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S C H W E R P U N K T | Sprache und Soziale Arbeit
Sprache – universelles Arbeitsmittel der Sozialen Arbeit
Eine kritische Würdigung des sprachlichen Handelns im Sozialbereich
Text: Wolfgang Widulle Bilder: Luc-François Georgi
Sprache ist für uns so selbstverständlich, dass wir vieles damit können und wenig dazu wissen. Dass man nach Jahren
sprachlicher Sozialisation in der Sozialen Arbeit anders
spricht als nicht sozial Tätige, erfährt man oft erst, wenn
«
Wenn öpper nümme me’ weiss, was er wot sägge, und er red’t dänn,
dä git’s Mischmaschsalat.
»
Mauro, vierjährig
man das gewohnte berufliche Habitat verlässt. Sprechen ist
ein so selbstevidenter Bestandteil der Sozialen Arbeit,
dass es selten als professionelle Praxis angesehen wird.
Ein persönlich gehaltener Überblick über ein Phänomen,
das unseren Berufsalltag und uns selber intensiver prägt,
als wir gemeinhin denken.
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SozialAktuell | Nr. 2_Februar 2016
Sprache ist das universale Arbeitsmittel in der Sozialen Arbeit, und sie hat eine starke, wirklichkeitsstiftende Macht.
Anders als in technischen oder medizinischen Berufen stehen der Sozialen Arbeit nur wenige technische Hilfsmittel
zur Verfügung. Und wer nur einige Zeit in der Praxis gearbeitet hat, weiss, dass nicht nur der persönliche Alltag von
Sprache und Soziale Arbeit | S C H W E R P U N K T
Menschen, sondern auch der berufliche Alltag von Sozialarbeitenden «wie das Rattern einer Konversationsmaschine» ist, die permanent subjektive Wirklichkeit modifiziert, rekonstruiert und garantiert (Berger & Luckmann
1993, 163).
Sprache als Wirklichkeit – Sprache als Werkzeug
Sprache ist allerdings nicht die einzige Form von Wirklichkeit und inneres Sprechen nicht die einzige Form des Denkens, wie die Radikalkonstruktivisten behaupten. Sprache
beeinflusst das Denken, aber determiniert es nicht (Vollmer 2002, 145f.), denn Menschen erleben vieles in nicht
sprachgebundenen Formen: Kunst- oder meditative Er­
fahrungen, sportliche Leistungen oder Architekturerleben
sind oft jenseits sprachlicher Codierung. Auch Kinder denken, lange bevor sie sprechen können, und wir alle denken
über Dinge nach, für die wir keine Wörter haben (Myers
2014, 393).
Und dennoch bleibt Sprache der langlebigste kognitive
«Ordner» unseres Denkens, und sie hat Eigengesetzlichkeiten, die Einfluss auf sprechende Personen wie ausgesprochene Dinge nehmen. Sprache dient der Vergewisserung,
Ordnung, Abstrahierung und gelegentlich auch Trivialisierung von Erfahrungen (Schlippe & Schweitzer 2012, 106).
Wir können mit Sprache vieles, aber nicht alles, und die
Grenzen von Sprache führen zu belustigenden wie be­
lastenden Resultaten: der Skirennfahrer, der im Interview
über die Ideallinie stammelt, die Schulsozialarbeiterin, die
bei der Vorstellung am Elternabend ihre Tätigkeit eher verschleiert als verständlich macht, oder die Klientin, die im
Beratungsgespräch darum ringt, eine Gewalterfahrung in
Worte zu fassen. (Und natürlich auch die Skirennfahrerin,
der Sozialarbeiter usw. Ich nehme hier in Anspruch, was
auch schon als Lösung des Genderproblems in der Sprache
vorgeschlagen wurde: Männer sollten in der männlichen
und Frauen in der weiblichen Form schreiben können.)
Wir alle denken über Dinge nach, für die
wir keine Wörter haben
Gesprochene Sprache gehört zu den unbewussteren Fähigkeiten menschlicher Wesen. Sie wird von frühster Kindheit an gelernt, mit etwa drei bis vier Jahren im Wesent­
lichen beherrscht und danach nur noch differenziert und
weiterentwickelt. Sprachlicher Habitus ist hochgradig stabilisiert und nicht einfach zu ändern. Nur schon ein Bewusstsein dazu zu entwickeln, fordert heraus: Wer ist sich
der eigenen Sprachgewohnheiten, zeitgeistigen Sprach­
moden oder kulturellen «feinen Unterschiede» (Bourdieu
2014) im Sprachhabitus schon wirklich bewusst? Oder der
grammatischen oder gar kulturellen Sprachregeln, die uns
ohne Bewusstsein derselben sinnvoll, verständlich, kulturangemessen und zielorientiert sprechen lassen?
Inneres Sprechen – sprachliche Interaktion
Sprache ist nicht nur auf Interaktion beschränkt, sondern
auch Selbstverständigung und Stütze des Denkens (Vollmer 2002).
Ist bewusstes inneres Sprechen zur Selbstinstruktion und
Selbstregulation noch gut zugänglich und steuerbar, so ist
verbale Interaktion ein deutlich komplexeres Medium.
Komplex wird sprachliche Interaktion durch folgende Eigenschaften (Deppermann 2004, 18):
Zum Thema
Ursula Christen
arbeitet als Dozentin an der Hochschule für
Soziale Arbeit Wallis (HES-SO). Sie ist Mitglied der Redaktionsgruppe von SozialAktuell.
Mirjam Kuhn
hat vor Kurzem die Ausbildung zur dipl. Sozialpädagogin HF abgeschlossen und ist auf
­Stellensuche.
Die ubiquitäre Scientifizierung sozialer Existenz führt nicht zu einer
integrativen Selbstermächtigung marginalisierter Individuen, sondern zur Postviktimisierung durch konstante Re-Exklusion. Riskiert
Soziale Arbeit – einst parteiliches Instrument unterprivilegierter
Stratifizierungsopfer – am Kampf um wirkmächtige Diskurse partizipierend und die neoliberale Transgression reproduzierend, sich
nun als Tool der «Best Practice in Human Outsourcing» zu implementieren?
Was macht eine solche Sprache mit Ihnen, liebe Leserin? Fühlen
Sie sich herausgefordert, angegriffen, tief beeindruckt oder haben Sie sich gar nach der zweiten Zeile als Leserin dieses Heftes
verabschiedet? Das wäre schade. Denn Sprache stellt die Kernkompetenz eines jeden Sozialarbeitenden dar. Ohne sie geht gar
nichts. Und sie geht uns nah. Wir widmen ihr daher dieses Heft.
Wolfgang Widulle, Experte für Gesprächsführung in Sozialer Arbeit, zeigt, wie es geht und wie nicht. Wir brauchen Leichte Sprache, damit alle an den gesellschaftlichen Diskussionen teilnehmen
können, findet die Journalistin und Übersetzerin Andrea Sterchi.
Wenn Jugendliche sich unterhalten, zeigen sich sowohl der Gebrauch von Jugendsprache wie auch das Vermischen zweier Sprachen. Mit Ersterer beschäftigt sich Christa Dürscheid, Professorin
für Deutsche Sprache, mit migrationstypischem Spracherwerb die
Sprachwissenschaftlerin Amelia Lambelet. Michael Müller, Geschäftsleiter von INTERPRET, berichtet, wie Interkulturelles Dolmetschen funktioniert, und die Theaterpädagogin Franziska von
Blarer erklärt, wie Körpersprache gezielt eingesetzt werden kann.
Eva Graf, Bereichsleiterin des Audiopädagogischen Dienstes Münchenbuchsee, vermittelt einen Eindruck von den Einschränkungen,
denen auditiv beeinträchtigte Menschen ausgesetzt sind. In
schriftlichen Dokumenten bewertet Sprache die Lebenssituation
von Klienten – ob die Berichte immer mit der nötigen Sorgfalt abgefasst werden, fragt Gabriela Weger in ihrem Beitrag. Finden Sie
schliesslich anhand unserer Beispiele heraus, wo Redefreiheit endet und Rassismus beginnt.
Wir wünschen viel Spass beim Lesen und viele neue Erkenntnisse.
–– Gespräche sind prozesshaft, d. h. einerseits flüchtig («was
genau hat er gesagt?»), andererseits unwiderruflich («gesagt ist gesagt»). Sie sind offen im Verlauf und in der Typik nur ungefähr erwartbar, so genau man ein Gespräch
auch vorbereiten mag.
–– Sie sind interaktiv, d. h. immer durch den Eigen-Sinn der
Gesprächspartner, ihre Sichtweisen, Ziele und Motive
gekennzeichnet.
–– Sie sind methodisch hergestellt (durch die unbewusstautomatisierte Nutzung kulturell erwartbarer Normen
und Standards) und sie sind pragmatisch orientiert (d. h.
sie zielen auf die Bearbeitung von Aufgaben und auf die
Schaffung sozialer Wirklichkeiten).
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–– Schliesslich konstituieren sich Gespräche auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen semiotischen Modalitäten wie Sprache, Stimme, Mimik, Gestik, Proxemik etc.
Sich angesichts dieser Komplexität von Gesprächshandeln
im Gespräch auch noch auf die eigene Sprache zu konzentrieren, scheint fast aussichtslos.
Das führt dazu, dass «Miteinander sprechen» meist anders
verläuft, als wir uns das vorstellen: Konversationsanalysen realer Gespräche von Professionellen der Sozialen Arbeit zeigen eine strukturelle Kluft von Sprach- und Kommunikationsidealen zwischen den in der Kommunika­
tionspsychologie gelehrten Methoden und real verlaufenden Gesprächen (Becker-Mrotzek 2004; Messmer 2013).
Nur wenig verläuft in wirklichen Gesprächen so, wie das
Sozialpädagogen und Sozialarbeiter an Hochschulen als
professionelle Kommunikation gelehrt bekommen haben.
Das bedeutet einen Abschied von intentionalistisch-kognitivistischen Konzepten der Sprachverwendung, wirft aber
die Frage auf, was stattdessen als normative Orientierung
zur Ver­wendung von Sprache in der Kommunikation dienen soll. Man wird auf die relevanten psychologischen
Konzepte zur Kommunikation, Gesprächsführung und Beratung zur Orientierung kaum verzichten können. Gleichzeitig können konversationsanalytische Erkenntnisse
dazu dienen, für reales Gesprächshandeln zu sensibilisieren und die komplexen Leistungen im sprachlichen Handeln von So­zialarbeitern und Sozialpädagogen zu würdigen wie auch kritisch zu hinterfragen.
Funktionen und Verwendungsmodi von Sprache
Sprache in der Sozialen Arbeit hat zwei Funktionen. Die
erste ist individuelle Handlungsregulation, d. h. sprachlich
codiertes Erkennen der Umwelt und dessen Umsetzung in
Selbstinstruktionen und Handlungen (Hacker & Sachse
2014, 182ff.). Die wichtigeren kommunikativen Funktionen
von Sprache (Effinger 2003, 90) betreffen die Verständigung, d. h. Mitteilen und Verstehen.
Hilfreich scheint hier eine Unterscheidung von Evers (2003,
91), der zwischen instrumentellem und medialem Sprachgebrauch differenziert: Im instrumentellen Sprachgebrauch
benennen wir Vorhandenes, Dinge werden bezeichnet,
und man kann sich ihrer vergegenwärtigen – im instrumentellen Sprachgebrauch «haben» wir die Welt. Das ist
der Sprachmodus der Experten, in dem Sachverhalte benannt und bewertet werden, in dem über Sprache aber
auch «ein Klient gemacht» wird – durch Zuschreibung und
Be­nennung von expertenorientierten Bewertungen, durch
Aufzeigen von Problemen und Ausarbeitung von Hilfebedarf oder durch andere diskrete Klientifizierungsprozesse
(Messmer 2013, 325f.).
Medial verwendete Sprache hingegen dient als Medium für
etwas, das erst noch zu finden ist – für das Aufbrechen
­verkrusteter und das Schaffen neuer Wirklichkeiten im
Wolfgang Widulle
ist Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit
FHNW und Autor. Er schreibt, lehrt und trainiert
zu Lernstrategien, Handlungstheorien, Kommunikation, Gesprächsführung und Beratung in der
Sozialen Arbeit. Diesen Text publiziert er als
­f reischaffender Autor.
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Gespräch (Evers 2003, 93f.). Das wäre die Sprache von
­K lärung, Verständigung und Dialog in Hilfeprozessen, in
der neue Bedeutungen, Sinngehalte und Wirklichkeiten
im Dialog gemeinsam geschaffen werden (Schlippe
& Schweitzer 2012, 123). Beide Sprachen – Experten- und
dialogische Sprache – haben ihre je eigene Berechtigung.
Sprachliche Entwicklungen in der Sozialen Arbeit
Es erstaunt nicht, dass Sprache in der Sozialen Arbeit gesellschaftlichen und professionellen Entwicklungen und
Trends unterliegt. Auch Sozialarbeiter sind Kinder ihrer
Zeit. Wer den marxistischen Jargon der 1968er-Jahre mit
dem neoliberalen Vokabular der Sozialen Arbeit der letzten
Jahre vergleicht, glaubt sich in verschiedenen Professionen
zu Hause.
Nach der Enttäuschung der 1968er dominierte die Sprache
der Psychotherapie, die bis heute fest in der Kommunikation der Praktiker verankert ist. Die kurze Phase der Orientierung am Expertentum wurde mit einem jähen «Abschied vom Experten» (Olk 1986) beendet, und die Alltags-,
Lebenswelt- und sozialökologische Orientierung der
1980er förderte eine alltagsnähere Sprache. Mit dem New
Public Management und dem Neoliberalismus zogen die
Gedanken und die Sprache der Ökonomie in die Soziale
­A rbeit ein, ein Sprachcode, der stark kritisiert wird (Erlach
2009; Seithe 2015). Und wer sich als Nichtsoziologe schon
mit Vertretern der Gattung «Luhmannsche Systemtheorie» über binäre Codierung oder Kommunikation zwischen
Kommunikationen zu verständigen versuchte, weiss um
die Macht des Soziologischen als Fremdsprache.
Wie also sprechen – und wie nicht?
Was also können, müssen, dürfen, sollen im Sozialbereich
Tätige mit ihrem wichtigsten Arbeitsinstrument, der
­Sprache, tun und unterlassen? Dazu zum Schluss einige
persönliche, vorläufige und unvollständige Anregungen.
Wahrnehmung – Sprache – Reflexion: Der Ausgangspunkt
jeder Sensibilisierung für den eigenen Sprachgebrauch
sind Selbstwahrnehmung, -aufmerksamkeit und -reflexion. Sprache ist ein für uns so selbstverständlich und unbewusst gewordenes Medium, dass es lohnenswert ist,
Es ist lohnenswert, sich in Audioaufnahmen
einmal selbst zuzuhören
sich in Audioaufnahmen einmal selbst zuzuhören, Feedback von Klienten und Kollegen zur Sprache einzuholen
und für den eigenen Sprachhabitus aufmerksam zu werden und diesen kritisch zu prüfen.
Expertensprache und Alltagssprache: Gespräche zwischen
Sozialarbeitern und ihren Gesprächspartnern pendeln
zwischen dialogischer Kommunikation auf Augenhöhe
und Expertenkommunikation. Unter Fachkräften benutze
man Fachsprache und mit Klienten Alltagssprache (und
nicht umgekehrt).
Ökonomisierte Sprache: Mit der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit versuchen Fachkräfte, Verwaltungen oder Geldgeber, mit betriebswirtschaftlichen (und nicht sozialarbeiterischen!) Denk- und Sprachfiguren zu überzeugen. Fachkräfte sollten reflexiv und selektiv mit ökonomisierter
Sprache umgehen und sensibilisiert dafür sein, ob diese
ethische und professionsbezogene Grundprinzipien der
­Sozialen Arbeit unterläuft. Sie sollten sich stattdessen im
Zu den Bildern
Gebärden-Slam
Seit 2011 findet in Aarau einmal jährlich ein sogenannter Bilingue Slam statt: In
diesem speziellen Poetry-Slam treten sowohl hörende als auch gehörlose Slam-­
Artisten in einem Battle gegeneinander an. Alle von ihnen nehmen regelmässig an
Wettkämpfen teil.
Während im akustischen Slam Elemente wie Intonation, Rhythmus und Satzbau eine
wichtige Rolle spielen, stehen im Deaf Slam die gestische Umsetzung und die von
ihr geschaffene ästhetisch-poetische Ebene im Zentrum. Alle Slams werden simultan übersetzt (Gebärdensprache in akustische Sprache und umgekehrt).
Die Idee zum Aarauer Bilingue Slam entstand im Rahmen einer Maturaarbeit im
Fach Deutsch. Bei der Entwicklung des Events war es der Initiatorin des Anlasses,
Sabrina Wälty, ein Anliegen, eine Austausch- und Integrationsmöglichkeit für Angehörige einer gesellschaftlichen Minderheit zu schaffen. Das Organisationsteam
arbeitet heute mit dem Gehörlosenbund Nordwestschweiz zusammen.
Ähnliche Anlässe finden in unregelmässigen Abständen auch in anderen Schweizer
Städten statt.
Luc-François Georgi
www.lucgeorgi.ch
«‹störrischen Beharren› auf den eigenen fachlichen Begriffen und Kernaussagen in ihrer alltäglichen Arbeit üben»
(Seithe 2015).
Subkulturen und Sprache: In Jugend-, Drogen- oder Fan­
arbeit werden Fachkräfte mit subkulturellen Sprachformen konfrontiert. Diese Sprachcodes sollten und werden
die in diesen Feldern Tätigen schnell einmal beherrschen.
Sie sollten jedoch vermeiden, sich damit anzubiedern.
Mundart und Sprache: Soziale Arbeit findet in der Deutschschweiz, anders als im nördlichen Nachbarland oder in den
romanischen Landesteilen, im jeweils regional üblichen
Schwyzertütsch statt. In der Schweiz (nicht) Mundart zu
sprechen, heisst (nicht) dazuzugehören, und Gespräche
mit Klienten in Hochdeutsch schaffen unwiderruflich
­Distanz, besonders seit in den letzten Jahren die Mundart
mystifiziert und zum Abgrenzungskriterium gegen vieles
Fremde erhoben wurde. Es gilt, reflektiert und sprachbewusst mit Mundart umzugehen und Menschen nicht über
den Gebrauch von Mundart auszugrenzen.
Psychotherapie und Sprache: Die Sprache der Sozialen Arbeit ist voll von Psychologismen, und besonders in der Be­
ratung wird auf psychotherapienahe Sprache zurückgegriffen. Dies ist für fachlichen Austausch und kollegiale
Kooperation wohl kaum problematisch, wird aber in der
direkten Klientenarbeit herausfordernd, wenn Klienten
den sprachlichen Habitus nicht nachvollziehen können.
Hier nicht Sprachschablonen («bindungsgestört», «dis­
soziiert», «sozial ängstlich») oder Plastikwörtern («systemisch») aufzusitzen, scheint mir eine wesentliche Voraussetzung gelingender Kommunikation.
Interkulturalität und begrenzte Sprachfähigkeiten: Die
Schweiz hat einen Ausländeranteil von ca. 24 %. Soziale Arbeit ist deshalb strukturell mit Menschen mit begrenzten
Deutschkenntnissen konfrontiert. Sie hat hier eine bedeutsame Integrationsfunktion. Für Gespräche mit Menschen
aus dem Migrationskontext ist es essentiell, neben kultureller Sensibilität auch sprachliche Kompetenzen mitzubringen, seien dies Fremdsprachen oder besondere Fähigkeiten in der Verständigung mit Menschen mit eingeschränktem Sprachverstehen.
Kinder/Jugendliche und Sprache: Vergleichbares gilt auch
für das Sprechen mit Kindern und Jugendlichen, die besondere kommunikative Voraussetzungen und Bedürfnisse
aufweisen. Nicht selten sprechen Sozialpädagogen mit
Kindern wie mit Erwachsenen. Sie benutzen Begriffe, die
diese nicht verstehen, missachten die Aufmerksamkeitsspannen oder unterschätzen die Suggestibilität von Kindern. Hier gilt es, die besonderen Voraussetzungen von
Kindern und Jugendlichen zu respektieren und sprachlich
sensibel zu kommunizieren (Delfos 2004, 2008).
Macht und Sprache: Sprache dient der Verständigung, sie
kann aber als «Artikulations- und Modellmacht» (StaubBernasconi 2007, 406) auch ein Herrschaftsinstrument
sein. Reflektierter Umgang von Sozialarbeitenden mit der
Macht der Sprache ist daher zu erwarten, denn Sozialarbeiter sollten durch Sprache keine «Behinderungsmacht» ausüben, wie sich dies leider in konversationsanalytischen
Untersuchungen zeigt (Messmer 2008).
Gender und Sprache: Das Kernanliegen sprachlicher Gleichstellung ist, Männer und Frauen gleichermassen anzusprechen und in der Sprache sichtbar zu machen. Sprachliche
Gleichstellung hat allerdings einen zunehmend dogmatischen Charakter angenommen; sie kritisch zu hinterfragen, kommt einem Tabubruch nahe. Seitens der Germanistik und nichtfeministischen Linguistik gibt es gute Argumente für das generische Maskulinum. Problematisch
bleibt z. B. die bei konsequent geschlechtsspezifischen Formulierungen entstehende Sexualisierung von Sprache, wo
gar kein Geschlecht gemeint ist (Kubelik 2015, 75). Permanente Nennung beider Geschlechter bläht Gesprochenes
wie Geschriebenes auf. Und rigide umgesetzt verarmt
«Gendern» die deutsche Sprache. Für die Soziale Arbeit
wäre wünschbar, dass wieder mehr Toleranz für einen
nicht gender-normierten sprachlichen Ausdruck entsteht
und Gegenentwürfe zur feministischen Sprache nicht sofort stigmatisiert werden.
Ausblick
Abschliessend zu wünschen ist für die Soziale Arbeit eine
«Reflexivwerdung von Sprache als demjenigen Medium, in
dem sich die Praxis Sozialer Arbeit Tag für Tag neu konstituiert», denn: «Der Grad an Bewusstheit über die sprachliche Verfasstheit sozialarbeiterischer Interventionen ist (…)
noch nicht einmal in Ansätzen existent» (Messmer 2008).
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Zu dieser Reflexivwerdung von Sprache sollten Forschung,
vertiefende, aber auch praxisnahe Publikationen und die
Sensibilisierung in Aus- und Weiterbildung wichtige Impulse geben.
Literatur
Becker-Mrotzek, Michael (2004). Analyse und Vermittlung von Gesprächskompetenz. Frankfurt am Main: Lang.
Märtens, Michael (Hrsg.). Professionell kommunizieren lernen: Elementare Handlungs­
kompetenz der Sozialen Arbeit. Leipzig: Evang. Verlagsanstalt. 88–103.
Hacker, Winfried & Sachse, Pierre (2014). Allgemeine Arbeitspsychologie: psychische Regulation von Tätigkeiten. Göttingen: Hogrefe.
Hitzler, Sarah & Messmer, Heinz (2008). Gespräche als Forschungsgegenstand der Sozialen
Arbeit. In: Zeitschrift für Pädagogik, 2. 54 Jg. S. 244–260.
Kubelik, Tomas (2015). Genug gegendert! eine Kritik der feministischen Sprache. Jena:
Projekte-Verlag.
Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (1993). Die gesellschaftliche
­K onstruktion der Wirklichkeit: eine Theorie der Wissenssoziologie.
Frankfurt am Main: Fischer.
Messmer, Heinz (2008). Die Hilfe wird beendet werden hier – Prozesse der Deklientifizierung im Hilfeplangespräch aus gesprächsanalytischer Sicht. In: Neue Praxis, 2. 38 Jg.
S. 166–187.
Bourdieu, Pierre (2014). Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Messmer, Heinz (2013). Mikrophysiken der Wirklichkeitsproduktion – Institutionelle Praxis
in der Sozialen Arbeit aus Sicht der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. In:
Graßhoff, Gunther (Hrsg.). Adressaten, Nutzer, Agency: Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: Springer VS. 317–340.
Delfos, Martine F. (2004). «Sag mir mal …» Gesprächsführung mit Kindern (4 bis 12 Jahre). Weinheim: Beltz.
Delfos, Martine F. (2008). «Wie meinst du das?» Gesprächsführung mit
Jugendlichen (13–18 Jahre). Weinheim: Beltz.
Deppermann, Arnulf (2004). «Gesprächskompetenz» – Probleme und
Herausforderungen eines möglichen Begriffs. In: Becker-Mrotzek, Michael/Brünner, Gisela (Hrsg.). Analyse und Vermittllung von Gesprächskompetenz. Radolfzell: Verlag für Gesprächsforschung. 15–28.
Effinger, Herbert (2003). Professionell kommunizieren: elementare
Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.
Erlach, Thomas (2009). Worte verändern die Welt: die Macht der Sprache in der ökonomisierten Sozialen Arbeit. Neumünster: Paranus.
Evers, Ralf (2003). Identität und Verständigung. Erwägungen zu Anspruch und Möglichkeiten von Kommunikation. In: Effinger, Herbert/
Quiz
Myers, David G. (2014). Psychologie. Heidelberg: Springer.
Olk, Thomas (1986). Abschied vom Experten. Sozialarbeit auf der Suche nach einer alternativen Professionalität. Weinheim: Juventa.
Schlippe, Arist von & Schweitzer, Jochen (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und
Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Seithe, Mechthild (2015). Veränderte Sprache und veränderte Soziale Arbeit? Soziale Arbeit und Sozialpolitik in der Kritik. http://zukunftswerkstatt-soziale-arbeit.de/2015/02/22/
veraenderte-sprache-und-veraenderte-soziale-arbeit/. Zugriff am: 1.12.2015.
Staub-Bernasconi, Silvia (2007). Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft: Systemtheoretische Grundlagen und professionelle Praxis – Ein Lehrbuch. Bern: Haupt UTB.
Vollmer, Gerhard (2002). Evolutionäre Erkenntnistheorie: angeborene Erkenntnisstrukturen
im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie.
Stuttgart: Hirzel.
(Weiterführende Informationen Seite 16)
Rassendiskriminierung – Political Correctness – Zensur – Freie Meinungsäusserung?
Sprache verändert sich, gemeinsam mit den kulturellen Werten und Normen, die sie transportiert. Ehemals gängige Bezeichnungen wie «Weib», «Neger» und «Zigeuner» sind unaussprechbar geworden,
für ein Wort wie «Bastard» gibt es keine Verwendung mehr, während anderes, das früher nicht benannt
werden durfte – z. B. Onanie, Abtreibung oder Homosexualität –, im heutigen Sprachgebrauch kaum
mehr ein Tabu darstellt.
Was darf, kann und soll heute in welcher Form gesagt werden, ja was muss um der Freiheit und Gerechtigkeit Willen unbedingt öffentlich kundgetan werden, und welche Rede gilt es, um derselben Freiheit und Gerechtigkeit Willens zu unterdrücken oder gar zu verbieten?
Was ist Ihre Meinung zu den folgenden
Beispielen?
❶ Gemäss der schwedischen Autorin Astrid Lindgren ist Pippi Langstrumpfs Vater (Erstausgabe:
1945) ein «Negerkönig». Wie soll heute damit
(und mit anderen diskriminierenden Begriffen) in
Kinderbüchern umgegangen werden?
❷ Ein Schweizer Polizist beschimpfte in der Öffentlichkeit anlässlich einer Festnahme ­e inen algerischen Asylbewerber lautstark als «Sauausländer» und «Dreckasylant».
❸ 2014 wurde in Thailand ein Mann wegen Majestätsbeleidigung zu 30 Jahren Haft verurteilt,
da er – gemäss Gerichtsurteil – «anrüchige Kommentare» auf Facebook hochgeladen hatte.
❹ Der Thurgauer JSVP-Politiker Benjamin Kasper
äusserte als Präsident der Partei 2009 im Zusammenhang mit dem Minarettverbot, dass es an der
Zeit sei, der Ausbreitung des Islams Einhalt zu
­g ebieten. Die Schweizer Leitkultur, die auf dem
Christentum basiere, dürfe sich nicht von anderen
Kulturen verdrängen lassen. Die Stiftung gegen
Rassismus und Antisemitismus (GRA) bezeichnete
auf ihrer Homepage diese Äusserung als «verbalen Rassismus».
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❺ Ein hoher Geistlicher zitierte wörtlich aus der
Bibel, dass Homosexuelle Gott ein Gräuel sind:
«Ihr Blut soll auf sie kommen». Er betonte, wie
wichtig die Bibel auch als Richtschnur für das
heutige Leben und die heutige Moral sei.
❻ Der Berner Stadtpräsident Alexander T­ schäppät
erzählte bei einem Auftritt als Komiker folgenden
Witz: «Wissen Sie, warum Italiener so klein sind?
Weil ihre Mütter ihnen immer sagen: ‹Wenn du
dann einmal gross bist, musst du arbeiten gehen.›»
❼ 2011 stand auf Wahlplakaten der SVP: «Kosovaren schlitzen Schweizer auf!»
❽ Das Berliner Holocaust-Denkmal suchte Spenden mit dem Slogan: «Den Holocaust hat es nie
gegeben!»
❾ Raif Badawi gründete in Saudi-Arabien die
Website der «Saudi-arabischen Liberalen» und
postete darauf allerhand kritische Überlegungen
zur Scharia und ironische Kommentare zum Gebärden der Religion in seinem Land.
❿ Am 25. Juli 2013 titelte «Die Zeit online»: «Erweiterter Suizid – Warum ein liebender Familienvater erst seine Frau, dann seine beiden Kinder
und schließlich sich selbst umbrachte. Rekonstruktion einer monströsen Tat.»
⓫ «5. 11. 2014 – Verunglimpfung von Personen
oder Parteien; Unsere Geschichtslehrer im Gymnasium spotten immer über diese Aktion hier,
doch ist dies genau der Ort, an den es sich in meinem Fall zu wenden gilt. Der Geschichtslehrer an
unserer Schule, Herr XXX, hatte schon immer eine
negative Tendenz gegenüber der SVP und drückte
dies offen aus. Letztens jedoch behandelten wir
den 2ten Weltkrieg, und suggestiv vermittelt er,
dass der Wahlkampf der SVP dem der NSDAP von
damals stark ähneln würde, witzeln tut er ebenfalls über eine Ähnlichkeit von Blocher und Hitler,
was mich stark entrüstet.»
⓬ In Zug beschloss der Stadtrat 2015, zum hundertjährigen Jubiläum einen Platz «Kirschtortenplatz» zu taufen.
⓭ Der nationalistische türkische Politiker Doğu
Perinçek erklärte 2005 an drei Konferenzen in der
Schweiz, dass es eine «internationale Lüge» sei,
von einem Völkermord an den Armeniern Anfang
des 20. Jahrhunderts zu sprechen. Es habe «ethnische Konflikte, Abschlachtungen und Massaker
zwischen Armeniern und Muslimen» gegeben,
aber «keinen Völkermord an den Armeniern».
Ursula Christen