Behinderung und Sprache Handout für Journalistenkolleginnen und –kollegen von den BVP im ORF Fernsehen-Programm.1 Behinderter? Behinderter Mensch? Mensch mit Beeinträchtigungen? Regelmäßig werden neue Formulierungen vorgeschlagen, kursieren und verflüchtigen sich wieder. Neue Wortschöpfungen nehmen auf Dauer aber die negative Bedeutung ihres Vorgänger-Ausdrucks an, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht ändern. Diskriminierende Einstellungen ändern sich also nicht einfach durch die Umbenennung2. Hinter der verwendeten Sprache „verbergen“ sich Gedanken, Vorurteile und Einstellungen, und manche Ausdrücke werden von behinderten Menschen als abwertend oder diskriminierend empfunden. Deshalb gilt es, Sprache mit Gefühl einzusetzen. Eine Reihe von Artikeln, Beiträgen im Internet und Bücher befassen sich ausführlich mit dem Thema. Hier einige Vorschläge und Anregungen zu den gängigsten Ausdrücken[1]: Die Behinderten, der/die Behinderte behinderter Mensch / Mensch mit Behinderung, behinderte Frau / behinderter Autofahrer / Mensch mit Beeinträchtigung … „Der/die Behinderte“ reduziert die Person auf ein Merkmal, das alle anderen Eigenschaften dominiert. Das ist auch so, wenn von „den Blinden“, „dem Spastiker“ oder „der Amputierten“ die Rede ist (Zum Vergleich: „Eine Frau mit blondem Haar“ lässt andere Assoziationen entstehen als „die Blondine“). Behinderte Menschen wollen nicht über ihre körperliche Eigenart definiert werden. Sie sind Menschen, mit einem Namen, einer persönlichen Geschichte. Viele Betroffene plädieren für die Bezeichnung „behinderte Menschen“ oder „Menschen mit Behinderungen“, weil diese das „behindert sein“ wie auch das „behindert werden“ gleichermaßen ausdrückt und unterstreicht, dass eine Behinderung nicht den ganzen Menschen ausmacht3. Viele Betroffene meinen, die Bezeichnungen „Behinderung“ und „behindert“ seien zu Unrecht in Verruf gekommen, denn sie könnten auf vielfältige, auch nicht diskriminierende Arten gelesen werden. Wichtig sei aber, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und dass „behindert sein“ nur eine Eigenschaft von vielen ausmacht. Sie soll in der Benennung nicht dominieren. Menschen mit besonderen Bedürfnissen behinderter Mensch / Mensch mit Behinderung, behinderte Frau / behinderter Autofahrer / Mensch mit Beeinträchtigung … Damit wird ein Mangel bzw. ein Defekt über die Person hinaus stilisiert und erdrückt deren individuelle Fähigkeiten. Jeder Mensch hat „Bedürfnisse“. Die Bedürfnisse eines behinderten Menschen sind nicht besonders. Was ist besonders daran aufs Klo gehen zu müssen oder in ein Geschäft gehen zu wollen – eben eine Behindertentoilette oder stufenlos. Trotzdem hat die Formulierung in Zusammenhang mit behinderten Menschen sogar Einzug in Gesetzestexte (z.B. NÖ Sozialhilfegesetz) gehalten, obwohl sie behinderte Menschen ablehnen. An den Rollstuhl gefesselt / an einer Behinderung leiden einen Rollstuhl benützen An einer Behinderung leiden, an den Rollstuhl gefesselt sein, hilfsbedürftig sein - solche Redewendungen sind zu vermeiden, da sie oft fälschlicher Weise Leid implizieren. So bedeutet z.B. 1 2 Erstellt von Marianne Waldhäusl in Zusammenarbeit mit Mag. Manfred Fischer, freier Journalist, ÖZIV-Bundesvorstand Ulla Fix, Institut für Germanistik der Uni Leipzig [1] 3 Rot geschriebene Wort sind zu vermeiden, grüne geschriebene Worte sind Alternativvorschläge. Martin Ladstätter, Bizeps; Klaus Voget, ÖZIV Seite 1 von 5 Behinderung und Sprache, BVP ORF-Fernsehen Programm, Juni 2015 das Verwenden eines Rollstuhls genau das Gegenteil von „gefesselt sein“, denn der Rollstuhl bringt selbstständige Mobilität und Beweglichkeit. Handicap/gehandicapt "behinderter Mensch" oder "Mensch mit Behinderung" Im deutschen Sprachraum wird das Wort oft als Ersatz für „behindert“ eingesetzt. Dabei wird aber auf die soziale Bedeutung, die das Wort enthält verzichtet. (man wird von der Umwelt behindert, nicht vom Körper, siehe oben). „Handicap“ kommt aus dem britischen und angloamerikanischen Sprachraum. Dort wird es kaum mehr verwendet, weil es an „cap-in-hand“ und damit an die Verknüpfung von Behinderung und „Betteln“ erinnert. Laut Duden heißt "Handicap" u.a. Hemmnis, Hindernis, Hürde, Nachteil, Schwierigkeit, Stolperstein. Ist also negativ besetzt und widerspricht dem Bestreben behinderter Menschen ihre Behinderung als eine neutrale Eigenschaft zu sehen. invalid "behinderter Mensch" oder "Mensch mit Behinderung" bedeutet im ursprünglichen Sinn die Verneinung (in-) des lateinischen Wortes „validus“: Stark, kräftig, gesund. Die Bezeichnung „die Invaliden“ ist, so wie die Versehrten ein veralteter Ausdruck für behinderte Menschen. Das Wort kommt heute noch in diversen Bezeichnungen wie „Zivilinvalidenverband“, „Invalidenpension“ oder „Invalidität“ vor, die aber zu vermeiden gesucht werden. Versehrt "behinderter Mensch" oder "Mensch mit Behinderung" Bedeutet eigentlich „verwundet“. Vor dem 1. Weltkrieg wurden Menschen, die im Krieg ohne eigene Schuld verletzt wurden, als „Versehrte“ bezeichnet. Heute ist das Wort antiquiert - nach 60 Jahren Frieden in Österreich sind nur mehr sehr wenige Menschen tatsächlich (Kriegs-)Versehrte. Im Sprachgebrauch ist das Wort dennoch bisweilen in Verwendung, z.B. als Versehrten-WC oder Versehrten-Sport oder in der Unfallversicherung, wo es noch den Terminus „Versehrtenrente“ gibt. Im ORF wurden 2012 alle Schilder, die zum „Versehrten-WC“ geführten, abmontiert. Geistige Behinderung / „Geisteskrankheit“ Menschen mit Lernschwierigkeiten, Menschen mit Lernschwächen, Menschen mit mentaler Behinderung Während der Begriff „Geisteskrankheit“ als obsolet gilt, ist der Begriff „geistige Behinderung” umstritten. Vielen gilt er nach wie vor als neutrale Bezeichnung für Menschen, die Probleme mit dem Lernen und Schwierigkeiten haben, abstrakte Dinge schnell zu verstehen. Die davon selbst betroffenen Menschen lehnen den Begriff „geistige Behinderung“ aber ab und nennen sich lieber „Mensch mit Lernschwierigkeiten“. Sie finden, dass nicht ihr „Geist” behindert ist, und dass „geistige Behinderung” sie als ganzen Menschen schlecht darstellt. Zwerg / Liliputaner kleinwüchsige Menschen Liliputaner sind Fabelwesen aus „Gullivers Reisen“. Es gibt sie genau so wenig wie die sieben Zwerge. Menschen mit geringer Körpergröße sind nicht weniger intelligent und auch nicht „ewige Kinder“. Seite 2 von 5 Behinderung und Sprache, BVP ORF-Fernsehen Programm, Juni 2015 Mongolismus Menschen mit Down Syndrom oder Trisomie 21 Der Begriff „Mongolismus“ entstand um 1866, weil der englische Arzt John Langdon Down Menschen mit Down Syndrom mit Mongolen verglich. Down glaubte, dass das Syndrom eine Rückverwandlung in einen „primitiven Rassetypen“ darstellt - diskriminierend und medizinisch nicht haltbar. taubstumm gehörlos wird von den gehörlosen Menschen als diskriminierend empfunden, da der Ausdruck suggeriert, dass gehörlose Menschen stumm sind. Gehörlose Menschen können sehr wohl sprechen, aber nicht hören, was sie sprechen. Sie haben ihre eigene Sprache – die Gebärdensprache (NICHT: Zeichensprache), die in der österreichischen Verfassung als Minderheitensprache anerkannt ist. Taub ist eine Zustandsbeschreibung für Gefühllosigkeit im eigentlichen und im übertragenen Sinn. („taube Finger“). Richtiger ist es von Gehörlosigkeit zu sprechen. Behindertenverbände plädieren daher auch für eine Umbenennung der „Taubstummengasse“ im 4. Bezirk. Gehörlose Menschen sind keineswegs stumm: Sie können sprechen und sind eben Angehörige einer Sprachminderheit. Pflegefall, Schützling, Heiminsasse, Sorgenkind Hat einen hohen Bedarf an Pflege, pflegebedürftige Person/Menschen Wenn jemand Pflege braucht, wird er schnell zum „Fall“ – vom Subjekt zum Objekt. Damit wird der Betroffene seiner Person berauben. Beim medizinischen Not-“Fall“ hingegen geht es ums Überleben, da sind vorerst Name und Adresse nicht wichtig. Beim „Pflegefall“ geht es um Leben. Der/die Betreffende hat Vorname und Nachname und ist Mutter oder Vater oder Kind. Der subjektiven Sicht des Betroffenen wird man besser gerecht, wenn man von einer „pflegebedürftigen Person“ (Subjekt) spricht. Mitleid Mitleid entsteht aus Betroffenheit, die zu stark und zu schwach ausfallen kann. Das Taktgefühl entscheidet über echtes und falsches Mitleid. Mitleid wird zur Farce, wenn das Mitleid kundgetan wird, der Angesprochene sich aber gut fühlt, kein Mitleid braucht. Wichtig kann Mitleid beim Sammeln von Spenden für in Not geratene Menschen sein. Behindertenverbände kritisieren in diesem Zusammenhang allerdings immer wieder den Namen der ORF-Aktion „Licht ins Dunkel“: „Spendenaufrufe mit Floskeln wie ‚Licht ins Dunkel‘ werden von vielen Betroffenen als taktlos empfunden, weil sie Menschen mit Behinderungen zu Opfern, zu Gezeichneten, stilisieren.“4 Falsche Gegensatzpaare behindert / normal oder gesund nicht behindert Das Opposit von behindert ist weder normal noch gesund. Behinderte Menschen sind nicht abnormal oder nicht-normal, sondern einfach anders – d.h. nicht behindert. Sie sind auch nicht zwingender Weise krank. Ein Mensch im Rollstuhl fühlt sich nicht krank, weil er nicht gehen kann. Krank ist er, wenn er/sie eine Grippe oder Mumps hat. 4 Beate Firlinger im „Buch der Begriffe“, Seite 27 Seite 3 von 5 Behinderung und Sprache, BVP ORF-Fernsehen Programm, Juni 2015 Klischees und Stereotype Beim Berichten über behinderte Menschen herrschen zwei zu vermeidende Klischees vor: Hilflose Opfer/Sorgenkinder und Helden. Wichtig wäre eine alltagsnahe Darstellungsweise ohne Floskeln. Die Botschaft sollte sein, dass behinderte Menschen leben wie alle anderen auch. Sie sind Teil der Gesellschaft. Es bleibt berichtenswert, wie sie ihren Alltag bewältigen - ohne „trotz“, „trotzdem“, „leiden“, „vom Schicksal gezeichnet“ etc. Behinderte Menschen nicht als arme, betreuungsbedürftige Wesen darstellen, sondern als selbständige und entscheidungsfähige Mitglieder der Gesellschaft. Hilflose Opfer bzw. Sorgenkinder Behinderte Menschen werden oft – gerade im Zusammenhang mit Spendenaktionen und CharityEvents – als hilflose, passive Opfer und unselbständige Sorgenkinder der Gesellschaft oder der Familie dargestellt. In Beiträgen kommen sie dann nicht selbst zu Wort – es wird über sie (hinweg) berichtet. Formulierungen wie „vom Schicksal gezeichnet“, „an der Behinderung leiden“ kommen dann häufig vor. Behinderte Menschen wollen aber nicht so dargestellt werden - da abwertend. Es bringt sie von der Subjekt- auf die Objektebene. Verneint, dass sie eigentlich selbst die Experten in eigener Sache sind. Helden Gerade in Sport- und Freizeitberichten werden behinderte Menschen als Helden dargestellt, die trotz ihrer Behinderung schier unmenschliches vollbringen. Auch alltägliche Dinge, wie einkaufen gehen oder Kinder in die Schule bringen, werden dann mit Formulierungen wie „meistert sein Leben“ oder „trotzt seinem Schicksal“ als Sensationen dargestellt. Gerade diese genannten Formulierungen sollten bei Berichten aber weggelassen werden, denn für die betroffenen Menschen ist dies Alltag. Abbildungen /Filmausschnitte Behinderte Menschen machen etwa 15% der Bevölkerung aus, daher sollten sie auch in alltäglichen Fotobeiträgen und Filmausschnitten vorkommen – nicht nur bei „Behindertenbeiträgen“. Warum sie nicht in Straßenbefragungen einbeziehen, ohne auf ihre Behinderung hinzuweisen. Sie beim Einkaufen, beim Autofahren oder beim Tanken zeigen, wenn über Preissteigerungen berichtet wird? Interview und Recherche mit behinderten Menschen Fragen, ob und welche Unterstützung gewünscht wird. Nicht überfürsorglich sein. Geeigneter Treffpunkt: Vorschlag einholen. Der behinderte Mensch selbst weiß, wo er gut hin bzw. zurechtkommt (Blindenleitsystem, stufenlos, Beh.-WC, geräuscharme Umgebung, ...) Menschen im Rollstuhl oder kleinwüchsige Menschen: Auf Augenhöhe kommunizieren. Menschen mit mentaler Behinderung: Einfache Sprache (NICHT „Kindersprache“), mehr Zeit nehmen. Gehörlose Menschen: Gebärdesprachdolmetscher nicht vergessen. Menschen mit Sprechschwierigkeiten: Ausreden lassen. Seite 4 von 5 Behinderung und Sprache, BVP ORF-Fernsehen Programm, Juni 2015 Positive Beispiele Zwei Preisträger des letzten ÖZIV-Medienpreises 2013/14 für herausragende Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen in der Arbeit/in der Wirtschaft: ORF-Beitrag aus "heute leben" von Sabine Zink, "Mann ohne Arme und Beine", Portrait des Psychiaters Georg Fraberger, gesendet am 18.06.2014. https://www.youtube.com/watch?v=wqftY2xXdzQ Beitrag auf ORF-Online von Simon Hadler, "Der Kampf um die Teilhabe", 3.12.2013 http://orf.at/stories/2207976/2207974/ Quellen „Buch der Begriffe“, Hg. Beate Firlinger und Integration:Österreich, Wien 2003 http://info.tuwien.ac.at/uniability/documents/Buch_der_Begriffe.pdf Website Leidmedien.de: http://leidmedien.de/journalistische-tipps/begriffe-von-a-bis-z/ „Medien-Stereotype“ von Manfred Fischer in VALIDleben (Wien), Oktober 2014, S.8f. „Bist behindert, Oida?“ von Manfred Fischer in ÖZIV-Info, 1/2014, April 2014, S.19. „Sprachverwirrung von Manfred Fischer“ in VALIDleben (Wien), März 2014, S.12. „Sind behinderte Menschen solche mit ‚besonderen Bedürfnissen?‘“ von Manfred Fischer auf Bizeps-online, 16.1.2014.http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=14653 „Schreibtischtäter Journalist“ von Manfred Fischer in [Statement], Zeitschrift des Österr. Journalisten Clubs, März 2013, S.22. „Macht der Worte“ von Manfred Fischer in „Der Oesterreichische Journalist“ Nr. 8-9/2001, S.126f. „[Benehmen gegenüber] Menschen mit Behinderung“. Text von Manfred Fischer in SchäferElmayer, „Alles, was Sie über gutes Benehmen wissen müssen“, Salzburg 2011, S.111-114 Seite 5 von 5 Behinderung und Sprache, BVP ORF-Fernsehen Programm, Juni 2015
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