N° 12 – 2015 | EXCELLENCE Das Magazin für Geist, Geld & Gesellschaft Deutsche Asset & Wealth Management »Es gibt nichts Besseres, als zu siegen« N° 12 – 2 015 Das Magazin für Geist, Geld & Gesellschaft BERNHARD LANGER über Excellence im Sport Deutsche Asset & Wealth Management W E RT E / N ° 12 – 2015 INHALT Excellence N° 12 – 2015 Geist Geld Gesellschaft WERTE Regional 6/ MENSCHEN ÜBER EXCELLENCE 20 / MAKE IN INDIA 10 / WEG IN DIE ZUKUNFT 36 – 50 / Wie Premierminister Narendra Modi das riesige Land in die Zukunft führt. WERTE-Reportage aus Gurgaon, dem Zentrum der aufstrebenden indischen Mittelschicht. Von Alexander Gerst und Kevin Fehling bis Philipp Klais, Ingmar Hoerr und Umasan. 24 / »JAMMER NICHT RUM, FANG EINFACH AN« WERTE-Gespräch mit dem Werber Guido Heffels über den Erfolgsfaktor Excellence und den Wert der Werbung. 26 / ZEIT FÜR EXCELLENCE Wie sich die Hamburger ZEIT-Stiftung für Bildung, Kultur und mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft einsetzt. Was haben Manuel Neuer und Pascal Schmidt gemein? 30 / »GEMEINSAM STARK« WERTE-Gespräch mit Familie Riegel über seltene Krankheiten, Zusammenhalt in der Not und gemeinsames Glück. Die Antwort lesen Sie auf Seite 70 56 / »ES GIBT NICHTS BESSERES, ALS ZU SIEGEN« WERTE-Gespräch mit Bernhard Langer über Excellence im Golfsport, Demut, Erfolg und wahre Vorbilder. 23 / SPRUNG NACH VORN Elke Speidel-Walz, Chief Economist Emerging Markets, über Reformerfolge und Chancen für Investoren in Indien. 34 / STRATEGIEN & MÄRKTE Asoka Wöhrmann, Chief Investment Officer Deutsche Asset & Wealth Management, über den Wettstreit der Giganten China und Indien. 52 / DIGITALE SICHERHEIT Gefahren durch Hackerangriffe, wirtschaftliche Folgen und wie man sich gegen Cyberspionage wappnen kann. 74 / GOLDENES HANDWERK Die internationale Erfolgsgeschichte der Pforzheimer Schmuckfamilie Scheufele. 78 / GROSSE ERGEBNISSE BEI GERINGEM RISIKO Klaus Kaldemorgen, Fondsmanager des Jahres, über Excellence und klare Worte in der Fondsanlage. 4 Foto: Stefan von Stengel für Golf Magazin (Titel); Paul Ripke 62 / KOLLEGE ROBOTER Die nächste Stufe der menschlichen Evolution – wie Rechner und Roboter unser Leben verändern werden. 68 / SIEGESZUG DER INFONAUTEN Acht Menschen der digitalen Elite im Porträt und der wachsende Erfolg von »Influencer Marketing«. 70 / DIE FUSSBALL-ELITE VON MORGEN »Eine Gegend wie ein fester Händedruck« Ostwestfalen-Lippe gilt als europäisches ExcellenceCluster, ist Weltspitze bei Maschinenbau und »Industrie 4.0«. Und zwischen Bielefeld, Gütersloh, Paderborn, Münster und Osnabrück gibt es kaum eine Branche, die nicht mit mindestens einem Hidden Champion glänzen kann. WERTE präsentiert Menschen, Institutionen und Unternehmen, die die Region auszeichnen. Ein vierseitiger Excellence-Folder zeigt die wirtschaftliche Kraft und Vielfalt der ländlichen Region. WERTE-Reportage aus einer Eliteschule des Sports – wie Bildung und Engagement Excellence im Fußball fördern. 80 / EXCELLENCE BEI DER DEUTSCHEN BANK Euromoney 2015, Digitalisierung, Sport-Stipendien – fünf Beispiele für Excellence bei der Deutschen Bank. WERTE NO 12 Bernhard Langer, Deutschlands erfolgreichster Golfspieler aller Zeiten, bei der European Seniors Tour 2014 in Vorbeck. Das Werte-Gespräch mit ihm lesen Sie ab Seite 56. 5 W E R T E / N ° 112 2 – 22015 015 500 MIO. Neu-Delhi Gurgaon INDIEN Die Mittelschicht in Indien wächst rasant – auf 500 Millionen Menschen bis 2025. Die Konsumausgaben sollen sich bis dahin mehr als verdreifachen. Die Boston Consulting Group prognostiziert einen Anstieg auf rund 3,6 Billionen US-Dollar. Beliebt bei der aufstrebenden Mittelschicht ist Gurgaon im Speckgürtel Neu-Delhis. Architektur und Infrastruktur künden hier vom Weg Indiens in die Zukunft. MODERN TIMES Indiens Weg in die Zukunft 10 L ÄNDERREPORT ESSAY / RUBRI/K IXXX NDI EN TEXT MICHAEL RADUNSKI FOTOS FLORIAN LANG Gurgaon steht beispielhaft für das aufstrebende Indien. Die Stadt wächst rasant, ist innovativ, weltoffen und Zentrum der neuen wohlhabenden Mittelschicht. 11 W E RT E / N ° 12 – 2015 L ÄNDERREPORT / IND IE N W Biergarten Manager Sameer (links) und Braumeister Praveen bieten in der 7 Degrees Brewery auf 12 500 Quadratmetern deutsche Bier- und Wurstspezialitäten. Treffpunkt Zur Mittagszeit wird die Privatbrauerei zum Ziel der IT-Manager aus den umliegenden Bürotürmen. Tradition und Moderne Im Park der Luxusanlage Garden City treffen sich die Bewohnerinnen zum gemeinschaftlichen Yoga. 12 — »Was wir hier sehen, ist die Zukunft Indiens«, sagt Michael Wekezer. Der Nürnberger Wirtschaftsberater sitzt in seinem Büro im 12. Stock der Cyber City und blickt über Gurgaon. »Millennium City« wird sie von vielen Indern genannt. Gurgaon gilt als Symbol für das moderne Indien. Wekezer kann das durchaus nachvollziehen. »Wir haben hier einfach alles.« Riesige Einkaufszentren mit internationalen Topmarken wie Chanel oder Louis Vuitton. Sieben saftig-grüne Golfanlagen schlängeln sich durch den staubigen Sandboden der Stadt, die unzähligen Luxuswohnviertel tragen Namen wie Hamilton Court, Garden City oder Nirvana. Hier hat die indische Oberund Mittelschicht ihr neues Domizil gefunden. Dazwischen ragen die Glasfassaden der Bürotürme in den indischen Himmel. Es gibt kaum ein internationales Unternehmen von Rang und Namen, das sich noch nicht in Gurgaon niedergelassen hat, sei es Google, Microsoft, Dell, IBM, Nokia, KPMG oder PricewaterhouseCoopers. Und neben den deutschen Konzernen SAP und Siemens haben hier auch etliche Mittelständler Gurgaon als ihren »place to be« ausgemacht. In den 1980er Jahren war Gurgaon nur ein Dorf vor den Toren Neu-Delhis. 32 Kilometer liegen zwischen den beiden Orten – damals waren es Welten. Auf der einen Seite die Hauptstadt der größten Demokratie der Welt, mehr als 1400 Quadratkilometer groß. Schon damals lebten in der indischen Metropole rund sechs Millionen Menschen. Politiker und Beamte lenkten in den riesigen Ministerien die Geschicke des Landes, im von den britischen Kolonialherren erbauten Shashtri Bhawan residierte der indische Präsident. »Gurgaon war der rückständigste Ort im ganzen Bundesstaat Haryana«, erzählt Vikas Gupta. Damals lebten hier fast ausschließlich Bauern, die auf ihren kargen Feldern Senf, Weizen und Kartoffeln anbauten. Das nächste moderne Gebäude war gut 16 Kilometer entfernt: der Indira Gandhi International Airport. Vikas Gupta ist seit vier Monaten als Commissioner Municipal Corporation Gurgaon für die städtische Entwicklung der Stadt verantwortlich. Der 39 Jahre alte Beamte sitzt an seinem Schreibtisch, vor ihm liegt ausgebreitet eine Karte von Gurgaon. »Hier überall, wo nun Einkaufszentren, Golfplätze und Apartments stehen, war nichts. Nur Felder und ein paar Häuser.« Doch dann setzte etwas ein, das der Wirtschaftsberater Wekezer als »Explosion« bezeichnet und Gupta als »Entwick- 13 XXxxxxxxxx Ut voluptum accatis etur sam, quam, qui consequis et ut utatur moluptu rehente W E RT E / N ° 12 – 2015 ESSAY / RUBRI K XXX Fitness Avenue Einmal in der Woche gehören die Straßen der Stadt den Menschen. Einkaufserlebnis Ein Verkäufer präsentiert sein riesiges Angebot an Seidenstoffen für maßgeschneiderte Sari. »Prognosen und Erwartungen werden hier immer weit früher erreicht – und noch übertroffen.« VIKAS GUPTA, Municipal Corporation Gurgaon 14 lung revolutionären Ausmaßes« umschreibt: Aus rückständigem Ackerland wurde eine glitzernde Metropole für mehr als 1,5 Millionen Menschen. Einer Studie der Wirtschaftsberatung McKinsey zufolge weist Gurgaon das höchste Pro-KopfEinkommen Indiens aus. »Wir alle sind von der Entwicklung überwältigt«, sagt Vikas Gupta. »Alle Prognosen und Erwartungen werden hier immer weit früher erreicht und meist noch übertroffen.« Und ein Ende scheint nicht in Sicht. »Only the sky is the limit« – nur der Himmel kann dem Fortschritt Gurgaons Grenzen setzen. »Die Entwicklung der Stadt belegt Indiens Fähigkeit, etwas Außergewöhnliches auf die Beine zu stellen«, sagt Wekezer. Der Wirtschaftsberater lebt seit zwei Jahren in Indien, vor knapp einem Jahr hat er ein Büro in der Cyber City Gurgaons bezogen. Schaut er aus den riesigen Fenstern, blickt er auf »das moderne Indien«. Fast lautlos schweben die Waggons der »Rapid MetroRail Gurgaon« auf der knapp fünf Kilometer langen Strecke und verbinden die wohlhabenden Bezirke Gurgaons miteinander. Der Bau kostete knapp 11 Milliarden Rupien (etwa 170 Millionen Dollar) und ist Indiens erste vollkommen privat finanzierte Metrolinie. Selbst die Namen der sechs Stationen wurden versteigert, und so pendeln täglich 32 000 Geschäftsleute zwischen den »Vodafone Belvedere Towers« und der »IndusInd Bank Cyber City«. Direkt hinter der Station befindet sich das Indiens größtes Einkaufszentrum mit 300 Geschäften und Restaurants, die mit internationalen Delikatessen locken. Bis vor kurzem konnte man im Burger-Laden »Johnny Rockets« sogar Büffelfleisch essen. Doch das hat die Regierung inzwischen per Gesetz untersagt. Man misstraute der Deklarierung – und Kühe sind für gläubige Hindus noch immer heilig. Vor allem Ausländer und die indische Ober- und Mittelschicht finden an Einrichtungen wie der Ambience Mall Gefallen. Allein im vergangenen Jahr kamen 14 Millionen Besucher. »Es ist nicht nur ein Ort zum Einkaufen«, sagt Geschäftsführer Vijav Aima. »Wir wollen, dass die Menschen hier ihre Freizeit verbringen.« Entsprechend vielfältig ist das Angebot in der mehr als 80 000 Quadratmeter großen Mall: Im Spa kann man sich ayurvedisch massieren lassen, im PVR die neuesten Kinofilme anschauen, bei BMW sich ein neues Auto kaufen, während die Kinder auf einem klimatisierten Spielplatz toben. Wem das alles nicht reicht, der kann bei Außentemperaturen von knapp unter 50 Grad im Sommer im sechsten Stock auf Indiens erster Eislaufbahn Schlittschuh fahren – allerdings erst nach zehn Uhr, da hier zuvor die indische Eishockeynationalmannschaft trainiert. »Viele verbringen ihr gesamtes Wochenende bei uns«, freut sich Vijav Aima. »Familien kommen mit Großeltern und Kindern, um sich hier verwöhnen zu lassen. Einige putzen sich eigens dafür heraus, ziehen teure Kleider an, die sie sonst nicht tragen.« Auch Michael Wekezer ist begeistert. »Ich mag Indien. Aber wenn ich genug habe von Lärm, Stromausfällen und defekten Wasserleitungen, fahre ich in die Ambience Mall. Für uns Europäer herrscht dort ein Stück Normalität.« Neha Yadav liebt italiensche Mode und ihr iPhone. Die PR-Beraterin bringt indische Stars und westliche Marken zusammen. 15 W E RT E / N ° 12 – 2015 ESSAY / RUBRI K XXX Elektroautos stehen Besuchern für den einen Kilometer langen Weg durch die Konsumlandschaft zur Verfügung. Pizza wie in Italien – Student Mithun jongliert mit dem Teig und finanziert sich damit privaten Schauspielunterricht. 14 Millionen Besucher strömen jedes Jahr durch Indiens größtes Einkaufszentrum. 46 000 Quadratmeter nimmt hier allein der »Food Court« ein. Disco on Ice im sechsten Stock. Auf Indiens erster Eislaufbahn trainiert auch die Eishockeynationalmannschaft. Ausflug in die Ambience Mall. Familien verbringen ganze Tage hier, shoppen im Designeroutlet für Kinder, essen, spielen. 16 17 W E RT E / N ° 12 – 2015 Sichere Wohnviertel Praneeta Rajput bringt ihren vierjährigen Sohn zur Schule. Vater Nitendra gibt ihm abends Unterricht an der E-Gitarre. »Fließend Wasser, Strom rund um die Uhr und Sicherheit machen Gurgaon lebenswert.« NITENDRA RAJPUT, IBM-Manager 18 Sechs Kilometer von der Ambience Mall entfernt befindet sich der Hamilton Court, eine Luxuswohnanlage aus sechs Blöcken, je 25 Stockwerke hoch. Hier wohnt Nitendra Rajput mit seiner Frau Praneeta und dem vierjährigen Samvit. Davor lebte die Familie in Neu-Delhi, wo Nitendra als Manager bei IBM arbeitet. In Gurgaon ist es ruhiger und sicherer, die Wohnungen sind größer, die Mieten niedriger, sagt Nitendra. Mit seinen 4200 Quadratmetern Fläche zählt der Hamilton Court zu den kleineren Wohnsiedlungen Gurgaons. Dennoch lässt das Angebot, das Nitendra und seiner Familie zur Verfügung steht, kaum Wünsche offen: Es gibt Basketball- und Tennisplätze, Badmintonfelder, eine Bücherei, ein Schwimmbad und vieles mehr. Wenn Nitendra abends nach Hause kommt, schaut er seinem Sohn beim Tennisunterricht zu, dann folgt Posaunenunterricht, bevor Samvit – ganz indisch – noch ein paar Bälle Cricket schlägt. Doch spricht man Nitendra auf die Vorzüge der Wohnkolonie an, nennt er noch andere Aspekte: fließend warmes Wasser, 24 Stunden Strom, eine regelmäßige Müllabfuhr und Sicherheitspersonal, das am Eingang kontrolliert, wer den Hamilton Court betreten möchte. Gurgaon ist zum Anziehungspunkt für Indiens Ober- und Mittelschicht geworden. Sie arbeitet in den verglasten Bürotürmen internationaler Konzerne, wohnt in Luxussiedlungen und amüsiert sich in vollklimatisierten Vergnügungspalästen. Sie verfügt über das nötige Kleingeld, um öffentliche Dienstleistungen privat organisieren zu lassen. Wann immer man aber die Einkaufszentren oder Wohnviertel verlässt, treten L ÄNDERREPORT / I NDI EN Gurgaons Probleme zutage: Schlaglöcher durchfressen öffentliche Straßen, Gehwege gibt es nur selten, am Rand türmen sich leere Plastikflaschen, Tüten und sonstiger Müll. »Alles, was von privater Hand organisiert wird, funktioniert. Was hingegen öffentlich bereitgestellt werden sollte, ist in einem katastrophalen Zustand«, klagt Latika Thukral. Die 49 Jahre alte Inderin lebt seit 18 Jahren in Gurgaon und ist schockiert vom Zustand mancher Straßenzüge. »Wir müssen uns selbst einbringen und Lösungen suchen.« Als Managerin reiste sie früher oft ins Ausland. »Wenn ich dann zurück nach Indien gekommen bin, habe ich mich gefragt, warum wir das nicht auch hinbekommen.« Bis zu jenem Tag im Jahr 2009, als sie sich entschloss, eine zweite Karriere zu starten: Sie kündigte ihren gutbezahlten Job und gründete »I am Gurgaon«, die erste Bürgerinitiative der Stadt. »Gurgaons Entwicklung vollzieht sich rasant. Entweder wir engagieren uns, oder das Land und die Chancen sind weg.« Dank Latika Thukral und ihren Mitstreitern gibt es nun jeden Sonntag in Gurgaon ein »Raahgiri« – einige Straßenzüge werden dann komplett für den Verkehr gesperrt, und bis zu 10 000 Menschen nutzen den neuen Freiraum: Sie fahren Fahrrad, gehen spazieren, joggen, spielen Badminton, breiten Yogamatten auf dem Boden aus oder bemalen mit bunten Farben den grauen Asphalt. »In dieser Zeit holen wir uns die Straßen zurück«, sagt Thukral. Darüber hinaus plant sie zurzeit einen Park mit heimischen Pflanzen und Bäumen. »Es soll ein Platz zum Entspannen werden.« Gurgaon benötige dringend Initiativen wie »I am Gurgaon«, bestätigt Peter Hilliges. Aus Sicht des Direktors der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau in Indien besteht die Stadt aus vielen privat organisierten Inseln. Der öffentliche Raum dazwischen sei teilweise in schlechtem Zustand. Einige nennen die Stadt deshalb schon spöttisch »United States of Gurgaon«. Was in Amerika einzelne Bundesstaaten betrifft, sind in Gurgaon Geschäftsbezirke oder Wohnkolonien. »Trotzdem ist Gurgaon für die Urbanisierung Indiens sehr wichtig«, sagt Hilliges. Indiens Millionenstädte wie Neu-Delhi, Bangalore oder Mumbai seien inzwischen mit den Anforderungen einer modernen Großstadt vollkommen überfordert, weiß der Experte. Satellitenstädte wie Gurgaon könnten aus Sicht des KfW-Direktors die Lösung sein. »Allerdings braucht es dafür eine gezielte Städteplanung und deren Umsetzung.« Die Gründung der Municipal Corporation Gurgaon sei ein erster Schritt in diese Richtung gewesen. Nun müsse man die entwickelten Konzepte auch umsetzen, um drängende Probleme beim öffentlichen Nahverkehr, bei der Stromversorgung, der Abwasserwirtschaft und der Müllentsorgung zu lösen. Ansonsten hat Hilliges eine Befürchtung: Wenn jeder Sektor und jeder Privatanbieter in Gurgaon eigene Lösungen entwickle, führe das zwangsläufig zu einer Spaltung der Gesellschaft in eine Gruppe derer, die sich private Dienste leisten können, und in diejenigen, die vor den Shoppingmalls und Wohnkolonien betteln müssen. Auch hier bietet Gurgaon einen Blick auf Indiens Weg in die Zukunft. Zukunft im Blick Wirtschaftsberater Michael Wekezer schwärmt von Gurgaons Fortschritt, mahnt aber auch zur Vorsicht. Heilige Kühe Tiere im Straßenbild zeugen davon, dass die Millionenstadt Gurgaon vor kurzem noch ein rückständiges Dorf war. 19 W E R T E / N ° 12 – 2015 LÄ NDERREPORT / I NDI EN 16,1 Mrd. sind jünger als 35 Jahre. Mehr als eine Million Menschen drängen jeden Monat neu auf den Arbeitsmarkt. Sie wollen Arbeit, Sicherheit und die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Gelingt dies nicht, könnte Indiens junge Bevölkerung mit der hochgelobten »demographischen Dividende« schnell zum demographischen Sprengsatz werden. Das bilaterale Handelsvolumen zwischen Deutschland und Indien betrug in den Jahren 2013/14 ca. 16,1 Milliarden Euro. 28 000 7,2 % Bosch erwirtschaftet in Indien mit seinen etwa 28 000 Mitarbeitern einen Umsatz von 1,2 Milliarden Euro. Der Internationale Währungsfonds erwartet für Indien 2015 ein Wachstum von 7,2 Prozent. Make in India Unter diesem Slogan führ t Premier minister Narendra Modi Indien in die Zukunft. TEXT MICHAEL RADUNSKI — Christine Lagarde ist bekannt für ihre klaren Worte, sei es gegenüber den Vereinigten Staaten oder jüngst gegenüber dem europäischen Krisenstaat Griechenland. Als die Chefin des Internationalen Währungsfonds Mitte März nach Indien reiste, war man also auf harsche Kritik gefasst. Schließlich liegt das Land im aktuellen Weltbank-Ranking zur Unternehmerfreundlichkeit von Staaten derzeit auf Platz 142 von 189 Ländern – und damit noch hinter Sierra Leone oder dem Jemen und nur knapp vor dem Gazastreifen. Gut 50 Plätze weiter vorne rangiert China, Deutschland steht auf Rang 13. Beim Durchsetzen von Verträgen landet Indien sogar nur auf Platz 186 – ein Unternehmer braucht im Schnitt 27 Tage, um in Delhi ein Geschäft zu eröffnen; im Stadtstaat Singapur gelingt dies in nur zweieinhalb Tagen. — Doch Lagardes Rede in Delhi fiel anders aus: »Indien ist der Silberstreif am düsteren Horizont der globalen Wirtschaftssituation«, sagte die IWF-Chefin. Die Wirtschaft des Subkontinents könne im laufenden Jahr um 7,2 Prozent wachsen – und damit den großen Rivalen China überholen. Die internationale Agentur Fitch Ratings sieht das ähnlich. »Indien ist das einzige BRIC-Land, in dem sich das Wachstum derart beschleunigen wird, bis zu acht Prozent im Fiskaljahr 2016 und 8,3 Prozent im Fiskaljahr 2017«, heißt es im aktuellen Bericht »Global Economic Outlook«. — Es sind Prognosen, Wetten auf die Zukunft. Doch um diese einlösen zu können, muss die indische Regierung eine wahre Mammutaufgabe erledigen: das Steuersystem vereinfachen, die ausufernde Bürokratie abbauen, Korruption bekämpfen und die teils katastrophale Infrastruktur verbessern. 20 — Für all das ruhen die Hoffnungen auf einem Mann: Narendra Modi. Vor gut einem Jahr wurde der Spitzenpolitiker der Bharatiya Janata Party (BJP) zum neuen Premierminister Indiens gewählt. In seiner Eindeutigkeit war es ein historisches Ergebnis: Modis BJP errang 282 von 543 Sitzen im indischen Unterhaus. Damit verfügt erstmals seit 1984 eine Partei über eine absolute Mehrheit. Modi habe dadurch eine einmalige Chance, sagt Rajeswari Rajagopalan vom Forschungsinstitut Observer Research Foundation in Delhi. »Erstmals seit dreißig Jahren haben wir eine Regierung, die nicht unter dem Zwang einer Koalition handeln muss.« Modi könne nun das Land von Grund auf reformieren. — Kritiker sehen in Modi jedoch nicht den großen Wirtschaftsreformer, sondern vielmehr einen Hindu-Nationalisten: Der ehemalige Teeverkäufer begann seine politische Karriere bei der rechtsextremen Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). Ginge es nach dem RSS, sollten sich Minderheiten wie Muslime, Sikhs und Christen in Indien einem Hindu-Leitbild unterordnen. In Modis Zeit als Ministerpräsident des Bundesstaats Gujarat kam es zwischen Hindus und Muslimen zu den schwersten Ausschreitungen in der jüngeren indischen Geschichte. — Doch Modi scheint sich gewandelt zu haben. Im Wahlkampf 2014 hat er sich das Image des Wirtschaftsreformers und Modernisierers zugelegt. Sein Mantra lautet seitdem »Entwicklung, Entwicklung, Entwicklung«. Davon, so hält er seinen Kritikern entgegen, würden alle Inder profitieren – egal ob Hindus, Muslime oder Christen. Vor allem den jungen Indern muss Modi eine Perspektive bieten: Fast zwei Drittel — Narendra Modi wirbt deshalb intensiv um ausländische Investitionen. Auf der Hannover Messe, der größten Industrieausstellung der Welt, mühte er sich mit der Kampagne »Make in India« zögerliche Investoren zu überzeugen. »Make in India« steht dabei für alles, was Indien herbeisehnt: mehr Arbeitsplätze, weniger Investitionshürden, Aufbau der Industrie und Investitionen aus dem Ausland. — Aus Sicht des deutschen Wirtschaftsberaters Michael Wekezer ist das ein Schritt in die richtige Richtung. »Die neue Regierung hat erkannt, dass ausländische Investitionen keine Bedrohung, sondern eine Chance für alle sind.« Allerdings müsse man Indien Zeit geben, meint der in Gurgaon ansässige Anwalt der Nürnberger Beratungsgesellschaft Rödl & Partner. Allein in Gurgaon haben sich bereits knapp hundert deutsche Firmen angesiedelt, von Adidas über Bertelsmann bis hin zu BMW, Fresenius, SAP und Siemens. — Für Indien ist Deutschland schon heute der wichtigste Handelspartner in Europa. Umgekehrt besteht hingegen noch Luft nach oben: Hier liegt Indien lediglich auf Rang 25. Das bilaterale Handelsvolumen betrug 2013/2014 insgesamt 16,1 Milliarden Euro. Aufgrund der großen Nachfrage nach deutschen Investitionsgütern wie Maschinen, Metallwaren, Chemie, Automobilen und Automobilteilen kam es zu einem deutschen Handelsüberschuss von rund 3,4 Milliarden Euro (2012/13). Der deutsche Autozulieferer und Technikkonzern Bosch ist von den Chancen überzeugt. »Wir sehen Indien nach einigen Jahren der Stagnation wieder sehr positiv«, sagt Indien-Chef Steffen Berns. Indien sei ein attraktiver, stabiler Wachstumsmarkt. Allein aus der lokalen Nachfrage ergebe sich ein erhebliches Potenzial. 2013 machte Bosch in Indien 1,2 Milliarden Euro Umsatz. Der Konzern betreibt hier elf Produktions- und sieben Entwicklungsstandorte und beschäftigt mehr als 28 000 Menschen in Indien. — Manch ein indischer Politiker und Unternehmer wähnt das Land schon als dritte Supermacht neben Amerika und China. Vor allem im Hinblick auf China positioniert man sich selbstbewusst als Alternativmodell zur chinesischen Erziehungsdiktatur mit ihrem Einparteienstaat: Indien sei die größte Demokratie der Welt mit einer freien Presse und einer unabhängigen Justiz. Man biete innovatives Privatunternehmertum im Gegensatz zu Chinas Staatskapitalismus. — In den Technologiezentren Bangalore und Hyderabad sitzen mit Infosys und Wipro IT-Firmen, die bereits zur internationalen Spitzenklasse gehören. Vishal Sikka ist Vorstandsvorsitzender von Infosys, sein Unternehmen machte 2014 einen Umsatz von 8,25 Milliarden Dollar. Angesprochen auf Narendra Modi reagiert Sikka begeistert. »Der Premierminister hat eine klare Vision von Innovation. Smart Cities und 21 W E R T E / N ° 12 – 2015 LÄ NDERREPORT / I NDI EN 1 smarte Infrastruktur sind für ihn Herzensangelegenheiten.« Entsprechend sicherte Sikka unlängst zu, 250 Millionen Dollar in Softwareentwicklung und -service zu investieren. Auch im Bereich Hardware mischt Indien auf der internationalen Bühne kräftig mit: Laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI ist Indien der größte Waffenimporteur der Welt. Knapp 15 Prozent der weltweiten Rüstungseinkäufe zwischen 2010 und 2014 wurden von Indien getätigt. »Indiens Importe sind inzwischen dreimal größer als die seiner regionalen Rivalen China und Pakistan«, heißt es im aktuellen SIPRI-Bericht. Im vorangegangenen Zeitraum 2005 bis 2009 lagen Indiens Rüstungseinkäufe noch 23 Prozent unter denen Chinas. Zudem ist Indien Nuklearmacht und baut sein Arsenal an Sprengköpfen kontinuierlich aus. Indiens Weg nach oben — Im vergangenen Jahr gelang ein weiterer Prestigeerfolg, als das unbemannte Raumfahrzeug Mangalyaan wie geplant in den Orbit des Planeten Mars eintrat. »Das ist ein Symbol dafür, wozu wir fähig sind«, kommentierte Premierminister Modi das Ereignis. »Die Vorzeichen sprachen allesamt gegen uns. Doch wir haben das Unmögliche möglich gemacht.« Indien trat damit einem erlesenen Club bei: Bislang gelang es lediglich den Vereinigten Staaten, der damaligen Sowjetunion und der Europäischen Weltraumorganisation ESA, zum Mars zu fliegen. Für die Inder ist allerdings vor allem eines wichtig: Sie waren noch vor Japan und China dort. Die Japaner scheiterten 1999, die Chinesen zuletzt 2012. Auch in der internationalen Politik hat Indien Großes vor: In der Gruppe der G4-Staaten strebt man an der Seite von Deutschland, Brasilien und Japan einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat an. — Doch es gibt auch die andere Seite Indiens: Jedes dritte unterernährte Kind der Erde lebt hier. Gut zwei Drittel der Inder müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen. Nur jeder Zweite hat Zugang zu einer Toilette, und mehr als 25 Prozent können weder lesen noch schreiben. Millionen Menschen auf dem Subkontinent leiden Hunger. Im aktuellen Welthunger-Index liegt Indien auf Platz 55 von 76 Ländern, die Welthungerhilfe stuft die Lage als »ernst« ein. Eine Fahrt aufs Land ist wie eine Reise in die Vergangenheit: Noch immer arbeiten knapp 50 Prozent der Inder in der Landwirtschaft, unter teils erbärmlichen Bedingungen und fernab jeglicher Technisierung. In keinem Land der Welt bringt das Wirtschaftswachstum so wenig für die Armen wie in Indien, warnt Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. — Der Staat versucht mit umfassenden Programmen gegenzusteuern und die Ärmsten der Armen zu unterstützen: Mitglieder armer Familien haben gesetzlich Anspruch auf 100 Tage bezahlte Arbeit im Jahr zu einem Tageslohn von 100 Rupien (ungefähr 1,40 Euro) – und in den Schulen auf dem Land wird kostenloses Mittagessen verteilt. Doch viele dieser Programme existieren leider nur auf dem Papier. Häufig verschwindet das Geld, noch bevor es die wirklich Bedürftigen erreicht. — Auch die Stellung der Frau ist in vielen Teilen Indiens ein großes Problem, nicht erst seit der brutalen Vergewaltigung 22 2 (1) Aufbruch in neue Sphären: Erfolgreicher Start der indischen Mars Orbiter Mission. Die Technik stammt aus Bangalore. (2) Angela Merkel empfängt Narendra Modi im April mit militärischen Ehren, der Premier verspricht ein »noch wirtschaftsfreundlicheres Umfeld« in Indien zu schaffen. einer jungen Studentin Ende 2012 in Delhi. Hinzu kommen dramatische Umweltprobleme: Indiens Flüsse, so heilig sie auch sein mögen, sind völlig verschmutzt. Delhi gilt derzeit als Smoghauptstadt der Welt. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO ist die Luftverschmutzung in der indischen Hauptstadt im Durchschnitt 16-mal höher als der zumutbare WHO-Grenzwert. Das sei für Kleinkinder, als würden sie jeden Tag zwei Zigaretten rauchen. — Atomsprengköpfe und hungernde Familien, IT-Knotenpunkte und Analphabetismus, Marsmission und Smoghauptstadt – Indien ist ein Land voller Gegensätze, voller Chancen und Herausforderungen. Der ehemalige UN-Untergeneralsekretär Shashi Tharoor bringt es auf den Punkt: »Indien hält mit seinen Erfolgen und seinem Scheitern Lektionen für die gesamte Menschheit bereit.« Dr. Elke Speidel-Walz über erste wichtige Reformerfolge, die nächsten Schritte und Chancen für deutsche Investoren. — Seit einem knappen Jahr ist eine Regierung in Neu-Delhi im Amt, von der Großes erwartet wird: eine robustere Wirtschaftspolitik, weniger Investitionshürden, eine Eindämmung der Inflation, geringere Staatsverschuldung und niedrigere Leistungsbilanzdefizite, um die Abhängigkeit von Kapitalgebern und Finanzmärkten zu reduzieren. Und die Regierung solle ausreichend Beschäftigung schaffen für die hohe Zahl junge Inder, die in den nächsten Jahren auf den Arbeitsmarkt drängen wird. — Trotz vieler Kritik am Tempo der Reformen ist Indien nach einer Dekade des wirtschaftlichen Stillstands auf gutem Wege, sein Potenzial besser auszuschöpfen. Einiges wurde bereits erreicht. Die Rückführung der Inflationsrate und – noch wichtiger – der langfristigen Inflationserwartungen ist ein Erfolg der Zentralbank, die zusammen mit der Regierung für eine neue Wirtschaftspolitik einsteht. Der Fall des Ölpreises hat geholfen, aber der Rückenwind wurde genutzt, um teure Energiesubventionen zu kürzen und damit dem Haushaltsbudget Mittel für wachstumsfördernde Maßnahmen zu verschaffen. — Hohe Infrastrukturinvestitionen im Eisenbahnbereich sind jetzt möglich. Die Regierung hat bereits damit begonnen, die stark ineffizienten Staatsmonopole aufzubrechen. Ein Schlüssel ist die staatliche Eisenbahn, die mit einer Aufspaltung der Geschäftseinheiten und der Beteiligung ausländischer Investoren vor ihrer größten Reform steht. Der Bergbausektor wird dank neuer Gesetze für privates Engagement geöffnet. Und im März wurde ein Gesetz verabschiedet, das de facto die Voraussetzung für eine Privatisierung des zweitgrößten Staatskonzerns, Coal India, schafft. Fotos: DIPP; Corbis(2); Deutsche Bank — Auch die Fiskalreformen kommen voran. Zwar sah die im Februar verabschiedete Budgetplanung weniger Rückführung des Haushaltsdefizits als erwartet vor, dafür wurden langfristig effizienz- und wachstumsfördernde Budgetreformen beschlossen. Der Großteil des Steueraufkommens geht nun direkt an die Bundesstaaten. Diese können jetzt selbst über die Verwendung der Mittel entscheiden, im Tausch gegen strikte Ausgabelimits und eine zentralisierte Steuererhebung. Die neu eingeführte autonome Gestaltung der Staatsausgaben dürfte zu einem Wettbewerb der Bundesländer untereinander führen und Anreize für eine wirtschaftlich sinnvolle Verwendung der Finanzmittel liefern. Ein Fokus der Reformen liegt auf der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der indischen Industrie. — Aufgrund der rasch wachsenden jungen Bevölkerung und der entsprechend dringend notwendigen Schaffung neuer Arbeitsplätze muss die indische Regierung den Industriesektor wettbewerbsfähiger machen. Ein Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik ist deswegen die »Make in India«-Initiative. Ziel ist es, den Anteil Indiens an den Weltexporten in den nächsten fünf Jahren von knapp zwei auf 3,5 Prozent zu erhöhen. Um dies zu erreichen, liegt der Fokus auf Deregulierung und Liberalisierung, Freihandelsabkommen mit anderen Regionen und einer Diversifikation der Exportstruktur. — Die steigende Bedeutung Indiens als Investitions- und Produktionsstandort für deutsche Unternehmen zeigte sich auch auf der Hannover Messe: Vor allem Unternehmen der Bereiche Biotechnologie, Energie, IT und Gesundheit haben Chancen. Auch die geplanten Infrastrukturprojekte der neuen Regierung machen Hoffnung auf deutsche Beteiligung: So sollen in 50 indischen Städten Straßenbahnen gebaut werden, hinzu kommen Strecken für Hochgeschwindigkeitszüge. Deutschland ist bislang nur der achtgrößte Investor in Indien – die Wirtschaftsbeziehungen sind also noch lange nicht ausgeschöpft. Fazit: Die neue Regierung hat bereits Erfolge erzielt. Weitere Reformen dürften aber noch anstehen. Die indische Wirtschaft ist auf dem besten Wege, in den nächsten fünf Jahren eine Wachstumsrate von sieben bis acht Prozent per anno zu erreichen und damit dann zu den am schnellsten wachsenden Ländern der Welt zu gehören. Dieses Wachstumstempo dürfte auch der rasch wachsenden Bevölkerung Wohlstandssteigerungen bescheren. DR. ELKE SPEIDEL-WALZ Chief Economist Emerging Markets Tel: +49 (0)69 91031741 E-Mail: [email protected] 23 WERTE-GES PRÄCH / FAMI LI E R I EGEL WERTE -Gespräch mit Hans-Jürgen, Dorett, Hans-Michael und Melanie Riegel über Excellence in der Medizin und der Wir tschaft sowie über Familienwer te und Glück. GESPRÄCH ERNA LACKNER FOTO KONRAD R. MÜLLER »Melanie Riegel, Ihre Heilung war der Anlass für die Gründung der Stiftung Lichterzellen. Sie strahlen heute geradezu vor Lebensfreude – hat die Erkrankung im Rückblick für Sie auch Gutes gebracht?« Melanie Riegel: Ja, sehr viel! Klar, es waren schwere Zeiten, die Ungewissheit, die Lebensbedrohung, Chemo, immunsuppressive Therapien, Transplantation, das Abwarten. Nach dieser Auszeit lebe ich heute intensiver, habe einen Blick entwickelt für das kleine Glück. Man wird im Alltag aufmerksamer, braucht nicht immer den nächsten Kauf, den nächsten Termin, damit man glücklich ist. Es ist alles geschenkte Zeit, wir nehmen die schönen Sachen, die uns umgeben, oft gar nicht wahr. Michael, Sie waren der Knochenmarkspender. Ihre Bilanz? Hans-Michael Riegel: Ich kenne keinen Menschen, der glücklicher ist als Melanie heute, und sie teilt dieses Glück auch mit anderen. Und ja, auch ich habe einen Reifeprozess durchlebt, bin mir heute bewusst, dass es ein Glück ist, auf der Erde sein zu dürfen. FAMILIE RIEGEL Hans-Jürgen und Dorett, ihre Kinder Hans-Michael und Melanie Riegel. 30 Herr Riegel, eine schwere Erkrankung ist für alle in der Familie eine Herausforderung? Hans-Jürgen Riegel: Die Perspektiven verschieben sich komplett. Alles war im Fluss, jeder wusste, was er zu machen hat, kümmerte sich um Business oder Uni, und dann kommen die Nachrichten, mir geht es nicht gut, ich bin schon beim Treppensteigen so schwach. Wir haben das zunächst auf den Arbeitseinsatz im Studium geschoben, aber dann mit den roten Pünktchen auf der Haut ging Melanie doch zum Arzt, und das Blutbild passte hinten und vorne nicht. Schließlich die erste Diagnose in Frankreich: PNH, Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie. Wir haben uns zuerst noch freudig angeschaut, endlich wussten wir, was es ist, und glaubten, mit etwas Medizin ist alles wieder im Lot! Aber beim Googeln im Internet wurde es dramatisch: Unsere Tochter habe mit der Diagnose dieser genetischen Blutkrankheit nur noch eine gewisse Anzahl von Jahren zu leben. Damit war alles anders. Der Zusammenhalt der Familie war dann ein Gewinn. Jeder von uns hat das erfüllt, was er am besten kann. Was war das? Hans-Jürgen Riegel: Mein Part war die Recherche, ich habe Meinungen eingeholt, Ärzte und Zentren gesucht. Schließlich sind wir in Aachen gelandet, bei Dr. Panse und Professor Brümmendorf im Universitätsklinikum. Sie waren erst mal sehr menschlich und für einen da, schon das hat mir gefallen! Ich habe alles abgescannt, was medizinisch möglich ist. Meine Frau war für den Herzenspart zuständig, sie hat uns alle immer wieder positiv gestimmt. Bei den heutigen Möglichkeiten der Medizin – mit Gentherapien oder Knochenmarkspenden –, ist es gut, wenn man Geschwister hat? Melanie Riegel: Ja, stimmt! Die Chance für eine passende Knochenmarkspende liegt bei eins zu vier. 31 W E RT E / N ° 12 – 2015 »Anderen zuhören, gegenseitiger Respekt – das sind alltägliche Werte, die ich in unserer Gesellschaft vermisse.« HANS-JÜRGEN RIEGEL Hans-Michael Riegel: Wenn Melanie nicht erkrankt wäre, hätte ich nie daran gedacht, Knochenmarkspender zu werden. So geht es wahrscheinlich vielen Leuten, man hat nicht im Kopf, sich typisieren zu lassen oder Blut zu spenden. Dabei kostet es nichts. Jeder investiert bei der Knochenmarkentnahme nur einen Tag – und kann dadurch ein Menschenleben retten. Sensibilisieren Krankheiten, generiert Leid so etwas wie eine soziale Ader? Melanie Riegel: Auf jeden Fall! Wir haben in der Familie dafür auch davor ein Auge gehabt, aber wenn man das selbst erlebt, versteht man kranke Menschen viel direkter, weiß genauer, wie man ihnen Gutes tun kann. Auch Worte können heilen! Und wenn Patienten auch noch das gleiche Leiden haben, schweißt das schon sehr zusammen. Aus der sozialen Verbundenheit heraus hat sich schließlich die Stiftung ergeben? Hans-Jürgen Riegel: Wir hatten in allen Phasen sehr viel Glück. Dass die seltene Krankheit früh diagnostiziert wurde, dass wir zu den Ärzten in Aachen kamen, dass Hans-Michael als Spender passte, dass das Transplantationsinstitut in Marseille hervorragend arbeitete, dass das Knochenmark gut angenommen wurde. Wir haben damals geschworen, uns bedanken zu wollen. Schließlich wurde es eine gemeinnützige Stiftung, ein Familienprojekt zusammen mit den Ärzten in Aachen und einer weiteren, überaus engagierten Patientin. Neben der Forschung zu den Blutkrankheiten PNH und AA (Aplastische Anämie) wollen Sie auch die Information darüber befördern. Hilft das Reden über die Krankheit? Melanie Riegel: Ja, denn die Problematik bei diesen seltenen Erkrankungen liegt auch in der Unsichtbarkeit. Das Umfeld hat kein Verständnis dafür, weil man ja nichts sieht, die Krankheit gar nicht kennt. Auch ich habe an der Uni vergeblich um Nachsicht gebeten. Jetzt, durch die Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung, bekommen wir immer wieder E-Mails, in denen steht: Endlich haben meine Freunde Verständnis, endlich hat meine Krankheit Berechtigung! 32 Hans-Jürgen Riegel: Auch Ärzte kennen die Krankheit oft nicht. Unsere Stiftung berichtet möglichst viel über die Krankheit, damit auch Ärzte diesen Reflex haben: Moment, das könnte PNH/AA sein! Was ist für Sie ein guter Arzt? Melanie Riegel: Dass er dem Patienten zuhört, ist wichtig. Er soll mir die Krankheit erklären können und mir das Gefühl geben, an meiner Seite zu stehen. Es ist oft nur ein Satz, der alles verändern kann. Ärzte haben oft wenig Zeit – aber im Prinzip ist diese Zeit nie verloren. Dorett Riegel: Der Arzt muss zu Beginn wenigstens einmal viel Zeit haben. Damit bekommt der Patient ein Gefühl für das Ganze, für den Weg, der bevorsteht. Melanie Riegel: Der Arzt ist so etwas wie ein Kooperationspartner. Der Patient sitzt im Schiff, der Arzt begleitet ihn vom Beiboot aus. Und er gibt einem auch Tipps, medizinische Werte selbst zu überwachen, damit man zu Hause nicht immer so hilflos und unsicher ist. So viel Unabhängigkeit wie möglich ist für den Patienten ein Weg zurück zur Normalität. Es gibt 6000 seltene Krankheiten. Die Pharmaindustrie forscht vorrangig im Bereich weitverbreiteter Krankheiten. Ist das ethisch richtig? Hans-Jürgen Riegel: Eine ketzerische Frage. Da sind zwei Seelen in meiner Brust. Natürlich stehen seltene Krankheiten hintenan, denn die Pharmaindustrie muss sich ja selbst ernähren. Deswegen habe ich auch Verständnis dafür, dass sie sich Märkte sucht, wo Geld verdient werden kann – das dann in die Wissenschaft gehen kann. Wenn die Pharmaindustrie sozial tätig sein soll, müssten wir sie auch sozial stützen und mit einem Obolus oder Geldpäckchen versehen für Krankheiten, die nur kleine Gruppen bedienen. Ein solches Päckchen schnüren Sie nun? Hans-Jürgen Riegel: Wir arbeiten daran. Wir wollen Spenden einsammeln, um Initiativen zu setzen. Im Moment steht das Projekt der Telomerlängenmessung1 im Vordergrund, das helfen soll, Patienten Leidenszeiten durch unnütze Medikamente zu ersparen – und damit auch den Krankenkassen Kosten. Melanie, Sie verdanken der modernen westlichen Medizin Ihr Leben. Dennoch beschäftigen Sie sich jetzt mit der traditionellen chinesischen Medizin. Warum? Melanie Riegel: Kräutermischungen und eine spezielle Ernährung haben mich auf meinem Krankheitsweg zeitweise energetisch gestärkt. Die Chinesen haben dieses über Jahrtausende entstandene Pflanzenwissen, und es ist schade, dass man dieses Wissen bis heute hier wenig nutzt. Das Beste wäre, die ganze Bandbreite der Medizin auszuschöpfen. Herr Riegel, warum sind Sie 1988 nach Frankreich gegangen? Hans-Jürgen Riegel: Da hatte ich keine große Wahl, das ist von 1 Die Telomerlängenmessung ist eine spezielle Blutuntersuchung zur Identifizierung von Patienten, die auf eine immunsupressive Therapie mit ATG und Cyclosporin nicht ansprechen. WERTE-GES PRÄCH / FAMI LI E R I EGEL unserer höchsten Geschäftsleitung, meinem Vater und meinem Onkel, so entschieden worden. Der Vorstandsvorsitzende von Haribo in Frankreich ging in den Ruhestand. Ich war jung, habe es als Herausforderung angesehen, und mit meiner Frau ging es mit dem Auto nach Frankreich, im September 1988. Es war eine prima Zeit, die wir in Südfrankreich hatten. Lebt Gott in Frankreich? Hans-Jürgen Riegel: Inzwischen hat sich unser Lebensmittelpunkt wieder ins Rheinland verlagert, aber ich genieße die Besuche in der zweiten Heimat. Frankreich war bereichernd, kulinarisch habe ich eine Vorliebe für strengen Käse entwickelt, dazu die Liebe zum entsprechenden Wein. Der Sonnenschein, das Meer, das Festival d’Aix, alles wunderschön – aber ich muss auch sagen: Der liebe Gott könnte ebenfalls am Rhein leben, hier am Siebengebirge, mit viel Natur und nahe zu den Städten Köln und Bonn. Auch den Menschenschlag finde ich vergleichbar, Rheinländer und Südfranzosen lachen gern, es sind freudige Völkchen. Und die Frage an den Unternehmer: Wo ist Excellence in Frankreich, wo Kompetenz in Deutschland? Hans-Jürgen Riegel: Unternehmerisch betrachtet, ist Frankreich ein eher unschöner Standort. 1988 gingen Frankreich und Deutschland wirtschaftlich noch im Gleichschritt, mittlerweile hat sich eine erhebliche Schere entwickelt. Die steuerlichen Bedingungen sind hemmend, insbesondere für kleine und junge Unternehmen haben sich die Voraussetzungen verschlechtert, auch was Personal und soziale Dinge angeht. Frankreich ist nach wie vor ein streikfreudiges Land; aber das hat auch in Deutschland zugenommen. Schade. Von unserem Familienunternehmen her kenne ich das kaum. Tatsächlich ist es doch das Beste, mit der Arbeitnehmerschaft Hand in Hand zu arbeiten. Ich bin ein großer Verfechter von Familienunternehmen, wie sie die deutsche Wirtschaft prägen. Was zeichnet Familienunternehmen aus? Hans-Jürgen Riegel: Dass sich Familien mit einbringen können, dass der Unternehmer eine gewisse Nähe zu den Mitarbeitern hat, dass es kurze Entscheidungswege gibt, dass man kooperativ zusammenarbeitet, dass nicht konzernartig verwaltet wird und man für jeden Bleistift, der herausgegeben wird, eine Unterschrift abzugeben hat, dass man pragmatisch arbeitet – all das sind für mich Attribute eines Familienunternehmens. Ihr Großvater, der das Bonner Süßwarenunternehmen gründete, hat den Goldbären schon 1924 erfunden, auch den Slogan »Haribo macht Kinder froh«. Was ist das Erfolgsgeheimnis? Hans-Jürgen Riegel: Ich bin fest davon überzeugt, dass es diese Beständigkeit an Qualität zu einem vernünftigen Preis ist, die Haribo so groß gemacht hat. Diese Philosophie hatte schon der Großvater. Vater und Onkel pflegten sie weiter, und das macht auch das heutige Management. Herr Riegel, was würden Sie als ein europäischer Bundeskanzler wirtschaftspolitisch schaffen? Hans-Jürgen Riegel: Die Voraussetzungen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Nur in diesem Fall haben wir Beschäftigung und das steuerliche Aufkommen für einen ausgeglichenen Haushalt. Gott sei Dank sind wir derzeit in Deutschland auf einem guten Weg. Steuerliche starke Belastungen bremsen oftmals einen Teil der Wirtschaft ab, man muss da räsonabel bleiben. Ich würde das Steuersystem möglichst einfach gestalten wollen. Ob man wieder zurück zum Zehntel, zum Zehent wie im Mittelalter kommt, weiß ich nicht – das wird wohl nicht mehr reichen. Ein anderes wichtiges Anliegen wäre mir: viel Transparenz zu schaffen. Was bedeutet Ihnen allen der Wert Dankbarkeit? Melanie Riegel: Dankbarkeit ist etwas Schönes. Und eine enorm wichtige Einstellung. Man kann für so vieles dankbar sein – dass man eine Familie hat, eine funktionierende Ehe, Freunde und dass man jeden Tag neu erleben kann. Dorett Riegel: Die Dankbarkeit im Detail gehört zu den Werten, die einem von klein auf vermittelt werden sollen und die man weitergeben soll an die nächste Generation. Dankbarkeit ist ein Bewusstsein, das das Leben sehr viel reicher macht. Hans-Jürgen Riegel: Ich möchte auch noch einen Wert nennen, der in unserer Gesellschaft mehr zählen sollte: Dies ist der gegenseitige Respekt. Dazu gehört, dass man jemanden anlächelt, auch mal »Guten Morgen!« oder »Auf Wiedersehen!« sagt, kleine Worte. Anderen zuhören, sich selbst einmal kritisch prüfen. Das sind alltägliche Werte, die ich in unserer Ellenbogengesellschaft oft vermisse. Es gibt immer mehr Menschen, die das Einfache nicht mehr beherzigen. Wenn wir das ändern könnten, würden die Leute wieder ein bisschen herzlicher und netter miteinander umgehen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für dieses Gespräch. FAMILIE RIEGEL UND DIE STIFTUNG LICHTERZELLEN Die im Jahr 2013 gegründete Stiftung entstand, nachdem Melanie Riegel an den äußerst seltenen Krankheiten Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) und Aplastische Anämie (AA) erkrankte. Dabei stellte die Familie schnell fest, dass auch viele Ärzte die Krankheit und ihren Verlauf nicht kannten. Die Stiftung Lichterzellen will PNH/AA bekannter machen, Ärzte sensibilisieren, die Forschung finanziell unterstützen und Patienten zur Seite stehen. www.lichterzellen.de 33 W E R T E / N ° 12 – 2015 Brahma, hinduistischer Gott der Schöpfung, hält den Wachstumsmotor Indiens ohne Pause am Laufen. STRATEG IEN & MÄRKTE / DR. ASOK A WÖH RMANN Die Welt blickt auf die Entwicklung Chinas und Indiens. Asoka Wöhrmann bewer tet den Konkurrenzkampf der Giganten aus Investmentsicht. — China und Indien gleichen einem zweieiigen Zwillingspaar. Primärmerkmale wie Größe und Entwicklungsstadium stimmen weitgehend überein, Sekundärmerkmale wie Charakter und Konstitution weisen Unterschiede auf. Aus Investorensicht gefallen uns derzeit beide Länder. Allerdings hat dies im Falle Chinas weniger mit den Fundamentaldaten zu tun. Vielmehr erfreut Peking den Markt mit Zinsund Reservesatzsenkungen und heizt zudem das Feuer durch die stärkere Vernetzung seiner Börsen an. Damit könnte zumindest ein Teil der Euphorie der Shanghaier Anleger – sie zahlen für Industrie- und Konsumwerte im Schnitt ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 40 – auf die konservativeren Aktionäre der Hongkonger Börse überschwappen. Nach Immobilien- und Schattenbankenblase droht nun also in Chinas Innerem wieder eine Aktienblase. Indiens Aktienrally hingegen fußt unserer Meinung nach auf einem strukturell nachhaltigeren Wirtschaftswachstum. »Chindia« und der Wettlauf der Giganten ILLUSTRATION JELKA LERCHE 34 — Zurück zu den Gemeinsamkeiten: Beide Länder werden aufgrund ihrer langfristigen Wachstumsperspektiven seit Jahren von jedem Vermögensberater als Portfoliobeimischung empfohlen. Nicht zu Unrecht. Seit 1979 hat sich der indische Sensex verzweihundertzwanzigfacht, der Hongkonger Hangseng sich rund verfünfzigfacht, und die A-Aktien der Börse Shanghai haben sich seit Indexgründung 1992 fast verfünfzehnfacht. Zugegeben, inflations- und/oder währungsbereinigt sehen diese Zahlen weniger imposant aus. Allein in den vergangenen drei Jahren hat Indiens Währung rund ein Viertel an Wert verloren. Und natürlich hat es an den Börsen zwischendurch auch mal richtig gekracht. Investoren mit einem kurzfristigen Ansatz hatten also bereits genügend Gelegenheit, sich hier ordentlich die Finger zu verbrennen. Droht dies nun nach vierjähriger Rally erneut? — Unbenommen kurzfristiger Korrekturen veranschaulichen folgende Kennzahlen die Attraktivität der Länder aus Aktionärssicht: In Indien entspricht die Marktkapitalisierung 21 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in China 42 Prozent. Misst man das BIP nicht nach offiziellem Wechselkurs, sondern nach Kaufkraftparität, sind es 76 und 72 Prozent. In den USA liegt der Quotient jedoch bei satten 140 Prozent. Ob diese 140 Prozent ein gesunder Maßstab sind oder eine Überbewertung implizieren, mag jeder selbst entscheiden. Eindeutiger sieht es bei der Marktkapitalisierung pro Einwohner aus: In Indien sind es 1250 Dollar pro Kopf, in China 5500 Dollar und in den USA 75 000 Dollar. Hier steckt, im wahrsten Sinne, die Phantasie dieser beiden Länder. Zwar kann es noch Jahre oder Jahrzehnte dauern, diese Lücken zu schließen, aber das Jahr 2015 wird seinen Beitrag dazu schon mal liefern. Wir schätzen für die USA ein BIPWachstum von 3,2 Prozent, für Indien 7,5 Prozent und für China 6,8 Prozent. Damit wird Indien zum ersten Mal seit langer Zeit China beim Wachstum überflügeln. — Hier kreuzen sich nicht nur die Wachstumsraten, sondern auch Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Einerseits hinkt Indien China beim Aufbau der Infrastruktur und Industrie teils um Jahrzehnte hinterher. Während China von 1999 bis 2014 im Schnitt 43,5 Prozent des BIP investierte, waren es in Indien 31,9 Prozent. Dafür hätte China gern Indiens höheren Privatkonsumanteil (57 Prozent vom BIP versus 37 Prozent), möchte es sich doch von seinem »Investieren-um-zu-exportieren-Modell« langsam verabschieden. Indiens geringe Investitionstätigkeit führt auch dazu, dass es noch Pulver zu verschießen hat: Mit 120 Prozent vom BIP ist Indien nur etwa halb so hoch verschuldet wie China. Alarmierender noch als das absolute Schuldenniveau Chinas ist die Geschwindigkeit, mit der dieses aufgebaut wurde, da diese Dynamik bereits viele Länder ins Straucheln brachte: Seit dem Jahr 2000 hat sich der Schuldenanteil am BIP fast verdoppelt. In Indien hingegen wuchs er nur um rund ein Viertel. Damit ergibt sich ein ähnliches Bild wie beim Vergleich Foto: xxxxxxxxx von BIP-Wachstum und Investitionsquote: Indien setzt seine Mittel effizienter ein. Das muss es aber auch, da es anders als China seit Jahren mit einem Leistungsbilanzdefizit kämpft, also auf ausländische Geldspritzen angewiesen ist. Diese Gelder dürften allerdings auch künftig reichlich fließen. Dem seit Mai 2014 amtierenden Ministerpräsidenten Narendra Modi sind dank seines Reformprogramms die Sympathien internationaler Investoren sicher. Ob Land-, Steuer- oder Arbeitsmarktreform, der Kampf gegen Korruption oder das Infrastrukturprogramm: Modi packt vieles an, was Indien seit Jahrzehnten hindert, sein Potenzial auszuschöpfen. Sicher wird er dabei auch Rückschläge erleiden und auf Widerstand bisheriger Systemprofiteure stoßen. Doch er kann auf den Rückhalt eines Großteils der Bevölkerung und des Auslands setzen. Zudem profitiert Modi vom Rückenwind des billigen Öls und dem geldpolitischen Spielraum (der Leitzins liegt derzeit bei 7,5 Prozent). Indiens wichtigstes Ass bleibt allerdings seine Bevölkerungsstruktur: Fast die Hälfte der Inder ist jünger als 24 Jahre. In China, das seit 2011 mit einem Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung kämpft, sind es 32 Prozent. Vor diesem Hintergrund wirken Chinas Wachstumszahlen umso erstaunlicher. Nicht nur wächst das Land seit einem Vierteljahrhundert mit acht bis 14 Prozent pro Jahr, darüber hinaus vermögen es Pekings weise Lenker auch stets, das Wachstum mit hoher Präzision Monate im Voraus festzustellen. Die Skepsis diesbezüglich ist bekannt. Es reicht ein Blick auf die Quartalsergebnisse der notierten Unternehmen, um am Zahlenwerk zu zwei- feln. Solange China mit über acht Prozent wuchs, konnte man darüber schmunzeln. Doch dieses Jahr könnte das Wachstum unter sieben Prozent bleiben, und dass es mittelfristig Richtung fünf Prozent geht, sollte man nicht ausschließen. Geschönte Zahlen dürften dann im In- und Ausland mit weniger Gleichmut aufgenommen werden. Die Frage, wie Chinas Bevölkerung reagiert, wenn die wirtschaftspolitische Neuausrichtung zu höherer Arbeitslosigkeit oder geringeren Lohnsteigerungen führt, dürfte auch Pekings Machthaber umtreiben. — Womit wir beim größten Unterschied wären: Während Indien die größte Demokratie der Welt ist, behauptet sich China als größte Nicht-Demokratie. Das mögen viele Investoren mit erstaunlicher Nonchalance ignorieren und damit Gefahren ausblenden, die sich daraus ergeben, dass China keine freien Wahlen, unabhängigen Gerichte, keine Meinungsfreiheit kennt. Ob das Volk seine staatstragende Ruhe behält, wenn der zu verteilende Kuchen kleiner wird und Probleme wie Umweltverschmutzung, fehlende soziale Sicherungssysteme und hoher Verschuldungsgrad unbewältigt bleiben, ist fraglich. Es wäre zweifelsohne zu wünschen, dass die kommunistische Avantgarde das schafft. Allein schon, weil China im vergangenen Jahr dreizehn Prozent zum globalen GDP beigetragen hat. Ein Prozent weniger Wachstum hier müsste der Zwilling Indien mit fünf Prozent mehr Wachstum kompensieren. Aber zugegeben, seit Deng Xiaopings Reform im Jahr 1978 haben Pekings Funktionäre ja schon überraschend viel hinbekommen. DR. ASOKA WÖHRMANN Chief Investment Officer, Deutsche Asset & Wealth Management Tel.: +49 (0)69 9101-8500 35 W E R T E / N ° 12 – 2015 WERTE-G ESPRÄCH / B ERNH ARD LANGER EINE GOLFRUNDE MIT BERNHARD LANGER »Es gibt nichts Besseres, als zu siegen« Bernhard Langer ist der beste deutsche Golfer aller Zeiten. WERTE-Autor Hans Borcher t begab sich mit ihm auf eine Runde über 18 Löcher – jedem widmete er ein Thema. So entstand ein exklusives Gespräch über Excellence im Spor t, Demut, Erfolg, Familie und wahre Vorbilder. 56 Foto: Stefan von Stengel für Golf Magazin 57 W E RT E / N ° 12 – 2015 Der Augusta National Golf Club ist eine der anspruchsvollsten Anlagen der USA und jährlicher Austragungsort der US-Masters. Bernhard Langer ist der einzige Deutsche, der je die US-Masters gewonnen hat, und das auch gleich zweimal – 1985 und 1993. Die Löcher des Clubs tragen die Namen von Pflanzen, zum Beispiel Tea Olive, Magnolia oder Flowering Crabapple. USA Georgia 1. Tea Olive: 445 Yards / Par 4 Demut »Dazu eine Geschichte, sie erklärt alles: Ich weiß noch, als ich das erste Mal ein großes Turnier angeführt habe. Damals war ich neunzehn Jahre alt und habe vor den letzten neun Löchern mit zwei Schlägen geführt. Ich stand also auf dem Abschlag von Bahn 10 und überlegte, was ich bei der Preisverleihung sagen würde, denn eine Rede hatte ich nie zuvor gehalten. Und dann überlegte ich, was ich mit dem vielen Geld des Siegerschecks wohl machen würde. Nur drei Löcher später lag ich nicht mehr in Führung. Es war eine Lektion fürs Leben. Sie lautet: Beim Golf kann man es sich gar nicht leisten, von sich selbst so eingenommen zu sein, dass man glaubt: ›Ich bin der Allerbeste, der Allergrößte, und ich schlage jeden an jedem Tag.‹ Das gab es nie, wird es auch nie geben, und wann immer du abzuheben drohst, wird das Spiel dich wieder auf die Erde zurückbringen. Es lehrt dich, eigene Stärken und Schwächen zu erkennen, sie zu akzeptieren, daran zu arbeiten und einzig den Moment zu leben: Konzentriere dich auf das, was gerade das Wichtigste ist, und das ist immer der nächste Schlag.« 2. Pink Dogwood: 575 Yards / Par 5 Spielerische Klasse »Vierzig Jahre sind eine lange Zeit, und natürlich war ich zu Beginn meiner Profilaufbahn nicht gleich in der Weltspitze. Den Ansporn aber, mich dort zu etablieren und zu halten, hatte 58 WERTE-G ESPRÄCH / B ERNH ARD LANGER ich immer. Rückblickend schätze ich mich glücklich, das über Jahrzehnte hinweg und bis auf den heutigen Tag geschafft zu haben. Die Summe aller Erfolge ist Teil meiner Persönlichkeit, die ich auf den Platz bringe, ist meine Selbstsicherheit und das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Der Gedanke ›Du kannst es!‹ verlässt mich so gut wie nie. Und doch gibt es Momente des Zweifels. Das ist eben Golf: Es geht um Millimeter. Beim Anstellen des Schlägerblatts, beim Einlochen des Balls. Es sind nur Nuancen, aber sie sind entscheidend. Obwohl ich über einen großen Erfahrungsschatz verfüge – sowohl in der Spieltechnik mit all ihren möglichen Schlagvarianten und unterschiedlichen Wettkampfsituationen als auch den Anforderungen im mentalen Bereich –, gelingt Höchstleistung nicht an jedem Loch oder bei jedem Schlag. Ebenso wenig übrigens wie Platz 1 bei jedem Turnier. Zwei Masters-Siege und fast hundert Titel weltweit sind sicher eine herausragende Bilanz, dennoch habe ich nie die British Open gewonnen, nicht die US-Open, auch nicht die PGA-Championship. Und wer nun fragt, hast du alles erreicht, dem sage ich: Alles erreicht man nie. Es gibt immer noch mehr, was man erreichen könnte.« 3. Flowering Peach: 350 Yards / Par 4 Dieser Wesenszug wurde mir neben manch anderer Fähigkeit in die Wiege gelegt und erscheint mir als göttliches Geschenk. Jedem Menschen werden bestimmte Gaben zuteil, und es liegt an ihm, sie zu entwickeln – das ist meine Überzeugung als Christ. Talent nutzt wenig, wenn man sich auf die faule Haut legt und denkt: Du brauchst nicht viel tun. Die Bibel sagt: ›Du musst arbeiten.‹ So habe ich es immer gehalten und glaube, ich habe dabei mein Potenzial weitestgehend ausgeschöpft. Ehrgeiz also: Ja! Unbedingtes Wollen: Ganz sicher!« 4. Flowering Crabapple: 240 Yards / Par 3 ich sofort die Schwierigkeiten in der Naturschönheit. Mein Blick registriert Bunker und Wasserhindernisse, er schätzt die Länge der Bahn ab und speichert die Tücken, die Hindernisse der Anlage. Immer verbunden übrigens mit der Frage: Warum hat der Architekt dieses oder jenes Loch wohl so geplant, und wie stelle ich mich als Spieler darauf ein. Ein weiterer Aspekt ist das Spiel selbst. Es gibt darin Momente reinster physischer und psychischer Harmonie. Sie sind rar, aber es gibt sie. Dann hat man einen Lauf, ist – wie wir sagen – ›in the zone‹. Das Gefühl ist schwer zu erklären: Nichts stört, nichts lenkt ab, man ist absolut konzentriert. Alle Bewegungen sind nahezu perfekt, man denkt so positiv, man schlägt, man puttet so gut, ist so ganz bei sich und überzeugt von seinem Spiel. 18 Schläge unter Par – das kann dabei herauskommen. Es war mein Ergebnis bei der Senior Open Championship auf dem walisischen Linkskurs von Royal Portcrawl 2014 nach Runden von 65, 66, 68 und 67. Ein Sieg wie wenige zuvor, denn dass man einhundertfünfzig andere Starter mit dreizehn Schlägen hinter sich lässt, das kommt wirklich ganz selten vor.« Disziplin »Immer und manchmal zu viel. Heute setzt mir mein Körper Grenzen. Er würde das, was ich ihm in jungen Jahren abgefordert habe, nicht mehr verkraften. Jedenfalls nicht, fünf Stunden Bälle zu schlagen. Es gibt Abnutzungserscheinungen, das gilt es zu akzeptieren, und ich für meinen Teil musste das erst lernen. Heute trainiere ich gezielt und intensiv, aber nicht so ausufernd wie früher. Insofern gehe ich fürsorglicher mit mir um und bin, mit Ausnahme meiner Aufwärmroutine vor Turnierrunden, flexibler. 75 Minuten Vorbereitung sind Pflicht, und womöglich kann man nach meiner Taktung die Uhr stellen. Im Fitnesstrailer gehört Radfahren dazu, es folgen Übungen mit leichten Gewichten und mit Bändern, um die Muskulatur zu lockern, danach geht es auf die Driving Range.« 5. Magnolia: 455 Yards / Par 4 Juniper: 180 Yards / Par 3 6. Perfektion »Ist eine Utopie. Absolute Perfektion gibt es im Golfspiel nicht. Das wäre aus meiner Sicht eine Runde mit 36 Schlägen. Das Beste aber, was je gespielt wurde, war eine 58.« 7. Pampas: 450 Yards / Par 4 Ehrgeiz Spielfreude Erfolg »Etwas einfach nur so zu tun, liegt mir nicht. Ich will immer mein Bestes geben, und natürlich trifft das besonders auf das Golfspiel zu. Es ist mein Beruf, ich verbringe damit die meiste Zeit, betreibe einen enormen Aufwand und erwarte deshalb, dass etwas Gutes dabei herauskommt. Aber Golf ist nicht alles, und bei der Erledigung anderer Dinge habe ich den gleichen Anspruch an mich selbst. Egal, was von mir erwartet wird, ich versuche es so ernsthaft und gut zu machen, wie ich nur kann. »Würde mir das Spiel keinen Spaß machen, ich hätte längst die Schläger in die Ecke gestellt. Aber Golf ist ein toller Sport, und ich genieße den Wettkampf mit meinen Kollegen auf den schönsten Plätzen der Welt. Einem Nichtgolfer gleich sehe und bewundere ich durchaus die Natur. Die uralten Bäume, die Teiche, die Farbenpracht der Blumenblüten – eben alles, was den landschaftlichen Reiz eines Platzes ausmacht. Wiederum, und nun mit den Augen des professionellen Spielers, erkenne »Für alle Sportler und speziell für Golfer gilt: Wir trainieren nicht, um der Zwanzigste oder Fünfzigste zu werden – wir trainieren, um zu gewinnen. Und ich glaube: Jeder, der einmal gewonnen hat, der will immer wieder gewinnen. Es gibt nichts Befriedigenderes, als zu siegen, und es gibt auch nicht ›zu viel Erfolg‹. Im Gegenteil: Erfolg fördert das Selbstvertrauen, und mehr Selbstvertrauen bringt wiederum Erfolg. Das ist wie ein positiver Kreislauf.« Fotos: PA; Getty Images (5) 59 8. W E RT E / N ° 12 – 2015 10. Yellow Jasmine: 570 Yards / Par 5 Konkurrenz »Im Endeffekt spielt man Golf gegen den Platz, um ein möglichst gutes Ergebnis zu erreichen. Und nicht gegen eine Person. Am Ende eines Turniers kristallisiert sich allerdings heraus, dass noch zwei, drei oder vier andere Spieler die Chance haben zu gewinnen, und dann wird es mehr zum Wettkampf zwischen Personen. Im Laufe meiner langen Karriere habe ich natürlich viele Konkurrenten gehabt, großartige Spieler darunter wie Severiano Ballesteros, Nick Faldo, Sandy Lyle oder Ian Woosnam. Unabhängig vom Namen gab es dabei immer Menschen, mit denen habe ich mich auf der gemeinsamen Runde wohler gefühlt als mit anderen, und das lag häufig an ihrer positiven Ausstrahlung. Man ist Mensch, keine Maschine, insofern kann das Spiel eines unmittelbaren Konkurrenten Ansporn sein oder auch Irritation. Aber ob ich ihn mag oder nicht, ist am Ende unwichtig, dafür ist man zu abgeklärt und will eigentlich nur das bestmögliche Ergebnis erzielen.« 9. Camellia: 495 Yards / Par 4 Selbstvertrauen »Ohne Selbstvertrauen gibt es kein erfolgreiches Golf. Wiederum wird das Selbstvertrauen gern erschüttert. Ein schlechter Schwung, ein misslungener Putt – schon schwindet es. Was hilft – und das muss man lernen –, ist Vergessen. Vergessen können ist so etwas wie die Kunst konstant erfolgreichen Spiels. In diesem Sinne stimmt der Satz, Golf finde zwischen den Ohren, also im Kopf, statt. Natürlich nicht nur. Wenn ich – nur als Beispiel – mit meinem Bruder spiele, dann mag er mental der beste und ich zugleich der schlechteste Spieler sein. Dennoch werde ich gewinnen, denn ich bin der bessere Golfer. Aber wenn zwei Akteure von der Technik her ähnlich sind und die gleichen Möglichkeiten haben, dann entscheidet die mentale Stärke und damit eben das Selbstvertrauen.« 11. Carolina Cherry: 460 Yards / Par 4 Wandel »Golf gestern und heute – das ist wie Schwarz und Weiß. Es hat sich tatsächlich total geändert, auf Profi-Ebene wie bei den Amateuren. Golf ist heute global, das war es zu meinen Anfangszeiten noch nicht. Dann das Material. Es beginnt bei den mittlerweile fünfteiligen Bällen. Man sieht es nicht, aber es sind regelrechte Hightechgeschosse. Dann die Schläger. Wir spielen mittlerweile mit hohlen Driverköpfen, mit leichteren, längeren Schäften – es lässt sich damit mehr Geschwindigkeit auf die Kugel bringen, und die Distanzen, die damit geschlagen werden, sind phänomenal. Manche erreichen 300 Meter im Flug. Dazu reizen Profis jedes Thema aus – von der Fitness bis zum Mentalcoaching. Im Ergebnis genügt dem modernen Golf mit seinen athletisch ausgebildeten Spielern manch einer der legendären, ehrwürdig alten Plätze nicht mehr. Sie lassen sich einfach nicht beliebig verlängern. Es ist wie mit einem Schwert – es hat zwei Seiten. Da sind Leute, die sagen, wir müssen den Ball und die Längen kontrollieren, und dann gibt es andere, die behaupten, dann macht es weniger Spaß. Aus meiner Sicht ist Länge ein Phänomen des Golfspiels. Länge ist bewundernswert, und genau das wollen die Leute sehen.« 60 13. WERTE-G ESPRÄCH / B ERNH ARD LANGER Azalea: 510 Yards / Par 5 Frühe Jahre »Eine Karriere, wie sie hinter mir liegt, habe ich mir nie zu erträumen gewagt. Ich weiß noch, wie ich als erster Deutscher auf die Tour nach Amerika kam und nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie gut die Konkurrenz dort spielt. Meine Schwächen im kurzen Spiel waren offensichtlich, und darauf habe ich mich konzentriert. So fing das an, Schritt für Schritt. Bald merkte ich, du gehörst zu den Besseren, kannst einer der Besten werden. Es ist wie bei einer Leiter. Man klettert Sprosse für Sprosse hoch, steckt sich Ziele, erreicht sie, steckt sich neue und ist, wie in meinem Fall, irgendwann die Nummer 1 der Weltrangliste. Dabei verändert sich über die Jahre vieles. Mein Schwung und meine Schwunggedanken sind heute gänzlich andere, ich spiele auch aggressiver. ›Golf‹, sagt Jack Nicklaus1, ›ist ein prozentuales Spiel.‹ Gemeint ist: Jeder Schlag ist die Abwägung von Risiken und Chancen, und in der Urteilssicherheit liegt sicher ein Unterschied zwischen dem jungen und dem reifen Bernhard Langer.« 14. White Dogwood: 505 Yards / Par 4 Chinese Fir: 440 Yards / Par 4 Vorbildfunktion Glaube »Ich denke, Gott hat mir sehr viel mitgegeben, und der Glaube an ihn hat Vorrang in meinem Leben. Für alles, was ich heute bin und was ich aus mir machen durfte, bin ich dankbar und betrachte das als sein Geschenk.« 12. 15. Werte »Es zählen Begriffe wie Vertrauen, Integrität, Wahrheit, Verlässlichkeit, Fairness und Harmonie – materielle Dinge gehören nicht dazu. Auch wenn ich in meinem Leben viel Geld verdient habe, so weiß ich: Ich wäre ebenso glücklich mit kleinerem Auto, kleinerem Haus und ohne all die Annehmlichkeiten, die der Wohlstand mit sich bringt.« Fotos: Corbis; Getty Images (4) 16. Redbud: 170 Yards / Par 3 Lebenslektion »Wer meinen Weg einschlagen will, der muss wissen: Es wird hart. Die Konkurrenz ist groß, und man sollte schon zu den Besseren gehören, um überhaupt eine Chance zu haben. Golfprofi zu sein macht keinen Spaß, wenn man die Nummer 500 der Welt ist. Das sage ich jedenfalls meinen Kindern.« 17. »Vorbilder sind wichtig. Für mich als Profi sehe ich darin durchaus eine Verpflichtung. Sowohl im Umgang mit anderen Menschen wie auch dem eigenen Erfolg. Tadelloses Benehmen auf und neben dem Platz – man ist mit vielen Dingen ein Beispiel. Auch mit der Dankbarkeit für all jene, die einem geholfen haben. Mein langjähriger Trainer Willi Hofmann steht an erster Stelle, natürlich meine Frau, auch Sponsoren. Sie alle haben mich weitergebracht. Ich selbst habe immer Gary Player2 bewundert. Er ist etwa genauso groß wie ich, hat hart an sich gearbeitet und musste viele Schwierigkeiten überwinden. Für mich ist er der Inbegriff eines tadellosen Sportmannes.« Golden Bell: 155 Yards / Par 3 war meine Stabilität, und so habe ich es mir auch für meine Familie gewünscht. Mittlerweile bin ich über dreißig Jahre glücklich verheiratet, wir haben vier Kinder, und neben meinem Glauben an Gott ist mir die Familie das Wichtigste – noch vor dem Golfspiel. Darin besteht das Glück meiner späten Jahre: Ich kann loslassen, mal ein Turnier absagen, mich um Privates kümmern. Florida ist längst unser Zuhause. Aber wenn der Begriff Heimat fällt, dann gehen meine Gedanken zurück nach Anhausen. Dort bin ich aufgewachsen, und insofern spielt Deutschland für mich noch immer eine große Rolle.« Firethorn: 530 Yards / Par 5 Familie Nandina: 440 Yards / Par 4 Nächste Generation »Wir werden viel jüngere Topspieler erleben, und sie werden nicht unbedingt aus Europa oder Amerika kommen. Bei den Proetten ist es schon so, dort dominieren die Koreanerinnen. Die Weltrangliste wird von Lydia Ko angeführt. Sie wurde in Seoul geboren und ist achtzehn Jahre alt. Wer die Golfbegeisterung in großen Teilen Asiens vor Augen hat und weiß, wie Golfsport dort gefördert wird, kann sich ausrechnen, dass Gleiches bei den Herren geschehen wird. Egal, ob es noch zehn Jahre dauert, aber der nächste Tiger Woods kommt gewiss aus Fernost.« 18. Holly: 465 Yards / Par 4 Schlussgedanke »Menschliche Beziehungen sind das Wichtigste im Leben, und das fängt bei der Familie an. Ich habe in meiner Kindheit viel Liebe erfahren. Ob erfolgreich oder nicht – mein Zuhause »Immer und an jedem Tag: Ich möchte der beste Bernhard Langer sein, der Bernhard Langer sein kann.« Jack Nicklaus gehörte von den 1960ern bis in die späten 1980er Jahre zu den besten Golfern der Welt. Der Südafrikaner mit dem Spitznamen »Schwarzer Ritter« zählt zu den besten Golfsportlern aller Zeiten. 61 1 2 W E RT E / N ° 12 – 2015 ESSAY / EXCELLENCE EVOLUT I ON Kollege Roboter! Der Mensch hat sich im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte herausragende technische Fähigkeiten angeeignet – nun ist er dabei, sie auf die Spitze zu treiben: Er lernt Maschinen zu bauen, die Kopien seiner selbst sind. Die Schritte zur Realisierung dieser Vision sind faszinierend. TEXT DR. HORST GÜNTHEROTH Bewegen Techniker begutachten einen Roboter mit dem schlichten Namen »HRP-2«. Das zweibeinige Wesen aus Kunststoff, Metall und Elektronik ist 153,9 Zentimeter groß, wiegt 58 Kilogramm und wurde von der japanischen Firma Kawada Industries gebaut. 30 Gelenke verschaffen »HRP-2« große Beweglichkeit. Er kann in unebenem Gelände gehen, selbständig aufstehen und lässig tänzelnd auf einem Bein zu balancieren – dagegen wirken seine menschlichen Betrachter ziemlich steif. 62 63 W E RT E / N ° 12 – 2015 ESSAY / EXCELLENCE EVOLUT I ON Lernen »Curi« wurde vom Georgia Institute of Technology in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia entwickelt. Dank seiner innovativen Software kann der niedlich aussehende Roboter mit den blau leuchtenden Ohren nahezu alle Aufgaben im Haushalt erlernen und sie später selbständig erledigen. Zudem verhält sich »Curi« ähnlich wie ein Mensch, so mag man ihn im Nu – eine Voraussetzung für das harmonische Zusammenleben mit ihm. Fühlen Die künstliche Hand, die diese Glühbirne hält, ist ein Meisterwerk der Shadow Robot Company in London. Das Unternehmen produziert Komponenten für Roboter. Mit ihren 40 künstlichen Muskeln, 24 Gelenken und 129 Sensoren, die die Stellung der Finger und ihre Kräfte messen und kontrollieren, ähnelt die technische Version der menschlichen Hand in ihrer Funktion verblüffend. Die synthetische Hand kann kräftig zupacken aber auch äußerst sanft berühren. 64 65 W E RT E / N ° 12 – 2015 WERTE-G ESPRÄCH / K LAUS K ALDEMORGEN »Herausragende Ergebnisse bei geringem Risiko – das ist für mich Excellence.« den kenne ich aus Gesprächen, aber auch aus Statistiken der Bundesbank. Der größte Teil der deutschen Anleger hält heute nicht viel von Aktieninvestments. Das gilt auch für Aktienfonds. Obwohl sich in Zeiten niedriger Zinsen mit diesen Papieren die höchsten Renditen erzielen lassen, ist ihnen das Risiko zu hoch. Diese Bedenken muss ich berücksichtigen und das Portfolio so zusammenstellen, dass ich einerseits das Risiko gering halte, aber andererseits auch befriedigende Ergebnisse erziele. Das Wichtigste ist, dass der Kunde weiß, was wir tun und warum. Am Ende des Tages muss es uns gelingen, ihn zufriedenzustellen. Das erreichen wir nur, wenn wir unser Geschäft so transparent wie möglich betreiben und die Kunden an unseren Überlegungen teilhaben lassen. Der Schlüssel ist die Kommunikation unserer Ziele, der Chancen und Risiken. Man darf sich nicht in Floskeln und Fachbegriffe flüchten, die die Kunden nicht verstehen. Klaus Kaldemorgen über Erfahrungen, Strategien und klare Worte in der Fondsanlage. Stellen Sie Unterschiede im Risikoverhalten fest? Haben Investoren mit kleinerem Anlagevermögen andere Erwartungen? Vermögende Kunden sind oft auch risikoscheu, haben aber den Vorteil, dass sie in ihren Portfolios Risiken besser diversifizieren und dadurch minimieren können. Eine Fondsanlage hat für vermögende Investoren aber auch praktische Vorteile. Die Alternative wären Investments in Einzelwerten. Allein die Belege über diese Transaktionen würden am Jahresende mindestens einen großen DIN-A4-Ordner füllen, die müsste der Investor dann mit seinem Steuerberater durchgehen. Für vielbeschäftigte Unternehmer wäre diese umfangreiche Dokumentation eine erhebliche Belastung. Von der Fondsgesellschaft bekommen sie eine Abrechnung pro Jahr. TEXT CHRISTIANE OPPERMANN — Was verbinden Sie mit dem Begriff Excellence, wie definieren Sie eine Vermögensanlage, die dieses Attribut verdient? Auf den ersten Blick verstehe ich darunter Investments, die sehr gute, herausragende Ergebnisse bringen. Allerdings geht es dabei nicht um ein Spitzenergebnis zu einem bestimmten Zeitpunkt allein, sondern auch um die langfristige Betrachtung. Eine Vermögensanlage muss gemessen an den Ansprüchen und Erwartungen des Kunden auch über einen langen Zeitraum einen herausragenden Ertrag bringen. Woran messen Sie herausragende Ergebnisse? Üblicherweise werden Vergleiche zu ähnlichen Produkten gezogen und die besten in den jeweiligen Sparten als Maßstab oder die Entwicklung von Marktkennziffern wie etwa des DAX als Bewertungsmaßstab herangezogen. Hinzu kommt, dass Multi-Asset-Anlagen nicht ganz einfach zu vergleichen sind, weil sie aus mehreren Assetklassen zusammengestellt werden. Dieses Benchmarking reicht mir grundsätzlich nicht. Wenn in schlechten Jahren alle Fonds einer Kategorie oder der gesamte Aktienmarkt im Minus sind, könnte die Orientierung an den Besten immer noch bedeuten, dass ein Fonds, der geringere Verluste erzielt und damit über der Benchmark liegt, zum Spitzenreiter wird. Mein Bestreben ist es, immer – auch in schlechten Zeiten – ein positives Ergebnis zu erzielen. Als Manager eines Fonds mit einem Volumen von 2,7 Milliarden Euro müssen Sie die Erwartungen vieler Anleger erfüllen. Kennen Sie die Wünsche Ihrer Kunden? Meine Kunden sind sehr heterogen. Sehr vermögende Investoren gehören genauso dazu wie eine große Anzahl von Anlegern mit kleineren Investments. Die Wünsche der Kun- 78 ZUR PERSON KLAUS KALDEMORGEN Der Essener wurde 1953 geboren und hat Volkswirtschaft studiert, bevor er 1982 zur DWS ging. Durch den Vermögensbildungsfonds I wurde er Ende der 1990er Jahre zum bekanntesten Fondsmanager Deutschlands. 2011 gab er seinen Posten in der Geschäftsführung der DWS auf, um sich wieder auf das Fondsmanagement zu konzentrieren. Seitdem erzielt er mit dem Mischfonds DWS Concept Kaldemorgen bei geringen Schwankungen stabile Renditen. Für »herausragende Leistungen in der Finanzwirtschaft« wurde Kaldemorgen im Februar als Fondsmanager des Jahres 2015 ausgezeichnet. Ertrag und Risiko sind die beiden Seiten derselben Medaille. Excellence in der Vermögensberatung bedeutet also nicht zwingend, dass die höchsten Erträge erzielt werden? Wie erfolgreich eine Anlagestrategie ist, weiß man ganz genau immer erst im Nachhinein. Mein Grundsatz ist, mit einem dem Kunden angemessenen Risiko einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen. Das gesamte Paket muss stimmen, das Ergebnis den Erwartungen der Investoren entsprechen. Außerdem sollten die Ergebnisse planbar sein, hohe Kursschwankungen sind von vielen Kunden nicht gewünscht. Ertrag und Risiko müssen passen, Service und Kommunikation stimmen. Jeder Kunde muss sich mit den Investments identifizieren können. Das gelingt nur mit einem hohen Maß an Transparenz. Ich will die Anleger nicht umerziehen, Ihnen aber verständlich machen, was möglich ist. Der Aktienanteil von zehn Prozent in einem deutschen Durchschnittsportfolio ist gerade in der aktuellen Niedrigzinsphase viel zu gering. Deshalb gelten deutsche Anleger zurzeit als Verlierer im Anlagemarkt. Selbst bei unseren europäischen Nachbarn haben sehr viele Investoren von den Kursgewinnen am Aktienmarkt und bei Immobilien profitiert. Fotos: Stefan Gröpper Sie sind der einzige Fondsinitiator einer deutschen Großbank, der einen Fonds unter seinem Namen aufgelegt hat. Welche Vorteile bietet das? In Großbankenbereich bin ich wohl der einzige. Aber es gibt viele inhabergeführte Fondsgesellschaften, deren Produkte den Namen des Initiators tragen, wie etwa bei Flossbach von Storch oder Carmigniac. Die Grundüberlegung für die Nutzung meines Namens war, dass Anleger mit einer Person mehr verbinden können als mit einer anonymen Bezeichnung. Insgesamt erlaubt mir diese Konstruktion mehr Freiheit. Wenn ich schon mit meinem Namen zeichne, dann muss ich auch die Freiheit haben, meinen eigenen Investmentstil einzubringen. Das heißt natürlich nicht, dass ich mich nicht an die Rahmenbedingungen des Hauses halte, denn ich bin ja auch Teil der Deutschen Bank. Müssen Sie sich an den hausinternen Benchmarks messen? Meine Benchmark ist die Beachtung des Risikos für den Anleger. Mit einem für ihn erträglichen Risiko ein gutes Ergebnis zu erzielen, kann gerade in dieser Zeit, wenn der Zins bei null Prozent liegt, sehr anspruchsvoll sein. Da muss man vielleicht mal gegen den Strom schwimmen. Wie stellen Sie Ihren Fonds zusammen? Wir verfolgen zunächst einen holistischen Ansatz. Die Basis sind Informationen aus vielen Bereichen – Politik, Wirtschaft, Unternehmen, Branchen, Märkte. Ein Fondsmanager muss an vielen Dingen interessiert sein und sich den Blick für das große Ganze bewahren. Die Nachrichten sind heute für alle zeitgleich verfügbar. Vor 30 Jahren war das noch anders. Da gab es noch Zeitverschiebungen, die die Märkte in unterschiedlichem Maße beeinflussen konnten, allerdings war auch das Transaktionstempo langsamer. Heute können Unterschiede durch die Bewertung und die eigene Einschätzung entstehen. Allerdings darf man auch den Herdentrieb an den Kapitalmärkten nicht unterschätzen. Wenn sich ein Trend abzeichnet und sich eine »Meinung« gebildet hat, sind viele sehr schnell bereit, sie zu übernehmen. Die Kunst ist es dann, die Stimmung vorher zu antizipieren und entsprechend zu handeln. Welchen Anteil am Erfolg hat Ihre langjährige Erfahrung? Die darf man nicht überbewerten. Sicher gibt es Situationen, die sich wiederholen, der grundsätzliche Mechanismus von Zinserhöhungen ist im Kern immer gleich, die Attraktivität der Aktienanlagen nimmt ab. Aber die Situation ist stets anders, weil beispielsweise Rahmenbedingungen – die politische und wirtschaftliche Entwicklung, Entdeckungen in Forschung und Wissenschaft oder die gesellschaftliche Stimmung – andere sind. Meine Erfahrung hat sicherlich dazu geführt, dass ich heute viel konservativer vorgehe und versuche, die Risiken für meine Kunden so gut wie möglich zu begrenzen. Vielleicht ist es auch ein Privileg des Alters, dass man weniger risikofreudig agiert und seine Positionen sorgfältiger absichert. 79
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