Titel Als vor 25 Jahren die DDR der Bundesrepublik beitrat, hieß das auch für die ostdeutsche Chorlandschaft massive Umgestaltung. Heute sind die Herausforderungen gesamtdeutsch. Ein Rückblick Bau auf, bau auf 13 Chor zei t~ OKT 2 015 Foto: Helmut Steffens, Musikland DDR, 1977 Der Rundfunk-Jugendchor Wernigerode, gegründet 1951 von Friedrich Krell, hier in den 1970ern, überzeugt noch immer mit vokalen Höchstleistungen Von Nora-Henriette Friedel B ei keinem Festakt fehlten die Chöre», schrieb Andreas Bomba 1990 rückblickend auf die Feierlichkeiten zum 3. Oktober: «Beethovens Neunte im Berliner Schauspielhaus vereinigte Berliner Ensembles mit dem Leipziger Rundfunkchor, der anderntags in der Philharmonie gemeinsam mit der Gächinger Kantorei sang. Und die ARD brachte das Kunststück fertig, mitten aus den Freudenklängen Beethovens hinüber auf den Brocken zu schalten, wo der Rundfunk-Jugendchor Wernigerode unter der Leitung Gotthilf Fischers Volkslieder sang. Die vereinigte Breite des Möglichen – eindrucksvoller, ernüchternder ist sie nicht zu beschreiben», urteilte der Autor, Kritiker, Juror und heutige Intendant der Bachwoche Ansbach damals. Seither ist viel passiert – nicht zuletzt, dass das deutsche Volkslied viel von seiner heimattümelnden Angestaubtheit verloren hat. Euphorie und Wiedervereinigungspathos haben sich nach all den Jahren weitgehend gelegt, das Alltagsgeschäft hält Chöre und ihre InteressenvertreterInnen diesseits und jenseits der ehemaligen Grenze auf Trab. «Die deutsche Teilung spielt bei uns keine Rolle mehr», sagt Klaus Kubelka, Präsident des Chorverbands Thüringen, «wir sind angekommen!» Die Herausforderungen, die ihn und seine Mitstreiter beschäftigen – Nachwuchsgewinnung, ChorleiterInnenausbildung und das Sterben althergebrachter Chöre –, sind gesamtdeutscher Natur, glaubt Thomas Lohse vom Säch- vor allem gemeinschaftsbildende und erzieherische Werte im Vordergrund.» Künstlerische Qualität und ideologische Wirksamkeit gingen selten die von oben gewünschte Synthese ein, so FÖRDERUNG UND IDEOLOGISCHE Feurich, in jedem Fall brachte das System der kulturpolitiVEREINNAHMUNG VON CHORMUSIK schen Kontrolle Spitzenchöre wie die Hallenser Madriga«In meiner Erinnerung an die Vorgänge in der Chorsze- listen oder den Rundfunk-Jugendchor Wernigerode herne Ostdeutschlands vor und nach der Wiedervereinigung vor, die nach wie vor auf Bundeswettbewerben brillieren. dominiert Zwiespältigkeit», sagt Christoph Berger, Chor- Neben den Thomanern und Kruzianern, die ohnehin als leiter aus Gera, der 1990 den Thüringer Sängerbund mitbe- internationale Aushängeschilder fungierten, konnten vergründete und 23 Jahre lang dessen Präsident war. Der hohe einzelt auch in der kirchenmusikalischen Nische Chöre Stellenwert des Chorsingens in der DDR -Kulturpolitik groß werden und im staatlichen Plattenstudio Aufnahmen ging mit «massiver Unterstützung und großartiger Förde- machen wie der Rostocker Motettenchor. Und trotz des rung» der Chorarbeit einher, sagt er. Eigenständige Chor- allumfassenden staatlichen Anspruchs blieb das Singen verbände gab es nicht, statt in Vereinen waren Chöre als für die Mehrheit einfach unpolitische Freizeitaktivität. Mit den staatlichen Strukturen war nach 1990 für die «Volkskunstgruppen» von Betrieben oder Gewerkschaften organisiert, an Kulturhäusern und Schulen. Hauptamtli- meisten Chöre auch die finanzielle Basis weggebrochen: che Chorleiterstellen, auch von Singakademien und Phil- Chorleiterstellen, Proben- und Konzerträume fielen weg, harmonischen Chören, wurden staatlich finanziert. «Die Betriebe wurden abgewickelt oder hatten andere Sorgen Zentrale Arbeitsgemeinschaft Chor der DDR », berichtet als die Kulturarbeit. «Es ging also um die Erhaltung mögBerger, «hat jährlich in Berlin das ganz hervorragende lichst vieler Chöre», erinnert sich Christoph Berger. «Klar ‹Zentrale Chorleiterseminar der DDR › organisiert und war, dass wir dazu Chorverbände ähnlich wie in der bisheviele Chorleiterweiter- und -ausbildungen.» Viele Chöre rigen Bundesrepublik brauchen.» Zur Debatte stand auch wurden gegründet und die sogenannte Chorbewegung ein Chordachverband für die ganze ehemalige DDR , von entwickelte sich zum mitglieBerger aber abgelehnt, weil er derstärksten Zweig breitenkulein Wiedererstarken der alten turellen Lebens in der DDR . ideologisch gefärbten Struktur fürchtete. «Die Kehrseite war die ideoDer gesamte Unterbau für logische Vereinnahmung durch Chorarbeit war neu zu organiPartei, Staat, FDJ , GewerkschafChristoph Berger, Ehrenpräsident des Chorverbands Thüringen sieren, in Sachen Vereinsrecht ten und so weiter», sagt Chrisund Gemeinnützigkeit, Förtoph Berger. «Immer wieder derrichtlinien und -quellen wurden ‹Jubelszenen› für die SED gebraucht. Ideologisch ‹richtige› Kompositionen sowie GEMA -Meldungen herrschte Aufklärungsbedarf. wurden in Auftrag gegeben, gedruckt und aufgeführt. Hierbei wurden die sich neu gründenden östlichen LanVor allem in den 50 er und 60 er Jahren kam es zu hefti- deschorverbände von Partnern aus der alten BRD untergen Auseinandersetzungen, zum Beispiel darüber, ob ein stützt. «Wir haben eng mit unseren niedersächsischen Schulchor auch nur in der Probe Mozarts ‹Ave verum› sin- Geburtshelfern zusammengearbeitet», sagt Rainer Kruse, gen darf – bei Strafe der Degradierung des hervorragenden Vize-Präsident des Chorverbands Sachsen-Anhalt. Mit Musiklehrers von einer dem Gymnasium entsprechenden dem benachbarten Chorverband Niedersachsen-Bremen Schule an eine Dorfgrundschule.» veranstaltet man noch heute regelmäßige gemeinsame «In der ohnehin instrumentalisierten Kulturland- Chortreffen in den ehemaligen Grenzregionen Harz schaft hatte der Chorgesang eine Sonderstellung», sagt und Altmark. Der Thüringer Sängerbund erhielt vom Julia Feurich. Die Musikhistorikerin erforscht in ihrer befreundeten Pfälzischen Sängerbund materielle und inDoktorarbeit das wissenschaftlich bisher noch nicht haltliche Hilfe. Gemeinsam organisierte man ein Projekt, aufgearbeitete Chorwesen der DDR . «Insbesondere die um Chorliteratur aus der DDR , zum Beispiel von Rainer Vokalmusik zählt durch ihre Verbindung von Musik und Lischka, vorzustellen. Christoph Berger vermisste bei aller Wort zu den massenwirksamsten Künsten», sagt Feurich, Dankbarkeit für Anschubfinanzhilfe aber die Initiative «neben der Vermittlung von Hochkultur im Sinne einer des damaligen Deutschen Sängerbunds für eine echte inmusikalischen und ästhetischen Allgemeinbildung insbe- haltliche Auseinandersetzung mit der Chorliteratur und sondere der sogenannten <Arbeiterklasse> standen somit Chorszene der ehemaligen DDR auf Bundesebene. Titel sischen Chorverband. Nach Jahrzehnten der Teilung ist das nicht selbstverständlich, waren doch die Startbedingungen vor 25 Jahren denkbar verschieden. «Rückblickend dominiert Zwiespältigkeit.» «Dass nach der Wiedervereinigung in einigen Ostlan- Mittel sind begrenzt und ChorleiterInnen rar. All diese desverbänden Musiker an der Spitze standen, hätte ich Baustellen stellen die Chorlandschaft auch künftig vor Heauch im Westen für überlegenswert gehalten», sagt Mo- rausforderungen, denen nur gemeinsam mit anderen Aknika Brocks, seit fast 30 Jahren beim Schwäbischen Chor- teuren des Musiklebens wie Landesmusikräten, Kirchen verband tätig. «Vielleicht wäre es fruchtbar, Organisation oder Schulen begegnet werden kann, ist man sich einig. Doch erst einmal wird am 3 . Oktober gefeiert. Dutund musikalische Inhalte auf personeller Ebene nicht zu trennen. Schließlich sind wir ein Musikverband.» Nach- zende Chöre haben Programme hierfür einstudiert, so dem anfangs Know-how und auch mal finanzielle Hilfe auch der Deutsche Jugendkammerchor für die offiziellen von Schwaben ins Partnerland Sachsen geflossen war, Festivitäten vorm Reichstag: eine eigens komponierte wünscht sich Brocks künftig wieder mehr Austausch. A-cappella-Motette, in der die Dirigentin Kerstin Behnke 18 Lieder, die in Ost und West gesungen wurden, zitiert. NEUES LERNEN AUF BEIDEN SEITEN Neben Volksliedern finden sich darin zahlreiche IN DEN NEUNZIGER JAHREN «DDR -Lieder» wie die «Kinderhymne» von Brecht/Eisler An spannende Austauschmomente in den 1990 ern wäh- oder Schostakowitschs «Für den Frieden der Welt». «Nach rend seines Studiums in Hannover erinnert sich Harald 1945 wurde das Singen im Osten schnell wieder politisch Braun, gebürtiger Niedersachse und Universitätsmusikdi- genutzt, um ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen», sagt rektor in Greifswald: «Es gab so viel neuen Input, als erst- Behnke, «während es im Westen kritisch betrachtet wurmalig Dozenten der Hochschulen in Leipzig und Dresden de.» Mittlerweile beobachte sie ein zunehmend gesündezu uns kamen.» Heute ist der Präsident des Chorverbands res, entspannteres Verhältnis der Deutschen zum Singen. Mecklenburg-Vorpommern stolz, dass es seit vier Jahren Haben die Mitglieder des Deutschen Jugendkameinen Landesjugendchor im Verband gibt, der im dünnbe- merchors, zwischen 16 und 27 Jahre alt, eigentlich noch siedelten Flächenland nur 108 Mitgliedschöre zählt. Vor einen Bezug zu dem, was sie da singen? Die Hessin und der Aufbauarbeit seines Vorvorgängers Gerhard Faatz, bis Vorsitzende der Deutschen Chorjugend Flannery Ryan, zur Wende Vorsitzender der Rostocker Bezirksarbeitsge- geboren kurz nach dem Mauerfall, kennt immerhin das meinschaft Chor, hat er großen Respekt: «Als ehemaliger zitierte DDR -Kinderlied «Unsre Heimat», denn die Vocal Leiter des Kulturhauses der Rostocker Volkswerft hat er Band Medlz aus Dresden hat es wiederum in eigener Fasden Verband in der Wendezeit gegründet und über Jahre sung im Repertoire. Das Ost-West-Thema beschäftigt geprägt und entwickelt, finanziell wie personell.» Ryan anders: «Spaltungen verlaufen heute leider mehr Noch immer ist mancherorts in den östlichen Ländern zwischen unterschiedlichen Kulturen als zwischen Ost die verbandliche Organisationsquote von Chören nicht so und West», findet sie und denkt über neue Grenzen nach, hoch wie in den westlichen Ländern, besonders auch bei die gerade in Europa errichtet werden. Die Zukunft bleibt Kinder- und Jugendchören. In ländlichen Regionen mit spannend, der Blick zurück ist es nicht minder. starker Abwanderung haben es Chöre nicht leicht, ihre Die Autorin ist Redakteurin der Chorzeit. 15 Chor zei t~ O KT 2015 Singt am 3. Oktober die «Motette zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit»: der Deutsche Jugendkammerchor Foto: Friederike Schmid C h or ze i t~ O KT 2015 14 Titel
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