Raimund Allebrand aus: Burnout : Ganz normaler Wahnsinn Leitfaden für die soziale Eiszeit (in Vorbereitung 2012) Kapitel 4: Coolness Die Diktatur des Frohsinns – Liebe ist nur ein Wort – Kein Gefühl – Emotional farbenblind – Wo kaufe ich mir ein Gefühl? Die Diktatur des Frohsinns Optimisten leben länger! Seit Jahrzehnten kündet eine Flut von Ratgebern und Motivationstrainern von der Macht des positiven Denkens. Die Auswirkung einer positiven Einstellung auf Gesundheit, Einkommen und zwischenmenschliche Beziehungen liegt auf der Hand und gilt als unbestreitbar. Ein direkter Zusammenhang zwischen Denkstil und Lebensglück ist unausweichlich. Aber auch ohne statistische Erhebungen zu bemühen oder die Langzeitbeobachtung von Lebensläufen, wirkt ein frohes Lied auf den Lippen auf uns sympathischer als ewige Schwarzmalerei. Zudem ist Glück durchaus lernbar, wie uns zahllose Ratgeber auf dem Buchmarkt versichern: Positive Gefühle führen zu positivem Denken (oder auch umgekehrt) und prägen in vielen kleinen Schritten eine Perspektive, aus der gute Erfahrungen erst möglich sind, die wiederum Fühlen und Denken bestimmen – ein Kreislauf der Lebensbejahung, vermeintlich neurobiologisch belegt. Soweit so gut. Ob das Glas halb voll ist oder halb leer hängt bekanntlich weniger von einer stets umstrittenen Realität ab als von meiner subjektiven Einstellung zu den Dingen. Dass Optimisten längere Lebensdauer verbuchen, konnte indes bis heute nicht bewiesen werden. Zudem kennt selbst die positivste Lebenshaltung ihre Schattenseiten. Dies erlebt beispielsweise die nordamerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich, als sie unverhofft 1 lernen muss, mit den Folgen einer Krebserkrankung umzugehen. Von ihrer unmittelbaren Umgebung erfährt sie dabei wenig Hilfestellung, denn eine in den USA weit verbreitete Kultur des positiven Denkens lässt Frustration gar nicht erst aufkommen. Negative Erfahrungen sind unerwünscht und ihre Artikulation wird durch soziale Kontrolle weitgehend verhindert. Noch bevor Ehrenreich ihre Reaktion angesichts der lebensbedrohenden Krankheit in Worte fasst, wird sie bereits aufgefordert, den Krebs als Chance zu begreifen: Lächle oder stirb, aber bitte möglichst ohne Klagen und mit positiver Ausstrahlung! In ihrem Buchtitel Smile or die! schildert die Autorin zahlreiche Facetten einer Ideologie des schier grenzenlosen Optimismus (Ehrenreich 2010). Ehrenreich sieht die Wurzeln eines in den USA ungemein erfolgreichen Lebens‐Positivismus im religiösen Bereich. Sie bemüht einen Vergleich mit der zuweilen düsteren Weltsicht eines traditionell amerikanischen Calvinismus. Das Ziel der irdischen Existenz besteht hier in permanenter Selbstprüfung und Selbstüberwindung. Lediglich beharrliche Erwerbstätigkeit und ein auf harte Arbeit bauender Wohlstand kann zeigen, ob der Gläubige von Gott auserwählt ist. Zwischen Hölle und Paradies klafft ein Abgrund: Vergnügen und Leidenschaft, Frohsinn und Zerstreuung sind diesem Konzept christlicher Lebensführung gründlich suspekt. Wer unter solch rigider Disziplin aufwächst, muss sein Gefühlsleben unter ständiger Kontrolle halten. Abweichende Emotionen, Wünsche oder Phantasien enden auf direktem Wege in der Sündhaftigkeit und diese in der ewigen Verdammnis. Die Suggestivität einer positiven Weltsicht, die negative Erfahrungen nicht zulassen kann, ist nach dem Urteil der Autorin eine späte profane Antwort auf das calvinistische Konzept vom Menschen. Der Gläubige strebt nach moralischer Läuterung, um Gott rechtzeitig zu finden, ohne den allenthalben lauernden Versuchungen des irdischen Jammertales zu erliegen. Demgegenüber erfordert das Bekenntnis zum positiven Denken ebenfalls permanente Selbstprüfung, um negative Empfindungen von sich fernzuhalten, gleichsam wie der Teufel das Weihwasser. Auch dem Positivdenker sind Gefühle suspekt, und er ist angehalten, sein Innenleben unablässig zu überwachen (Ehrenreich 2010:105). 2 Eine konsequente Befolgung der Lehre erfordert das Ausblenden von alltäglichen Empfindungen und Erfahrungen und führt über eine Art pseudoreligiöse Autosuggestion schließlich in eine Tyrannei des positiven Denkens, die authentische Selbstwahrnehmung unmöglich macht. Was auf der Strecke bleibt, ist die eigene innere Realität. Dem gegenüber postuliert Ehrenreich ein Recht auf negative Empfindungen und schmerzliche Erfahrungen. Sie sind Teil des Lebens und dürfen nicht allein zugelassen, sondern ohne jedes Schuldgefühl auch artikuliert werden – was allerdings im soziokulturellen Mainstream der USA nicht ratsam erscheint. Entdeckte Max Weber in der traditionellen protestantischen Ethik die Triebfeder eines kapitalistischen Wirtschaftssystems (Weber 1905), so sieht Barbara Ehrenreich in der calvinistischen Selbstprüfung die Wurzel des positiven Denkens. Zweifellos präsentiert sie dabei eine zugespitzte Argumentation, die ihre extremen Erfahrungen mit einer Variante nordamerikanischen Frohsinns spiegelt. Was das Selbstverhältnis des Menschen und seinen Umgang mit der eigenen Empfindungswelt betrifft, sind ihre Schilderungen allerdings exemplarisch. Jede Selbstzensur und Reduzierung auf positive Empfindungen führt auf Dauer zu eingeschränkter Wahrnehmung der eigenen Emotion. Eine Verkürzung des Lebensvollzugs auf ausschließlich positive Wahrnehmungen und Gedanken hat zum Ergebnis nicht allein galoppierenden Realitätsverlust, sondern eine schleichende Reduzierung des eigenen Selbst, das gerade aus emotionalen Kontrasten eine hoffentlich lebenslange Dynamik schöpft. Liebe ist nur ein Wort Den Titel seines Bestsellers hat Johannes Mario Simmel gut gewählt. Je nach persönlicher Lebenserfahrung sagt Liebe vermutlich für jeden etwas anderes – es kommt darauf an, was man mit diesem Wort jeweils verbindet. Für den mittelalterlichen Kirchenlehrer Thomas von Aquin beispielsweise ist Liebe kein Gefühl, sondern ein Willensakt. Lieben heißt laut Thomas jemand anderem Gutes wollen (Summa theologica II‐II, q. 26, art. 6, arg. 3). Von Gefühlen – für Thomas: Passionen – ist hier zunächst keine Rede, obwohl auch der Theologe weiß, dass Lieben mit 3 Empfinden einhergeht. Nur ist die Liebe selbst für Thomas eben kein Gefühl, sondern eine Option des Willens. Spätestens seit dem Zeitalter der Romantik dürfte man dies ein wenig anders sehen. Romantische und damit gefühlsbetonte Varianten der Liebe hat es aber wahrscheinlich immer gegeben – und gibt es hoffentlich auch weiterhin! Gelegentlich stellte sich mir dennoch die Frage: Haben alle Menschen womöglich zu allen Zeiten unter gleichen Bedingungen ähnliche Gefühle, artikulieren sie aber unterschiedlich – und manchmal gar nicht? Oder kann man im Leben auch ganz ohne Emotion und Empathie zurechtkommen, wenn man etwa kein Gefühl in sich findet? In seiner Zeitskizze Deutschland auf der Couch beschreibt Stephan Grünewald die Mentalität unserer Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Tenor dieser Untersuchung, die sich auf 20.000 Tiefeninterviews eines Kölner Forschungsinstituts beruft, ist eindeutig. Demnach charakterisiert ein Verlust von sinnlicher und leidenschaftlicher Selbstwahrnehmungen das zeitgenössische Lebensgefühl der Deutschen. Der coole Mensch hat seine Leidenschaften abgelegt und damit seinen primären seelischen Antrieb abgewürgt (Grünewald 2006). Wie entsteht aber diese Distanzierung vom unmittelbaren Gefühlsausdruck, woher kommt sie – und wem nutzt sie? Diese Fragestellung wird mich bis zum Ende dieser Erörterung begleiten. Kein Gefühl Was geschieht, wenn Gefühle fehlen, wurde zum Thema des Feuilletons. Wenn Männer keine Gefühle haben, titelt Spiegel online im März 2005; Kein Gefühl, nirgends vermisst Die Zeit im Februar 2006, und über Gefühlsblindheit berichtet eine Reportage in stern.de im Dezember 2007. Ein nicht geringer Teil unserer Mitmenschen kann demnach Gefühle kaum artikulieren, mehr noch: Emotionen werden bei sich selbst und bei anderen gar nicht wahrgenommen. Folgt man den erwähnten Reportagen, so hat ein erheblicher Teil der Bevölkerung Probleme, Gefühle überhaupt zu lokalisieren. Etwa jeder 4 zehnte Deutsche leidet unter: Alexithymie. Dieser Fachbegriff, in wenigen Lexika zu finden, steht für ein offenbar verbreitetes Phänomen, das umgangssprachlich als Gefühlsblindheit oder emotionales Analphabetentum umschrieben wird. Erst in jüngster Zeit fand dieses Persönlichkeitsmerkmal Beachtung und wurde von den Medien thematisiert. Der US‐amerikanische Psychiater Peter Sifneos leitet das Kunstwort Alexithymie Anfang der 1970er Jahren aus dem Griechischen ab: Keine Worte für Gefühle. Damit bezeichnet er jedoch nicht ein individuelles Krankheitsbild, sondern ein strukturelles Wahrnehmungsdefizit, ähnlich der Farbenblindheit, das er im klinischen Kontext erforscht. Bereits in den Anfängen der Psychoanalyse fiel manchen Behandlern ein „phantasiearmer“ Patiententyp auf, der offenbar über wenig Affekt verfügte. Von einer therapeutischen Beziehung, die analytisch mit der aktuellen Übertragung von Gefühlen arbeitet, konnte dieser Personenkreis kaum profitieren. Durch empirische Forschung der zurückliegenden Jahrzehnte wurde das Phänomen klarer beschrieben und in seiner Verbreitung näher bestimmt. Alexithymie bringt demnach bei starker Ausprägung eine erhebliche Einschränkung, affektive Zustände und Signale bei sich und anderen festzustellen; unterschiedliche Gefühle werden weder bewusst wahrgenommen noch klar differenziert, ein Ausdruck emotionaler Betroffenheit über Mimik und Gestik findet nur eingeschränkt oder gar nicht statt. Im Sozialverhalten kommt eine Wahrnehmung der eigenen emotionalen Befindlichkeit nicht zum Ausdruck. Für das affektive Verständnis anderer Menschen kann diese Selbsterfahrung nicht eingesetzt werden. Es fehlt die Fähigkeit zur Empathie. Gespräche mit Gefühlsinhalt werden deshalb von den Betroffenen vermieden, das eigene Denken ist zumeist phantasielos und kreist um sachliche oder abstrakte Inhalte. Eine emotionale Kommunikation ist bei alexithymer Veranlagung stark eingeschränkt, weil der Bezug zur eigenen Affektwelt blockiert ist. Gefühle werden nicht erkannt. Sie wurden niemals gelernt (Franz 2009). Der Alexithyme erlebt andere Menschen gleichsam als Doppelgänger 5 seiner selbst, denn er kann sich in Fremdes nicht einfühlen. Sein soziales Handeln speist sich nicht aus emotionalen Impulsen, sondern aus einer Anpassung an Vorgaben und Gepflogenheiten seiner Umgebung, gegebenenfalls durch Imitation. Eine enge Bindung an wenige Personen kann in diesem Fall helfen, die Erwartungen des Umfeldes „richtig“ zu erfüllen, ohne dabei sozial auffällig zu werden. Hervorstechendes Merkmal einer alexithymen Beeinträchtigung ist ferner eine Unfähigkeit, Gefühle von den begleitenden körperlichen Empfindungen zu unterscheiden. Psychosomatische Erkrankungen und somatoforme Beschwerden führen dann nicht selten zum Arzt, der eine entsprechende Diagnose allerdings nur stellen kann, wenn er um bislang wenig bekannte Zusammenhänge weiß. Alexithymie wird deshalb selten erkannt und bleibt auch im gesellschaftlichen Umgang weitgehend unauffällig. Das Fehlen empathischer Fähigkeiten und eine eingeschränkte soziale Kompetenz bringen allerdings für die Betroffenen früher oder später Konflikte in ihren persönlichen Beziehungen. Um die Reichweite von Alexithymie unter der Allgemeinbevölkerung zu bestimmen, wurden verschiedene psychometrische Messverfahren entwickelt. Die derzeit valide Toronto‐Alexithymie‐Skala (TAS 20) etwa bietet dem Probanden 20 Fragen, deren Beantwortung über eine Zahlenskala auswertbar ist, und berücksichtigt dabei vier Faktoren: Probleme bei der Beschreibung von Gefühlen, Wichtigkeit emotionaler Introspektion für den Probanden, ein nach außen orientierter Denkstil sowie Schwierigkeiten bei der Identifikation körperlicher Empfindungen. Eine repräsentative Erhebung zur epidemiologischen Verteilung von Alexithymie unter der deutschen Bevölkerung wurde unter Beteiligung der Universität Düsseldorf 2008 durchgeführt und bestätigte den oben bereits zitierten Befund: Etwa zehn Prozent aller Erwachsenen sind demnach in starkem Ausmaß alexithym (Franz et al 2008). Emotional farbenblind Unter dem Eindruck dieses Panoramas ist meine erste Reaktion Betroffenheit, aber auch Skepsis, denn angesichts dieser Reichweite muss 6 ich in meinem persönlichen Umfeld zuweilen auf alexithym veranlagte Menschen treffen. Freilich handelt es sich hier um ein Konstrukt und die Wissenschaft kann irren, aber manche Begebenheit mit Bekannten und Klienten zeigt sich jetzt in neuem Licht. Nicht zu reden von etwaiger Betroffenheit meiner eigenen Person – ein spontaner Zweifel, der sich unter Verwendung von TAS 20 hoffentlich ausräumen lässt. Jenseits aller Spekulation über die eigene Gefühlsechtheit bieten die vorliegenden Befunde zur affektiven Farbenblindheit aber Gelegenheit, den Begriff der Emotion klarer zum fassen. Offenbar fallen Gefühle nicht vom Himmel, und genauso wenig sind sie uns, wie man denken könnte, von Geburt an mitgegeben. Der Psychosomatiker Matthias Franz nennt aber fünf so genannte Basisaffekte, die in der Tat genetisch programmiert sind und bereits dem Neugeborenen zur Verfügung stehen: Angst, Wut, Ekel, Freude und Trauer. Insgesamt eine Erbschaft, die entwicklungsgeschichtlich eine Überlebenschance des Säuglings erhöhen kann, bevor ihm bewusste Wahrnehmungen zu Gebote stehen. Die jeweilige Empfindung ist aber rein affektiv, bewegt sich im körperlichen Bereich und kann als Gefühl noch nicht auf sprachsymbolischer Ebene differenziert werden. Emotionen müssen demnach, wie beinahe alles im Leben, gelernt werden, wenn auch normalerweise bereits im Stadium des frühen Kleinkindes. Vom Basisaffekt zum zwischenmenschlichen Mitgefühl führt ein langer Weg. Eine spontane körperliche Abwehreaktion wie beispielsweise Ekel angesichts einer verdorbenen Speise unterscheidet sich von einer komplexen emotionalen Selbstwahrnehmung, etwa der Empfindung von Nostalgie beim Genuss von Apfelkuchen nach Omas Rezept, obwohl beide als Reaktion auf Nahrungsaufnahme entstehen. Auch eine von mir gefühlte freudige Genugtuung über die Annahme dieses Manuskriptes, das von zahlreichen Verlagen abgelehnt wurde, ist differenzierter, als es einst meine bewusstlose Freude über die angebotene Mutterbrust oder die Babyflasche war. In allen Fällen geht es um Selbstwahrnehmungen, die wir umgangssprachlich gerne als Gefühl bezeichnen, obgleich sie sich teils noch im emotionalen Vorstadium bewegen. 7 Ohne Verständnis eines Affektes, den das Kleinkind erst nach und nach zu interpretieren lernt und schließlich benennen kann, fehlt das Gefühl. Dem späteren Erwachsenen wird es an Introspektion mangeln, weil deren Voraussetzung nicht gegeben ist. Der Weg zum emotionalen Verständnis seiner selbst bleibt ihm versperrt. Gefühle, die man nicht erkennt, können dem eigenem Selbstverständnis nicht integriert werden, sie werden nicht verarbeitet. Somatoforme Beschwerden führen schließlich irgendwann zum Arzt. Unter diesem Aspekt lässt sich das beunruhigende Phänomen der Alexithymie auch als Missverständnis interpretieren, als ein blinder Fleck im Verhältnis zum eigenen Selbst. Emotionen, die sich aus einmal erkannten Affekten entwickelt haben, werden in mir vorsprachlich repräsentiert und später mit Worten benannt, ergeben also schließlich einen Begriff samt der dazugehörigen Empfindung. Hingegen bleibt der Affekt des alexithymen Erlebens gleichsam in der körperlichen Wahrnehmung stecken. Anstelle eines emotionalen Impulses von Wut hat man lediglich die körperliche Wahrnehmung von Magenkrämpfen, ohne ein Bewusstsein, was dies bedeuten könnte, ohne Begreifen einer Emotion, die deshalb nicht vorhanden ist. So lernt ich traurig den Verzicht – kein Ding sei, wo das Wort gebricht (Stefan George). Alexithyme Gefühlsblindheit wird im Einzelfall durch frühe Traumata erworben, aber auch durch Verdrängung oder Unterdrückung von Emotionen in fortgeschrittenen Lebensstadien (sekundäre Alexithymie). Wer allerdings – aus welchen Gründen auch immer – um Gefühle lebenslang einen Bogen macht, wird sich mit der Zeit infolge dieser Selbstzensur schwer tun, seine eigene Befindlichkeit überhaupt mit einiger Deutlichkeit wahrzunehmen. Dass die Fähigkeit zur Empfindung und zum Ausdruck der eigenen Gefühlswelt unter Menschen sehr unterschiedlich entwickelt ist, müssen nicht selten Frauen erfahren, die etwa in Begleitung ihrer männlichen Lebenspartner in meine Beratungspraxis kommen, weil sie sich gegenseitig über Emotionen nicht verständigen können. Im Fall einer alexithymen Veranlagung geht es aber nicht um episodisch auftretende Kommunikationsprobleme, sondern um ein strukturelles Defizit, weil 8 Bereiche des eigenen Selbst nicht ausgeprägt sind. Obwohl Alexithymie keine eigentliche „Erkrankung“ darstellt, ist sie Risikofaktor für die Entstehung vieler psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, weil emotionale Kommunikation die entscheidende Schlüsselkompetenz zur symptomarmen Bewältigung von Stress und zwischenmenschlichen Konflikten darstellt (Franz 2010:13). Forschungsergebnisse der Neurobiologie und Bindungsempirie legen nahe, dass in manchen Fällen frühkindliche Entwicklungsschritte nicht stattgefunden haben. Die körperlich wahrgenommene Befindlichkeit des Säuglings wird in einem differenzierten Prozess von der Mutter gespiegelt; erst durch diese Markierung der Basisaffekte lernt das Kind nach und nach, wie es sich fühlt. Besondere Bedeutung hat dabei die Mimik der Mutter. Von ihrem Gesicht liest der Säugling gleichsam ab, wie es ihm geht, und erlernt sowohl Wahrnehmung als auch Unterscheidung und Mitteilung seiner Affekte. Gleichzeitig wird eine weitere Entwicklung jener Gehirnregionen stimuliert, die für eine Fähigkeit zur emotionalen Selbst‐ und Fremdwahrnehmung maßgeblich sind. Erst in einem späteren Stadium reift die Fähigkeit, das eigene Verhalten und das anderer Menschen durch Zuschreibung von Gefühlen zu interpretieren (so genannte Mentalisierung), und diese Kompetenz zur Regulierung von Beziehungen einzusetzen (Franz 2010). Die Ergebnisse der Alexithymie‐Forschung geben uns Aufschluss darüber, warum ein zutiefst menschlicher Lebensvollzug wie Empathie zwischen physisch getrennten Individuen überhaupt möglich ist. Mag sein, dass so genannte Spiegel‐Neuronen verantwortlich sind, wenn mir die Tränen kommen, weil mein Gegenüber zu weinen beginnt. Da man aber in Andere bekanntlich nicht hineinschauen kann, sind Vermutungen über deren Befindlichkeit weitgehend abhängig von unserer Wahrnehmung: Sprachliche Mitteilung, Körperhaltung und Gestik, aber vor allem der mimische Ausdruck des Gesichts entscheiden darüber, was bei mir vom Anderen „ankommt“. 9 Wenn aus dieser Wahrnehmung eine spontane Einfühlung werden soll, muss ich jedoch die jeweilige Emotion in mir selbst bereits kennen, um sie im Anderen zu erkennen. Selbst dann ist noch ungewiss, ob es sich nicht um eine Projektion handelt, mit der ich von mir auf andere schließe und nur das sehe, was ich zuvor im anderen deponiert habe. Ob ich den Anderen emotional verstanden habe, zeigt er mir aber letztlich selbst: Indem er, wie auch immer, zum Ausdruck bringt, dass er sich von mir verstanden fühlt. In der emotionalen Abkühlung eines coolen Zeitalters werden diese elementaren, für einen zwischenmenschlichen Umgang unverzichtbaren Prozesse aber zusehends erschwert. Ein postmodernes Selbstverhältnis, das sich selbst und anderen mit Coolness begegnet, ist unter Einsatz bildgebender Verfahren heute bereits diagnostizierbar: durch magnetresonanz‐tomografische Abbildung jener Gehirnareale im Limbischen System, die nicht aktiviert sind, wenn keine emotionale Beteiligung stattfindet. Wo kaufe ich mir ein Gefühl? Im Jahre 1928 notiert Walter Benjamin unter den Bedingungen der Weimarer Republik: Aus den Dingen schwindet die Wärme, und stellt fest: Man lebt nicht mehr aus dem Gefühl, das Leben sei lebenswert, sondern dass der Selbstmord nicht lohnt. Soweit muss es allerdings heute nicht kommen, bedient man sich nur heute rechtzeitig der suggestiven Angebote einer postmodernen Erlebnislandschaft. Der Wellness‐Stratege Christian Mikunda, nach eigenem Bekunden ein Vordenker und Berater der Erlebniswirtschaft, hat unter dem Titel Warum wir uns Gefühle kaufen sieben Hochgefühle zusammengemixt, die er im Umkehrschluss aus den klassischen Todsünden ableitet – ein Gefühlscocktail mit den Zutaten Glory, Chill, Power, Joy, Desire, Bravour sowie Intensitiy, den wir alle, dem Autor zufolge, unablässig schlürfen wollen. Was dabei herauskommt, nennt sich emotionale Wellness, und auch alles Weitere kann offenbar nur in englischer Sprache gefühlt werden. Zum Ausgleich sind den genannten angelsächsischen Empfindungen Botenstoffe (Adrenalin, Amphitamin, Dopamin, 10 Serotonin, Endorphin, Neurotrophin u.a.) beigeordnet, die den erstrebten Gefühlskick jeweils auslösen sollen. Dabei ist weniger wichtig, was Gefühle eigentlich sind und was sie für ihren Inhaber bedeuten, wenn sie nur als permanent positives Feeling daherkommen. Zugegeben: Von Zeit zu Zeit erfahren wir auch Hochgefühle, die uns das Leben einfach so schenkt. Aber: Wirtschaft, Kultur und Lifestyle machen das Unvorhersehbare kalkulierbar (Mikunda). Der Autor wird nicht müde, anzupreisen, wie man über Inszenierungen, die allesamt käuflich sind, das Hochgefühl wecken kann. Dieses Vorhaben wird entschieden erleichtert und überhaupt erst möglich, weil negative Wahrnehmungen in seiner Welt nicht berücksichtigt sind, aus durchsichtigen Gründen. Zwar wird alles Mögliche zum Gefühl deklariert, lediglich leidvolle Empfindungen sind wie weggeblasen und kommen auf den Seiten dieses Buchtitels einfach nicht vor. Die kaufbaren Hochgefühle sind wie Medikamente ohne Verschreibungspflicht, die uns den Zugang zu jenem Segment an Lebenslust geben, das wir gerade nötig haben (Mikunda 2009:15). Da fragt man sich, warum statt eines aufwändigen und kostspieligen Umwegs über Tiefseetauchen und Drachenfliegen, Shopping‐Malls und Flagship‐Stores nicht gleich die oben genannten biochemischen Botenstoffe zur Beglückung der Menschheit verordnet und in Tablettenform verabreicht werden. Aber freilich, dann würde nicht mehr konsumiert, die gefühlsträchtigen Inszenierungen wären ohne Kundschaft und ein Erlebnis‐Berater bliebe ohne Aufträge. Mancher will allerdings im Streben nach Glück nicht auf den gezielt herbeigeführten Dopamin‐Ausstoß setzen, sondern sucht nach Wegen, sich selbst und seine Person im Leben zu riskieren. Wer nach Bindungen strebt und seine Existenz an Werte knüpft, wird aber anfällig für Enttäuschungen und für das Scheitern, mithin für das Leiden an sich und anderen. Mit der Unfähigkeit, ambivalente und negative Selbstwahrnnehmunge zu ertragen, sind aber weite Bereiche der emotionalen Persönlichkeit stillgelegt und bleiben jetzt auf äußere Impulse angewiesen: auf Gefühle, die man kaufen kann. Um sich selbst positiv zu spüren, um Motivation und Initiative zu entwickeln, ist schließlich eine stets höhere Dosis eben jener Glücksbringer vonnöten, 11 die uns allenthalben als Gefühlsersatz der Konsum‐ und Erlebnislandschaft angepriesen werden. Ohne Fähigkeit und Bereitschaft zu ambivalenten Erfahrungen bleibt die eigene Gefühlswelt blockiert und wird durch den Umweg über aufwändige Inszenierungen alimentiert. Sie steht zwar weiterhin im Dienste persönlicher Wellness, aber unter dem Kommando einer ständigen Selbstzensur. Auch bei eingeschränkter Selbstwahrnehmung, die dann mehr und mehr zur Regel wird, bleibt diese emotionale Lähmung nicht ohne Auswirkungen auf einen Lebensvollzug, der sich lediglich im Umfeld positiver Empfindungen abspielen darf: Hauptsache, man ist gut drauf! Wie soll ich aber Leidenschaft entwickeln und mein Leben auf eine Karte setzen, wenn Frustration und Scheitern, Angst und Abschied in meinem Programm nicht vorkommen? Gleich welches fehlende Element einer emotionalen Biographie ersetzt werden muss: Als postmoderner Kompensations‐Typ bin ich jenem Buchhalter ähnlich, der den Nervenkitzel beim Banjing‐Springen sucht – oder einem Finanzinspektor, der sich beim Jeepfahren in der Sahara (Dune‐bashing) beweist, dass seine Welt und damit er selbst so langweilig nicht ist. Impulsarme Menschen verfügen zuweilen über interessante Hobbys. Anschließend kehren sie aber zurück in einen Alltag, der sich nicht ändern wird. Womöglich wäre das Urlaubsgeld besser in ein Fortbildungsseminar investiert, das anschließend die Ausübung eines interessanten Berufes erlaubt. Aber eigentlich will man das nicht, denn die abenteuerliche Performance erfüllt durchaus ihre Wirkung und wird zum Ersatz der Wirklichkeit. Der graue Alltag ist mit Illusionen bequemer zu bewältigen als durch die harte Schule der Veränderung. Eigene Träume ernst zu nehmen und die Grenzen des täglichen Selbst zu erweitern bedeutet demgegenüber emotionale Arbeit. Und setzt eine Leidensfähigkeit voraus, die der gegenwärtigen Kultur abhanden kam. An dieser Stelle muss ich mich enttäuschen: Leidenschaft ist zwar begrifflich das Gegenteil von Coolness, aber durchaus kein Hochgefühl, ja 12 nicht einmal eine spontane Empfindung – eher schon das langfristige Ergebnis emotionaler Impulse, wenn sie ausgehalten und realisiert werden. Darauf deutet der allgemeine Sprachgebrauch: Man redet etwa von leidenschaftlichen Schachspielern oder Bergsteigern. Gemeint ist keine sentimentale Attitüde, sondern eine dauerhafte emotionale Bindung an die entsprechende Verhaltensform. Im Autofahren oder Golfsport hat ein Mensch eine Spielart seiner selbst entdeckt, die er nicht preisgeben will und gegen Wind und Wetter, gegen finanzielle Nachteile, zeitliche Einschränkungen oder soziale Barrieren verteidigt. Ob ich aber leidenschaftlich bin, kann sich erst erweisen, wenn ich um einer Sache oder Person oder Idee willen Nachteile in Kauf nehme; oder zumindest die Bereitschaft hege, einer besonderen Hingabe zuliebe anderes hintanzustellen. Es handelt sich folglich um eine Option des Willens, um einen gewachsenen Impuls, der sich über einen gewissen Zeitraum bewähren muss und irgendwann Konsequenzen zeitigt, nicht aber um die sentimentale Anwandlung eines Augenblicks. Leidenschaft ist nach meinem Verständnis nicht spontan, sondern impulsiv (wenn auch beide Begriffe nicht selten unterschiedslos verwendet und verwechselt werden). Spontaneität ist eine Frage des Temperaments („Nervensache“), Leidenschaft ein Ergebnis von Impulsivität. Sie zeigt sich nicht in Schnelligkeit, Lautstärke oder in der momentanen Theatralik einer temperamentvollen Reaktion (wie etwa im Show‐Effekt eines Bühnen‐Tangos), sondern in einer womöglich lautlosen, aber durchgehaltenen Treue zum eigenen emotionalen Impuls. Leidenschaftlich ist ein Mensch, wenn er aus Bindung an das, was ihm wichtig ist – also aus Treue zu sich und anderen, zu seiner Biografie und seiner Identität – im Zweifelsfall auch bereit ist, an Grenzen zu rühren, und folglich zu leiden. Damit wird Leidenschaftlichkeit zu einer Grundstruktur der Persönlichkeit. In jedem Fall aber setzt diese Eigenschaft Leidensfähigkeit voraus als eine Bedingung ihrer Möglichkeit. Diese Option ist allerdings in der postmodernen Kultur nicht vorgesehen. 13 Vergeblich aber die Auslagerung der Emotion. Was wir in uns selbst nicht entdecken, werden wir außerhalb nicht finden. Ein Menschentyp, der eigene Emotion zu ersetzen sucht, macht allerdings beim gekauften Selbst nicht halt. Die postmodernen Inszenierungen eines spekulativen Charakters bedrohen Wirtschaft und Gesellschaft, denn sie provozieren eine soziale Eiszeit. 14
© Copyright 2024 ExpyDoc