinein, nahm eine Hand voll Pfunde und mecidiye und begann, sie
auf die marmorplatte zu zählen – »Bir, iki …« –, bis die Summe
stimmte, dann zählte er aber weiter.
»Was machst du da?«, wollte der Herr ihn stoppen. »nimm diese
Pfunde zurück, sie sind zu viel.«
»Sie sind nicht zu viel. Das sind die zinsen. Das Geld hat Junge bekommen. Ich war ja mit der zahlung im rückstand. Ich bin weder
unredlich noch undankbar …«
Ismail ağa war keine ausnahme. Die einfachen Leute der Türkei
opferten sich noch für uns auf. Sie brauchten unsere Freundschat
und die zusammenarbeit. Uns, die beiden Völker, hatte ja ein und
dieselbe Erde geboren. Im Inneren unserer Seele hassten wir sie nicht,
aber auch sie hatten keine Hassgefühle gegen uns.
mein Vater war nach Smyrna herunter gekommen und hatte seine
Ernte günstig verkaut. Er hatte die hundertzwanzig türkische Goldpfund sofort in seine Geldbörse gesteckt, da er keine Schulden hatte.
Ich half ihm, alle Vorkehrungen für den Winter zu trefen, von Kleidern bis zu Pfefer und Streichhölzern, damit ihn die Kauleute im
Dorf nicht übers ohr hauen konnten.
So gingen wir, als wir die Einkäufe gemacht hatten, an der mole spazieren. Wir unterhielten uns im Weitergehen, als mir plötzlich eine
Idee kam. Ich ging zur Kasse des Kinos »Pate« und kaute zwei Karten.
»Komm, Vater«, sagte ich zu ihm, »damit du auch ein bisschen Unterhaltung hast.«
»Was ist das?«, fragte er mich. »Ist das womöglich ein heater?«
»Du wirst sehen, du wirst sehen!«
»Halt mein Kind«, sagte er ganz rot vor Scham. »zwanzig Jahre
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komme ich nach Smyrna und ging in kein heater, und nun soll ich
wie ein neuling mit meinem Sohn hingehen!« Ich hatte meine liebe not, ihm klarzumachen, dass die besten Familien mit Frauen und
Kindern ot dorthin gingen. als wir aus der Vorstellung kamen, war
er überwältigt und begeistert.
»Im nächsten Jahr, wenn es uns gut geht, werde ich auch deine mutter mitbringen, damit sie das Wunder sieht«, sagte er.
Dazu kam es nicht. Wie ein axthieb kam die Krankheit und brachte jenen starken Körper zu Fall, der bis zum siebzigsten Jahr nicht
wusste, was Kopfschmerzen sind, der weder einen faulen zahn noch
ein weißes Haar hatte. Sein Tod schmerzte mich, denn von einem gestorbenen Vater bleibt in der Erinnerung des Kindes nur das Gute. In
der letzten zeit hatte der alte axiotis ot sein besseres Ich gezeigt. an
einem Tag, kurz bevor er starb, suchte er sogar seine strenge Haltung
vor uns zu rechtfertigen. Er erzählte uns zum ersten mal, was er als
kleiner Junge alles durch seinen Vater auszustehen hatte, wie er als
Halbwaise auch die Feindseligkeit seiner Stiefmutter zu spüren bekam
und wie sie ihn als achtjährigen Buben in einer Winternacht von zu
Hause wegjagten und er in unbarmherzige Hände iel.
Wir hörten ihm stumm zu, ohne eine Gemütsbewegung zu zeigen,
was viel sagte. Vielleicht las er unsere Gedanken, denn er fuhr fort:
»Ich wollte nicht die Fehler meines Vaters erben. aber es waren so
viele, dass ich sie nicht alle besiegen konnte … Ich rate euch, behaltet
nur meine guten Seiten, die hässlichen lasst mich mit ins Grab nehmen. Liebt Gott und eure mutter, vermeidet Streit mit den Behörden,
mit dem Geld geht vorsichtig um, denn der arme ist ein Spielball für
alle. aber verkaut seinetwegen nicht eure Seele an den Beelzebub.
Unehrenhat war ich nie, das sollt ihr wissen. Über alles setzte ich
immer die Ehre …«
Weil er, vielleicht aus Sorglosigkeit, den Tod nicht so schnell erwartet hatte, überließ er den Hauptteil des Erbes testamentarisch nicht
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seinem ältesten Sohn, wie es in unserem Dorf Brauch war. So machte
mein Bruder Kostas, der sich von uns allen am meisten abgemüht hatte, den Besitz zu vermehren, mit recht Schwierigkeiten. mir schrieb
er, ich solle die großen Träume mit dem Handel aufgeben und zurückkommen, um auf unserem Grund und Boden zu arbeiten. Erst schien
mir die rückkehr ins bäuerliche Leben schwer, dann entschloss ich
mich dazu. Ich suchte nach arbeitsmethoden, die weniger anstrengend waren. Es ärgerte mich, wenn ich hörte: »So haben wir das von
den Vätern übernommen.« Doch die neuerungen fanden nicht den
Beifall meiner Brüder, und Panagos meinte ironisch:
»Die Faulheit bringt seinen Geist auf solche Ideen …«
mit den Geschwistern verhielt es sich so: Wir ertrugen die Trennung nicht, waren wir aber zusammen, so herrschte keine Eintracht
zwischen uns. nur Jorgis war eine ausnahme, die anderen hielten
mich für verrückt und für einen Träumer.
»Er ist ein Wichtigtuer. Der Lehrer Larios und Smyrna mit den
Louloudias und den Seïtanoglus haben ihn verdorben …«, sagten sie.
Ihnen geiel es nicht, dass ich etwas mehr sah als nur unsere Äcker.
Umsonst versuchte ich, ihnen klar zu machen, dass es nichts schade,
wenn jemand als Landwirt auch den Wunsch nach Fortschritt habe.
»Kör mahallesinde aynasatma!« (Versuche nicht, Blinde zum Kauf
eines Spiegels zu überreden), sagte ein weiser türkischer Bettler, in
dessen Gesellschat ich viel Wahres gelernt hatte.
Eines morgens, als alle außer Haus waren, klopte es an die Tür. Ich
öfnete, und vor mir stand ein türkischer Polizist. Ich fragte ihn, was
er wolle, und er antwortete mir, es sei dringend notwendig, dass ich
mich unverzüglich beim oizier im Karakol melde. Ich ging mit ihm.
Ich war besorgt, denn wie könnte man von solch einer Einladung etwas Gutes erwarten? aber sobald ich dem türkischen oizier gegenüberstand, schien er mir ein gütiger mensch zu sein. Er sagte:
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»otur oğlum, setz dich, mein Sohn!«
Ich atmete auf, als ich ihn so freundlich sah.
»Weißt du, warum ich dich rufen ließ?«
»Woher soll ich das wissen, Efendi? Das einzige, was mir klar ist, ist,
dass es nichts Schlechtes ist.«
»Und weshalb denkst du, mein Sohn, dass ich dich nicht wegen etwas Unangenehmem gerufen habe?«
»Ich habe von meinen mitbürgern gehört, Kerim Efendi«, antwortete ich ihm mit viel mut, »dass unser ort noch nie so gute Polizisten
gehabt hat wie unter deiner Leitung.« meine Schmeichelei machte
ihm Freude.
»Ich bin gut, aber auf Seiten der Guten«, antwortete er mir, »ihr, wie
die Dinge zeigen, seid nicht so gut.«
Ich begann unruhig zu werden, aber ich wollte es ihm nicht zeigen.
Ich versuchte mein möglichstes, ihn zu überzeugen, dass er wohl einen Fehler mache, dass wir ruhige Leute seien und dass wir noch nie
etwas mit dem Karakol zu tun gehabt hätten.
»Du hast aber einen Bruder«, antwortete er mir, »der vom türkischen Heer desertiert und nach Griechenland gegangen ist. Von dort
hat er einen Brief geschickt. Was drin steht, weiß ich nicht. Ich sah,
dass die zensur ihn aussortiert hat, und daraus schloss ich, dass etwas
Ungesetzliches darin steht …«
»Efendi«, antwortete ich ihm, meine Worte genau abwägend, »was
können wir dafür, wenn mein Bruder desertiert ist? Jener, der die
Dummheit gemacht hat, ist verantwortlich, nicht wir.«
»Hab keine angst, Ulan, mensch«, entgegnete mir der Türke. »Ich
werde dich nicht wegen des Tuns deines Bruders zur Verantwortung
ziehen, ich führe nur meinen Befehl aus …«
Seine Worte waren beruhigend. aber welcher art war der Befehl,
den er hatte? Vielleicht wollten sie mich festnehmen, um mich nach
Kuşadası zur Vernehmung zu schicken? Vielleicht nahmen sie mich
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in Gewahrsam? Vielleicht das eine, vielleicht das andere. Eine reihe
von Gefahren ging mir durch den Kopf, bis der oizier aus dem nebenzimmer zurückkam und sagte:
»Fünf Groschen Geldstrafe hat die zensur auferlegt. Hast du sie,
oder gehst du und holst sie, damit ich dir den Brief geben kann?«
als die Unterredung diesen Verlauf nahm, wurde mein Herz leicht.
Das also war der Befehl? Ich zog eine halbe matsiti heraus, gab sie
ihm, und als ich den Brief entgegennahm, sagte ich dankbaren Herzens:
»Teşekkür ederim, Efendim – ich danke ihnen, mein Herr.«
Er wollte mir den rest von fünf Groschen herausgeben, ich hielt
ihn davon ab, sagte ihm, er solle einen Kafee auf meine Gesundheit
trinken. Er steckte das Geld ohne Widerspruch in seine Tasche. als
ich zu Hause war und las, was uns michalis in diesem Brief schrieb,
wurde mir klar, dass die Türkei noch nicht aufgewacht war. In allen
Einzelheiten erzählte der Stromer uns, wie er vom türkischen Heer
desertiert und nach Griechenland gekommen war und dass er sich
als Freiwilliger gemeldet und in Ioannina gekämpt hatte, wie viele
Türken sie gefangen genommen hatten und noch verschiedene seiner
Heldentaten.
nach dieser aufregung tauchte etwa sieben bis acht monate später
in einer dunklen nacht mit regen und Blitzen michalis selbst bei uns
auf. Weinen, Erschütterung, Liebkosungen. Er schilderte uns seine
Erlebnisse auf der Fahrt von Samos hierher. als er uns aber sagte, er
sei gekommen, damit wir ihm sein Erbteil in Goldpfund auszahlen
sollten, waren wir alle stumm, starr und sprachlos. nach einiger zeit
sprach Kostas als Ältester:
»Und du hast dir keine Sorgen um dein Leben gemacht, Bruder
michalis, du hast mit ihm, wie man sagt, um Kopf und Kragen gespielt, nur um hierher zu kommen und von uns so unsinnige Dinge
zu verlangen!«
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zuerst versuchte michalis sich zu rechtfertigen. »Das Leben in
Griechenland ist hart. Dort lässt dich die Erde nicht leben, sie frisst
dich. nur Steine und Sümpfe. Ich brauche das Geld, um einen kleinen
nuss- und Trockenobstladen aufzumachen.«
auf ihre Interessen verstanden sich meine Geschwister besser als irgendein anderer, nur im reden waren sie nicht geschickt. also sahen
sie mich an.
»Sprich du«, sagte Kostas.
Und Panagos neigte seinen Kopf, als wolle er sagen: »Los!« Ich
schüttete einen raki hinunter und wählte meine Worte sehr sorgfältig.
»Hör zu, michalis«, sagte ich, »wir sind keine Bank, dass wir Geld
bereit haben, um dich auszuzahlen. noch ist es uns möglich, deinen
anteil schnell zu verkaufen, aber damit würden wir dich und unseren Besitz zugrunde richten. Da du nun schon mit deinem Leben
gespielt hast und bis hierher gekommen bist, werden wir zusehen
– wenn die anderen damit einverstanden sind –, eine kleine anleihe aufzunehmen, damit du nicht mit leeren Händen und verbittert
weggehst.«
Wegen der Summe entbrannte ein Streit zwischen den Dreien.
michalis verlangte fünfzig Pfund, die anderen wollten ihm zehn geben und die zinsen zu seinen Lasten. Um ein Haar hätten die Fäuste
gesprochen.
»ruhig Blut!«, rief ich. »Was zankt ihr euch, als hättet ihr die Güter
meines Herrn Seïtanoglou zu verteilen. Dämpt eure Stimmen, damit
die nachbarn nichts hören und sich entsetzen.«
»Sie schreien, damit die Gendarmen es hören, kommen und mich
zugrunde richten und ihnen mein Teil bleibt«, sagte michalis.
Die anderen grifen nach den Stühlen:
»Du mistkerl, du …«
Es gelang mir, sie zurückzuhalten.
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Ende der Leseprobe von:
Lebewohl, Anatolien - Edition Romiosini/Belletristik
Dido Sotiriou
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