Leise schnieselt der Ree

Stille Nacht allerseits von Christoph Ernst
Betrunkene Weihnachtmänner ziehen grölend durch die Mönckebergstraße. Sie kommen vom Rathausmarkt. Einige schießen mit halbautomatischen Waffen in die Fassaden der umliegenden Ruinen.
Leise schnieselt der Re-Aktionär seinen Tee, sitzt bei der Lampe noch spät, blättert im Aktienpaket, ordnend Scheinchen auf Schein, fällt Erinnerung ihm ein: Kriegsweihnacht ‘40 war still, dennoch bleibt’s
stark im Gefühl…
Lisa zischt: „Scheiße, wir müssen hier weg!“
„Süverkrüp“, sage ich. „Das ist von Dieter Süverkrüp.“
„Was?“
„Der Text, den die singen.“
„WAS?“
„Das Lied. Das hab‘ ich zum letzten Mal vor über fünfzig Jahren gehört. Als ich so alt war wie ihr.
Woher kennen die das? Was haben die mit Süverkrüp am Hut?“
„Das ist jetzt Latte, Opa!“ Ayse ist aufgesprungen und späht gebückt durch das Autowrack, hinter
dem wir hocken. „Wenn die uns finden, machen sie uns platt.“
Auch Lisa ist längst auf den Beinen. „Los komm! Die wollen sich mit den Salafaschisten vom Steindamm zusammentun.“
Die Salafaschisten suchen ständig nach Abtrünnigen. Mädchen wie Ayse, die keinen Nikab tragen,
stehen ganz oben auf ihrer Liste. Normalerweise bekämpfen sie die Weihnachtsmänner, aber ein
paar Monate nach Ramadan, zu Winteranfang, schließen sie Waffenstillstand, um Ungläubige zu jagen. Dann durchkämmen sie die Zone, und alle, die nicht gottesfürchtig sind, nicht gottesfürchtig
aussehen, oder sich verdächtig machen, Kontakt zu zu wenig Gottesfürchtigen gehabt zu haben,
werden zusammengetrieben. Winter ist die härteste Zeit in der Zone. Der Hunger und die Kälte.
Deshalb die Jagdsaison. Um die Ressourcen zu schonen und den Kannibalismus einzudämmen.
„Wohin?“ Ayse zittert vor Anspannung. „Zum Hafen?“
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„No go“, sagt Lisa. „Zu viele Drohnen. Außerdem ist der vermint. Wir gehen nach Norden. In den
neutralen Bereich.“
Ayse lacht schrill. „Bei dir hackt es ja. Jeder, der das versucht, wird gegrillt.“
„Nicht durch den Zaun. Durch die Kanalisation.“
„Die Kanalisation? Spinnst du? Die ist kontaminiert.“
„Quatsch. So lange hält kein Gift.“
„Und die Sprengfallen? Da lass‘ ich mich doch lieber gleich von den besoffenen Weihnachtmännern
ficken.“
„Die vierteilen dich.“
„Einige sollen die sogar leben lassen.“
„Träum‘ weiter. Selbst wenn…“ Lisa deutet auf mich. „Der Histovet hätte keine Chance.“
Typen wie ich, die noch die Zeit vorm Krieg erinnern, heißen „Histovets“. Historische Veteranen.
Die Dinosaurier des frühen 21. Jahrhunderts.
Ayse kichert böse. „Du glaubst wirklich, der alte Krüppel hilft dir hier raus?“
„Ja! Er weiß, wie wir Kontakt machen können.“
„Wer garantiert dir, dass er nicht auch gechippt ist?“
Ayse und Lisa sind ein Gespann– und ich spüre, wie Lisa, die eigentlich die Ansagerin ist, unsicher
wird.
„Natürlich war ich früher auch gechippt“, erkläre ich. „Aber ich bin das Ding losgeworden.“
„DNA-Chips wird keiner wieder los“, faucht Ayse.
„Es war kein DNA-Chip, sondern noch einer aus der ersten Generation. Ein echter Mikrochip, den
sie in die Blutbahn injiziert haben. Die Teile konnte man raus schneiden, wenn man sie geortet
kriegte. Dafür brauchte man bloß einen Body-Scanner und ein Skalpell.“
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Wir laufen gebückt über den früheren Gerhard-Hauptmann-Platz. Jeder Atemzug sticht in der Lunge, als hätte ich tausend Nadeln in der Brust. Auch Ayses Bronchien pfeifen. Das liegt am Giftqualm, der über der Zone hängt. Geheizt wird nur noch mit Plastikschrott. Papier und Pappe gibt es
nicht mehr. Geschweige denn Holz. Auch das meiste andere, das irgendwie brennbar war, ist längst
verfeuert. Die Winter in der Verwahrzone sind hart. Entweder du frierst oder hustest. Dafür ist es
ständig hell. Überall schweben kamerabewehrte, mobile LED-Cluster, die ihre Umgebung in blaues,
kaltes Licht tauchen. Die meisten sind schon zu Dreivierteln zerschossen, aber sie sondern noch genug Helligkeit ab, um jede beliebige Zielperson jederzeit zu orten. Außerdem wimmelt es von Überwachungsdrohnen. Die Dinger sind kaum größer als ein Fingernagel und fast geräuschlos. Sie passen
sich automatisch der Farbe ihrer Umgebung an.
„Los, hier rein!“
„Bist du irre?“ Ayse bleibt abrupt stehen. „Zu den Zombies?“
„Da ist der Zugang“, keucht Lisa.
„Wo?“
„Hinten.“
Das frühere Theater ist eines der wenigen erhaltenen Gebäude im Niemandsland zwischen dem Gebiet der Weihnachtsmänner und dem der Salafaschisten. Früher diente es eine Zeitlang als Lazarett.
Deshalb haben sich die Aids-Kranken, die Leprösen und andere „Unberührbare“ hierhin zurückgezogen. In der Regel lässt man sie da in Frieden. Aber jetzt ist Jagdsaison, und sie werden ihr Territorium mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Ayse lässt wieder die Karikatur eines Kicherns hören. „Voll krass! Du willst wirklich in die beschissene Kanalisation?“
„Es ist der einzige Weg. Yolo! Komm!“
Die Türen am ehemaligen Theatereingang fehlen. Im geplünderten Foyer stolpere ich über Glassplitter und Unrat. Ich stürze. Es knackt im linken Knie. Lisa zerrt mich hoch.
„Hier entlang!“
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Sie läuft Richtung Zuschauerraum. Ayse folgt ihr fluchend. Ich humpele hinterher. Auf den ersten
Blick wirkt er gespenstisch leer. Alle Sitzmöbel sind fort. Diffuses Halblicht. Links an der Seite ein
Haufen vager Schatten, die an eine ausgekippte Containerladung Altkleider erinnern. Wie damals,
als das Militär über der Zone gelegentlich noch Versorgungsabwürfe machte. Doch es ist kein Berg
Lumpen. Es sind Kranke, die aneinander gekauert vor der Wand hocken. Jetzt rieche ich sie auch.
Auf einmal wird der amorphe Haufen laut. Erstaunte, wütende Rufe, schon lösen sich einzelne Gestalten aus dem Haufen und schwanken auf uns zu.
Lisa stoppt. „Wir wollen keinen Kampf. Wir brauchen bloß Durchlass...“ Entweder erreichen ihre
Worte die Gestalten nicht oder sie wollen uns sowieso ausplündern. Sie zieht eine Pointer-Gun. Der
rote Punkt wandert auf den Oberkörper desjenigen, der vorneweg läuft.
„Freeze!“ schreit Lisa, doch der Mann friert nicht ein. Sie drückt ab. Es macht laut „Plopp“. Der Typ
wirbelt herum, taumelt und stürzt schreiend auf die Seite. Das löst heiseres Zorngeheul aus, aber der
Rest weicht zurück.
„Weiter!“ zischt Lisa. „Dahinten muss es irgendwo sein.“
Wir gelangen ans Ende des Saals. Dort, wo sich früher die Bühne befand, gähnt ein mit Metallstreben verstelltes Loch. Lisa deutet auf die feuerfeste Tür an der Wand, die mit einem doppelten TTräger verkeilt ist.
„Wie kriegen wir die auf?“
Ayse dreht sich ängstlich um. Niemand folgt uns, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Aussätzigen besinnen. Ich schleppe eine verbogene Stahlstange heran. Es kostet mich drei Hustenattacken, doch gemeinsam gelingt uns, den Träger beiseite zu hebeln. Polternd kracht er gegen die
Wand. Die Tür schwingt auf. Ich erkenne eine betonierte Treppe. Stufen, die hinab führen. Keine
LED-Cluster. Nicht mal Notbeleuchtung. Nur mattschwarze, dumpfe, modrig riechende Dunkelheit.
„Ich geh‘ da nicht rein“, stößt Ayse hervor. „Nie im Leben!“
Im selben Moment dringen vom Eingang des Theaters her trockene Schusssalven. Gefolgt von irrem
Kreischen und Gebrüll. Die Weihnachtsmänner.
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Die Weihnachtsmänner sind selbst der Allianz zu heftig, und die schwört auf Torquemada und hat
die Inquisition wieder eingeführt. Ich nicke Lisa wortlos zu und gebe Ayse einen Stoß. Lisa packt sie
am Arm zieht sie mit. Ich greife nach dem Geländer und humpele hinterher. Eine gefühlte Ewigkeit
später sind wir an der Sohle der Treppe. Der Bodenbelag ist feucht und glatt. Von den Wänden
tropft Wasser, doch die Luft ist spürbar wärmer. Lisa besitzt eines der altertümlichen Telefone, die
über eine Lampe verfügen und leuchtet den Gang vor uns aus. Sie will sofort weiter. Ich halte sie zurück.
„Warte. Lass’ erst checken, ob hier genügend Sauerstoff ist…“ Ich hole mein Feuerzeug raus. Die
Flamme flackert, doch züngelt tapfer. „Okay. Wir können.“
Der Gang führt in den Keller, der Teil eines alten Luftschutzsystems zu sein scheint, das sich unter
mehreren früheren Häuserblocks hinzieht. Jedenfalls gibt es diverse Gasschleusen, gesichert durch
abgerundete Stahltüren. Irgendwann landen wir in einem etwa zwanzig Meter langen Gang, dessen
Ende behelfsmäßig vermauert ist.
„Das muss es sein“, sagt Lisa.
„Was?“
„Der Einstieg zum U-Bahn-Tunnel.“
Ayse schüttelt den Kopf. „Die sind doch geflutet!“
„Nicht alle.“
Lisa deutet auf eine verrostete, viereckige Luke im Boden. Während die Mädchen debattieren, versuche ich die Platte aus der Halterung zu lösen. Endlich schwingt sie rum und knallt quietschend auf
den Rücken. Ein schmaler Schacht tut sich auf. An der Wand stark korrodierte Steigeisen. Unter
uns gurgelt es.
„Ich bin am schwersten. Ich gehe zuerst.“
Als ich etwa zwei Meter hinabgestiegen bin, bricht eines der Eisen weg, ich rutsche ab und baumele
mit den Beinen in der Luft. Die nächste Sprosse hält. Anderthalb Meter weiter enden die Sprossen.
Der Schacht mündet in einen Gang, durch den Wasser fließt. Kein U-Bahn-Tunnel. Eher ein Abwasserkanal. Es ist duster. Ich weiß nicht, ob ich dort unten überhaupt stehen kann. Das Wasser ist
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eiskalt. Die Strömung zerrt an meinen Beinen. Doch zurück kann ich nun nicht mehr, also hole ich
tief Luft und lasse mich fallen. Als ich bis an die Hüften eingetaucht bin, stoße ich auf Grund, doch
mein Knie gibt nach. Ich knicke ein, stürze, komme prustend wieder hoch, taste mich durchnässt zurück zum Schacht.
„Passt auf mit dem Licht.“
Eine Minute später sind die Mädchen neben mir. Ayse fragt: „Wohin jetzt?“
„Folgen wir der Strömung“, sagt Lisa nur. „Die wird irgendwohin führen, wo es raus geht.“
„Und das Nervengift?“ bibbert Ayse.
„Würde das noch wirken, wären wir längst tot“, sage ich.
„Sicher?“
„Absolut.“
Mir graut viel mehr vor den Minen, Laserschneidern, Drohnen und Decodern, und all dem anderen
Schweinkram, den sie hier unten installiert haben, als sie die Zone abriegelten, damit es ja keiner raus
schaffte. Nach der zweiten Angriffswelle. Damals stand noch einiges von Hamburg und die Allianz
wollte die Stadt halten.
Zunächst sollte die Zone nur provisorisch sein, für all jene, die als Sicherheitsrisiko galten. Die Muslime, aber auch die Gottlosen, die Agnostiker, die Ungetauften und ethnischen Bastarde wie Lisa,
die einen tunesischen Vater und eine deutsche Mutter hatte, die Schwulen und die Lesben, und
Mädchen wie Ayse. Ich landete hier, weil die Garden des Heiligen Bonifacius eine alte Satire-Zeitschrift bei mir fanden, auf deren Front der Papst mit befleckter Soutane abgebildet war. Eigentlich
sollte ich sofort erschossen werden, doch ein Neutronenbombenangriff rettete mir den Hals. Sie
brauchten Räumkommandos für die Toten. Dann verfrachteten sie uns in die Zone. Um Munition
zu sparen.
Das Konzept der Zone war einfach. Man sperrte verfeindete Gruppen in das zerbombte Zentrum,
riegelte das Areal ab und überließ die Häftlinge sich selbst. Wer das Gemetzel überlebte, schloss sich
einer der zwei Banden an, die die Zone unter sich aufteilten. Westlich vom Rathausmarkt herrschten die Weihnachtsmänner. Der Nordosten bis Hohenfelde gehörte den Salafaschisten. Dazwischen
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gab es einen schmalen Streifen Niemandsland, in dem die Verdammten hausten. Dort waren Ayse,
Lisa und ich gestrandet.
Wir tasten uns durch das brusthohe Wasser. Ratten huschen die Wände entlang. Ihr Fiepen entlockt den Mädchen Ekellaute. Wenn wir nicht bald den Zugang zum alten U-Bahn-Tunnel finden,
erfrieren wir. Lisas Leuchte wird immer schwächer. Mein Knie schmerzt zwar nicht mehr, aber ich
spüre, wie meine Kräfte schwinden. Der Hunger und die Kälte.
Ich denke an die Schlaraffenzeit vor dem Krieg, als alle satt waren und viele so fett, dass es sie krank
machte. Täglich vernichtete man tonnenweise Brot. Sogar Obst, Fleisch und Fisch. Delikatessen,
von denen man heute bestenfalls träumt. Ob Lisa oder Ayse jemals eine Tomate gesehen haben, ist
fraglich. Tomaten sind auch außerhalb der Zone Luxus, weil die meisten Böden vergiftet sind und
niemand mehr weiß, wie man sie zieht.
Gestern wollte Lisa wissen, ob wir es nicht geahnt hätten. Nein, sagte ich ihr. Kaum einer hat es geahnt. Die warme, satte Welt schien normal. Niemand kam auf die Idee, dass sich daran je etwas ändern könnte. Kostbare Kalorien wie Mais und Raps wanderten als Treibstoff in die Tanks der SUVs.
Das fanden einige zwar pervers, trotzdem baute keiner kleinere Autos. Und selbst die Garden der religiösen Wiedererweckung, die Eso-Ökos und Neo-Puritaner, die sich mit den bewaffneten Lebensschützern, der Anti-Porno-Front und dem einzig wahren Opus Dei zusammentaten, um Bordelle zu
säubern, Abtreibungskliniken in die Luft zu jagen und Steak-Häuser abzufackeln, fuhren alle SUVs.
Die Katastrophe entfaltete sich nicht über Nacht. Die Mächtigen wollten es nicht sehen. Als sie es
doch taten, war es zu spät.
Wie das Ende anfing, fragte Lisa. Ich weiß nicht, ob ich das zusammenbekomme, und ob es überhaupt noch eine Rolle spielt. Parallel zur Währungskrise eskalierte der Krieg um Syrien. Die Türkei
rief die Nato zur Hilfe. Das versetzte die Russen in Panik und mobilisierte die Iraner. Die Hizbollah
bombardierte Tel Aviv. Israels Luftwaffe flog Vergeltungsschläge gegen Teheran. Kurz darauf übernahmen die Salafisten Ägypten. Saudi-Arabien, die Emirate und der Irak zerfielen. In Pakistan
putschten Generäle und griffen Indien an. Vier Wochen später fegten die Mujaheddin sie beiseite
und bildeten mit den Taliban die sunnitische Front. Iran fühlte sich umzingelt.
Wer die erste Atombombe warf, ist unklar. Aber da war die Ölversorgung längst zusammengebrochen und die Weltwirtschaft abgestürzt. In Athen und Madrid rollten Panzer. Italien rationierte Le7
bensmittel. Das Militär erschoss Demonstranten. Nachdem die Türkei sich mit Aserbeidschan gegen die GUS zusammengetan hatte, eskalierten die Kämpfe im Kaukasus. Polen besetzte die Westukraine. Russland annektierte die Krim und Georgien. Die Nato, die durch die Kriege in Mali und
Nordafrika heillos zerstritten war, zerbrach vollends, als Putin präventiv Bremen bombardierte und
mit mehr drohte, falls Berlin den Polen beistand.
Doch die Regierung war sowieso nur noch eine Farce. In Bayern griff die Marienbewegung um sich,
über die wir anfangs noch witzelten, bis man mit Zwangstaufen für Muslime anfing und auch Protestanten bedrängte. Die Lutheraner taten sich mit den Freikirchen zusammen und organisierten
anti-katholische Pogrome. Daraufhin riefen die Südstaaten unter Führung Österreichs die Allianz
aufrechter Christen aus, die weite Teile des Nordens besetzte. Schleswig-Holstein zerbrach. Die
Mecklenburger suchten Anschluss an Schweden, doch auch dort zerfaserten die staatlichen Strukturen und es gab nur noch konkurrierende Warlords.
Wir sind dem Hauptstrom gefolgt, haben zwei Abzweige passiert und stehen vor einem Gitter. Dahinter ist eine Freifläche und Wasser. Wenn mich nicht alles täuscht, dürfte das die Binnenalster
sein. Ayse rüttelt an den Streben. Sie schreit, dass wir hier nie rauskommen. Lisa versucht sie zu beruhigen, aber Ayse lässt sich nicht beruhigen. Bis Lisa sie ohrfeigt. Ayses Heulkrampf wird zu Wimmern.
„Was jetzt?“
Ich habe keine Ahnung. Die Kälte ist mörderisch. Meine Zähne tanzen aufeinander. Blei kriecht mir
in die Glieder. Wenn wir nicht bald ins Trockene gelangen, werden wir hier wirklich sterben.
Lisas Plan war, dass wir nach Osten durchschlagen. Im Lauenburgischen und am Westrand von
Mecklenburg soll es Kommunen geben mit Vogelfreien, die nach eigenen Regeln leben. Sie nehmen
flüchtige Gottlose auf, weil Religion für sie keine Rolle spielt. Bei ihnen darf jeder glauben, woran er
will, solange er andere nicht agitiert.
Einige dieser Gemeinschaften existierten bereits vor der Katastrophe, andere haben sich erst danach
gebildet. Die Gegend war seit jeher dünn besiedelt und für die Allianz nie interessant. Mit dem Untergang Lübecks blieben auch die Banden urbaner Marodeure weg. So haben sich dort Strukturen
erhalten, die anderswo längst zerstört sind. Materiell herrschen angeblich paradiesische Zustände: Es
gibt Kartoffeln und Steckrüben im Überfluss, genug Brennholz für alle und so viel Trinkwasser, dass
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die Leute es sogar zum Waschen benutzen. Ich kenne die Region noch aus der Schlaraffenzeit und
trage keinen Chip. Darum will Lisa, dass ich den Kontakt herstelle.
Wir zerren verzweifelt am Gitter. Das bringt nichts, bis ich endlich auf die Idee komme, es unter
Wasser zu versuchen, wo die Halterungen stärker verrostet sind. Tatsächlich gibt eine Verankerung
nach. Lisa hilft mir. Wir würgen das Gitter hoch. Ayse sieht uns stumpf zu. Erst als Lisa sie anschreit, besinnt sie sich.
Zehn Minuten danach sind draußen. Ich zitterte vor Kälte, mein Knie schmerzt und das Gehen fällt
schwer, aber wir haben es tatsächlich geschafft. Wir bewegen uns vorsichtig nach Norden, am Ufer
entlang, an den Brücken vorbei, passieren die zerschossene Front des Atlantic Hotels und horchen
in die Nacht. Die Stadt ist eine mattschwarze Masse Schutt, nur die Zone liegt in fahlblaues Licht
getaucht. Entfernt hört man Johlen, Schreie und Schüsse.
Ungefähr siebzig Kilometer, sage ich mir. Ein Marsch von zwei bis drei Tagen. Werde ich das mit
dem lädierten Bein schaffen? Welche Route nehmen wir? Wir brauchen Proviant. Wenigstens Wasser. Da. Hinter mir sind Geräusche. Schritte. Rasche Schritte. Ich erstarre innerlich. Eine Eishand
packt mich und ich bin wie gelähmt, obwohl ich genau weiß, dass mir nur noch drei Sekunden bleiben, um das Fluchtmenü zu aktivieren. Wieso, verdammt, wieso ausgerecht jetzt?
Die Tür schwingt auf. Mutter. „Dennis, Schatz“, mahnt sie. „Spielt du etwa immer noch? Lass’ die
Playstation endlich. Gleich ist Bescherung!“
(ich kann das freudvolle Politszenario gern aktualisieren)
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