schrieb Saïda Kel- ler-Messahli in der «SonntagsZeitung» nach den

10 | MM53, 28.12.2015 | MENSCHEN
«Ja, der Terror hat mit
dem Islam und uns
Muslimen zu tun»,
schrieb Saïda Keller-Messahli in der
«SonntagsZeitung»
nach den Anschlägen in Paris im November. Öffentliche
Kritik am Islam –
das ist ein Sakrileg
für strenggläubige
Muslime und für
manche Linksdenkende ein Verstoss
gegen die Political
Correctness.
Die in Tunesien
geborene KellerMessahli schert
sich nicht um
solche Kategorien.
Seit Jahren kämpft
die Präsidentin des
Forums für einen
fortschrittlichen
Islam, für eine moderne Auslegung
des Korans und für
die Emanzipation
der Musliminnen.
Und sie will noch
mehr: weibliche
Imame. Frauen
könnten Gleichberechtigung in die
Moscheen bringen,
sich den Jungen
anders nähern als
Männer, meint die
58-Jährige. Mit
solchen Aussagen
weckt sie den Zorn
mancher Muslime.
Sich deswegen
wegducken? Das
kommt für die
couragierte Frau
nicht infrage.
Remo Leupin (51),
Produktionschef,
Stv. Blattmacher
MENSCHEN | MM53, 28.12.2015 | 11
Wer hat Sie
beeindruckt?
Erzählen Sie
es uns!
Migrosmagazin.ch
Wie kann man behinderte Menschen
integrieren? Seit Jahren diskutieren Politiker
und Verbände, André Schäppi (54) tuts einfach: Seine Firma Sawi beschäftigt vier
Handicapierte. Das bedeutet mehr Aufwand
und manchmal weniger Gewinn. Doch der
Firmeninhaber bezeichnet seine
besonderen Mitarbeiter als Bereicherung.
Yvette Hettinger (50), Redaktorin Reportagen
Geld und Geist: Diese Dorfge­
schichte könnte der Feder Jere­
mias Gotthelfs entstammen.
Nur heisst der Ort des Gesche­
hens nicht Liebiwyl, sondern
Oberwil­Lieli. In der reichen
Aargauer Gemeinde kam es im
Herbst zum Showdown zwischen
SVP­Gemeindeammann Andreas
Glarner und der smarten Sprach­
studentin Johanna Gündel. Der
frisch gewählte Nationalrat wollte
sich mit knapp 300 000 Franken
von der Pflicht freikaufen, Flücht­
linge aufzunehmen.
Doch er hatte seine kleinkrä­
merische Rechnung ohne Johanna
von Oberwil gemacht. Sie, die sich
im In­ und Ausland nicht weiter
für ihre Herkunft schämen wollte,
setzte sich in der Gemeindever­
sammlung durch: 176 stimmten für
die Bedürftigen, nur 149 für den
Kurs des Unternehmers Andreas
Glarner. Dass Oberwil- Lieli seither nicht mehr als die kälteste
Gemeinde der Schweiz gilt,
haben die Bewohner dem Mut
der 24-Jährigen zu verdanken.
Jeremias Gotthelf würde froh­
locken: «Es ist doch schön auf der
Welt – wo Liebe ist!»
Peter Aeschlimann (38),
Redaktor Reportagen
Rückblick 2015
Menschen, die uns
beeindruckt haben
Bilder: Alessandro Della Bella/Keystone, zVg (3), Paolo Dutto
Sie helfen Bedürftigen, fordern die Mächtigen heraus oder leisten
ganz im Stillen Gutes: Menschen, die etwas bewegen.
Ein persönlicher Jahresrückblick der Migros-Magazin-Redaktoren.
Sennur Sümer (44) kriegte diesen Som­
mer die härtere Gangart der Zürcher
Polizei zu spüren. Nach einer unbe­
willigten Flüchtlingsdemonstration
wollte die Polizei einen Zug durch die
Langstrasse verhindern. Die dreifache
Mutter stellte sich mutig mit erho­
benen Händen vor die Polizei und wurde mit Pfeffer­
spray besprüht. Trotzdem sagte sie in einem Interview:
«Die Schweiz ist und bleibt das Land, das meine
Familie und mich aufgenommen hat und uns ein fried­
liches Leben ermöglicht.»
Hans Schneeberger (56), Chefredaktor
Mitte September in Athen:
Für Rahel und Michael Räber
aus Münsingen BE ist es der letzte
Ferientag. Sie begegnen dem
Elend der über die Türkei ankom­
menden Flüchtlinge, erfahren, dass
der Bedarf an Hilfe auf Lesbos
besonders gross ist. Täglich kommen Dutzende Boote mit Flüchtlingen an. Spontan entscheiden
sie sich, ihre Ferien zu verlängern:
Sie tragen auf Lesbos Kinder aus
ankommenden Booten, versorgen
Flüchtlinge mit Wasser, Nahrungs­
mitteln, Medizin. Räber und seine
Frau sind beispielhaft für die
Solidaritätswelle für Flüchtlinge,
für die zahlreichen Helfer, die vor
Ort anpacken, wo Hilfswerke und
staatliche Stellen zu langsam sind.
Daniel Schifferle (61),
Verantwortlicher Ressort Leben
12 | MM53, 28.12.2015 | MENSCHEN
Jean-Claude Biver ist nicht zu bremsen:
Richter mit Herz: Die USA haben dieses
Jahr die Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare geöffnet. Dank Richter Anthony
Kennedy, der als Mitglied des Obersten
Gerichts die entscheidende Stimme für
das 5:4-Urteil lieferte. Dabei war es Ronald
Reagan, der konservative Säulenheilige
der republikanischen Partei, der Anthony
Kennedy 1988 in den Supreme Court berief. Und ausgerechnet er, der übrigens mit
der Präsidentenfamilie nicht verwandt ist,
schliesst sich immer wieder mal seinen
liberalen Richterkollegen an.
So auch am 26. Juni 2015. «Keine Verbindung ist stärker als die der Ehe», schreibt
er in seiner Begründung. «Sie symbolisiert
die höchsten Ideale der Liebe, Treue, Hingabe, Aufopferung und Familie. Die Ehe ist
ein Grundpfeiler unserer sozialen
Ordnung.» Dies gelte für alle Menschen.
Knapp zwei Dutzend Länder haben die
Ehe für Schwule und Lesben geöffnet.
Die Schweiz gehört nicht dazu und behandelt sie weiterhin als Bürger zweiter
Klasse. Wie lange noch?
Ralf Kaminski (46), Redaktor Reportagen
Mitten in Winterthur steht ein öffentlicher Kühlschrank. Sellerie, Bohnen, Bananen, Peperoni und Mandarinen liegen drin. Wer den dreistelligen
Code des Vorhängeschlosses anfragt, kann nehmen, was er oder sie
braucht. Gratis. Das ist das Schöne an der Restessbar: Sie steht
allen offen – unabhängig von Alter, Herkunft oder Einkommen.
«Vertrauen hui, Polizei spielen pfui» lautet ihr Motto. 30 Freiwillige
sammeln in Geschäften, bei
Händlern oder Bäckereien
Nahrungsmittel, die sonst weggeworfen würden. Mitgründerin
ist die Winterthurerin Sarah Weibel (29, links). Mich beeindruckt
ihr Einsatz gegen den Foodwaste.
Reto Vogt (30), Online-Redaktor
Der Chef der Marken TAG Heuer
und Zenith ist so etwas wie das
Schwungrad der Schweizer Uhrenindustrie. Das bewies er kürzlich
wieder bei einem Auftritt in New
York. Mit überbordendem Enthusiasmus präsentierte der 66-Jährige eine
edle Smartwatch aus der Schweiz,
die der Apple Watch Konkurrenz
machen soll. Mich beeindruckt, dass
der gebürtige Luxemburger unermüdlich Neues ausprobiert. Als
Luxusuhren-Hersteller noch allenfalls Segelregatten und Golfturniere
unterstützten, stieg er mit der Marke
Hublot in grossem Stil ins FussballSponsoring ein. Und während andere die ewig gleichen Edelzeitmesser
bauten, experimentierte er mit
Gehäusen aus neuen Werkstoffen
und liess sogar kratzfestes Gold entwickeln. Zugleich liebt er die traditionelle Uhrmacherei und glaubt an
ihre Zukunft: «Eine bestimmte Technik mag im Augenblick modern sein,
doch irgendwann ist sie überholt.
Mechanische Uhrmacherei ist jedoch
Kunst, und Kunst überdauert.»
Ich hoffe, dass Biver der Schweizer
Uhrenbranche noch lange erhalten
bleibt – sie kann seine Leidenschaft
und seine vielen Ideen gut brauchen.
Michael West (52), Redaktor Migros-Welt
Ein Samstag im November, Heimtur-
nier für die Piccolos des Eishockeyclubs
Illnau-Effretikon. Schiedsrichter Rico
Rodi (12) hat sein Debüt. Im Herbst
hat der Sechstklässler den Schirikurs
absolviert. Drei Spiele à 30 Minuten,
8-, 9-,10-jährige Hockeyaner, auf einem
Drittel Eisfeld. Hie und da ein verbotener Check: der Schiri pfeift. Letztes Spiel,
letzte Spielminute, die Gäste sind im
Hintertreffen. Ein Foul: der Schiri pfeift.
Zwei Sekunden später die Sirene: Spielende. Doch der Schiri gibt den Penalty:
Verschuss. Jubel bei den Siegern, lange
Gesichter bei den Verlierern. Der Coach
der Verlierermannschaft, ein bulliger
Mittvierziger, eilt mit grossen Schritten
übers Eis. Baut sich vor dem Schiri auf.
Rudert mit den Armen. Brüllt. Was, geht
in der Durchsage des Speakers unter.
Der Schiri, trotz seiner Schlittschuhe
einen Kopf kleiner, zieht den Kopf ein.
Ein weiterer Coach eilt herbei, redet
auf den Tobenden ein, zieht ihn vom
Eis. Der Schiri verschwindet stumm in
der Kabine. Kurz darauf steht Rico Rodi
am Ausgang und wartet auf seine Eltern.
Die Spieler ziehen an ihm vorbei: «Gut
gemacht, Rico! – Supi, Schiri! – Cool,
Rico!». Bald wird er sein zweites Turnier
pfeifen. Er freue sich. Der Coach hat sich
übrigens nachträglich entschuldigt.
Almut Berger (48), Online-Redaktorin
MENSCHEN | MM53, 28.12.2015 | 13
Lukas Bärfuss (43),
Autor und letzter
Citoyen. Man nannte
Bilder: Bloomberg/Getty Images (2), Stephan Rappo, zVg, Trevor Clark/Red Bull Content
Pool, SRF/Oscar Alessio, Daniel Winkler, Frédéric Meyer
ihn «Extremist», «Wut­
schreiber», «Genug­
haber». Er wurde mit
Max Frisch und Friedrich
Dürrenmatt verglichen.
Und er sorgte für den
kontroversesten Artikel
des Wahlherbsts. Am
15. Oktober veröffent­
lichte der Thuner Autor
auf faz.de unter dem
Titel «Die Schweiz ist
des Wahnsinns» einen
Gastbeitrag, der Wellen
schlug. Auf fünf Seiten
grub er eine tiefe Furche
in die Gesellschaft.
Auf den ersten Blick scheinen die drei
Frauen Esther Schönmann (72, Mitte),
Maja Neuenschwander (35, oben) und
Daniela Ryf (28) keine Gemeinsamkeiten
zu haben. Sie sind unterschiedlich alt,
Esther Schönmann, die Randständigen in
Langenthal BE hilft, ist körperlich ange­
schlagen. Maja Neuenschwander dagegen
hat diesen Herbst in Berlin einen neuen
Schweizer Rekord im Marathon aufgestellt
und verbesserte ihre eigene Bestleistung
um fast drei Minuten. Daniela Ryf gewann
nur ein paar Wochen später den legendä­
ren Ironman auf Hawaii. Das ist im Triath­
lon mit einer Goldmedaille an Olympi­
schen Spielen vergleichbar.
Die wirklichen Stärken der so unter­
schiedlichen Frauen zeigen sich aber gera­
de in deren Berührungspunkten: Schön­
mann, die «Heldin des Alltags» von Radio
SRF 1, kämpfte gegen die Behörden, um
ihre Ideen durchzusetzen. Sie hat wie die
beiden Ausdauerathletinnen einen unbän­
digen Willen. Neuenschwander verzichte­
te auf den geliebten Kaffee und spulte Wo­
che für Woche bis zu über 200 Trainingski­
lometer ab, Ryf ist seit 2007 Profi­Triathle­
tin und wendet jeden Tag bis zu sieben
Stunden für Schwimmen, Velofahren und
Laufen auf.
Alle drei hätten es mit ihren Ausnah­
meleistungen verdient, in der Öffentlich­
keit mehr wahrgenommen zu werden.
Doch Marathon und Triathlon sind Rand­
sportarten und helfende Engel wie Esther
Schönmann arbeiten gern im Hintergrund.
Die drei Frauen erreichten ihre Ziele dank
jahrelanger Planung, Konsequenz, Beharr­
lichkeit, Entbehrungen und ohne Getöse.
Sie sind deshalb meine wahren Heldinnen.
Reto E. Wild (47), Redaktor Reportagen
Was dort zum Vorschein kam, stank Bär­
fuss gewaltig. Ein «Land
von Zwergen» sei die
Schweiz. Die Medien­
landschaft ohne Rück­
grat, die Politik mutlos,
die Wirtschaft durch
den Einkaufstourismus
angeschlagen und die
Zivilbevölkerung vor
lauter populistischer
Parolen verängstigt.
Konkrete Verbesse­
rungsvorschläge lieferte
Bärfuss keine, Verallge­
meinerungen einige.
Über diese mit blinder
Wut vorgetragenen Ver­
wünschungen liesse sich
schwerlich debattieren,
schrieb die NZZ am Fol­
getag. Doch genau das
geschah. Von Roger
Köppel bis hin zu Pedro
Lenz war Bärfuss’ Text
das Thema der Stunde.
Man kann von Lukas
Bärfuss halten, was man
will. Doch er hat ein
Land bewegt, das eine
Debatte über die eigene
Identität bitter nötig hat.
Anne-Sophie Keller (26),
Volontärin Reportagen
14 | MM53, 28.12.2015 | MENSCHEN
Im vergangenen Jahr
traf Fred Frohofer (52)
Ich bewundere Burkhard
Varnholt für sein Engagement
für die Kids-of-Africa-Stiftung.
Als Gründer und Betreiber eines
Waisendorfes in Uganda setzt sich
der Topbanker für Kinder ein.
Den sportlichen Familienvater trifft
man nicht an glamourösen Events,
in schnellen Autos oder in einem
Haus an der Goldküste, sondern
am Rande eines Fussballfelds,
auf dem Velo durch Zürich radelnd
oder in Uganda, bei einem seiner
zahlreichen Besuchen im Waisendorf. Weder Ebola noch die Eurokrise hielten ihn davon ab. Oft und
gerne begleiten ihn dabei seine
Ehefrau Salome Grisard und die
beiden Söhne. Als Burkhard
Varnholt 1999 einen Bettelbrief
aus Uganda erhielt, antwortete
er mit einem kleinen Scheck, um
die darin beschriebene Notlage zu
lindern. Aus diesem unerwarteten
Kontakt entwickelte sich eine
Briefbekanntschaft. Burkhard
Varnholt reiste nach Uganda, um
sich vor Ort ein Bild zu machen.
2004 gründete er
den gemeinnützigen
Verein Kids of Africa.
Heidi
Bacchilega (48),
Projektleiterin
Migros-Welt
Rocco Umbescheidts (40)
Motto lautet «Leben heisst handeln».
Der «Aargauer des Jahres 2015» ist
davon überzeugt, dass jeder
mit seinem Handeln die Welt ein wenig
besser machen kann. Seit 17 Jahren
leistet der Lehrer ehrenamtlich
humanitäre Hilfe in Nepal, baut
Schulen und Häuser. Bei der Erdbebensoforthilfe im April 2015 koordinierte
er Hilfsgüter für 36 000 Menschen.
Anette Wolffram (50), Projektleiterin Migros-Welt
eine mutige
Entscheidung: Er
kündigte seinen Job
in der Medienbranche. Künftig setzt
er seine ganze
Energie für eine
bessere Welt ein.
Als Vorstandsmitglied des Vereins
Neustart Schweiz
engagiert er sich
etwa für gemeinschaftliche Nachbarschaften,
welche die Vision
der 2000-WattGesellschaft übertreffen sollen.
Als Co-Präsident
der Baugenossenschaft NeNa 1 in
Zürich arbeitet er
an der Realisation
dieser Utopie.
Um über die Runden zu kommen,
hat der ehemalige
Redaktor seine
Ausgaben massiv
gekürzt. Er lebt in
einer Einzimmerwohnung, trägt
vorzugsweise
Secondhand und
ernährt sich vegan.
Einkünfte erzielt er
über Workshops
rund um Ökologie.
Andrea Freiermuth (43),
Redaktorin Reportagen
MENSCHEN | MM53, 28.12.2015 | 15
Wenn von «Flüchtlingen» die Rede
ist, geht es vor allem um eines:
Kontingente – in ihrer
Abstraktheit jedoch unfassbar und damit immer auch
fremd. Aber Flüchtlinge sind
vor allem Menschen, die
Not leiden und unfreiwillig
ihre Heimat verlassen,
oftmals sogar Traumatisches erlebt haben.
Darauf hat uns Angela
Merkel mit Vehemenz
hingewiesen. Zugleich hat
sie ein Statement gegen
die vorherrschende Politik
der Bequemlichkeit und
Abschottung abgegeben.
Für einmal hat sie den wirtschaftspolitischen Diskurs
in einen sozialpolitischen
verwandelt, der sich den
Menschenrechten und der
Nächstenliebe verpflichtet.
Mit ihrer «Willkommenspolitik» hat sie an das Gute
in uns appelliert und eine
Welle der Sympathie mit
den Menschen auf der
Flucht ausgelöst. Denn wie
wollen Flüchtende behandelt werden? Als Menschen
unter Menschen.
Doris Oberneder (43),
Leiterin Gestaltung und Bild,
Creative Director
Jesús Turiño (49) blickt auf die
verlassenen Häuserzeilen vor seinem Bürofenster, die nun Meter für
Meter niedergerissen werden. Die Allgemeine Baugenossenschaft Luzern (ABL)
realisiert an ihrer Stelle einen Neubau
mit 250 Wohnungen. Im vergangenen
Frühling mussten die letzten Bewohner
ihr Zuhause verlassen. Als Leiter Soziales
und Genossenschaftskultur bei der ABL
stellte Jesús Turiño darauf Künstlern und
Selbstdarstellern 60 leere Wohnungen
zur Verfügung.
Mehrere Wochen lang konnten sie
darin ihre Werke gestalten und während
eines viertägigen Abrissfests der Öffentlichkeit präsentieren. «Es war eine spon­
tane Idee. Ich hatte keine Ahnung,
wie sich die Sache entwickeln würde.»
Am Ende arbeiteten mehr als 200 Künstler in den Wohnungen. Dazu nutzten
Beizer die Wohnungen als provisorisches Restaurant, Musiker spielten darin
ihre Konzerte, und das Lokalradio sendete aus dem Keller. Die 80-jährige
Siedlung wurde in ihren letzten Tagen
zum Treffpunkt der ganzen Stadt.
Anstatt – wie so viele – bloss nach mehr
kulturellem Freiraum zu rufen, hat Jesús
Turiño einen geschaffen. Zumindest
für ein paar Tage.
Thomas Tobler (36), Redaktor Migros-Welt
Bilder.: PD, Dominik Butzmann/laif/Keystone, zVg (2), Renate Wernli,
Sophie Stieger, NDR/Thomas Pritschet
Christoph Homberger übt als Chorleiter
seit Herbst Schweizer Heimatlieder ein: mit
Eritreern, Syrern oder Afghanen und einigen
unterstützenden Einheimischen. Er will ein
Zeichen für die Integration setzen, aber auch
auf die prekäre Situation der Flüchtlinge aufmerksam machen. Jeden Montagabend probt
der Flüchtlingschor im Zürcher Kirchgemein­
desaal Aussersihl. Dirigent Homberger,
bekannter Solist in grossen Opernhäusern
und Spezialist für deutsches Liedgut, hilft
sogar mit, das grösste praktische Hindernis aus
dem Weg zu räumen: Die Flüchtlinge könnten
sich die An- und Rückreise mit den ÖV nie leisten.
Auf der Crowdfounding-Plattform Wemakeit
wurden gut 25 000 Franken dafür gesammelt.
Mit ein paar Tausend Franken mehr findet das
etwas andere Chorkonzert im Frühling statt.
Reto Meisser (44), Online-Redaktor
Anja Reschke (43) zeigte Mut. Die ARD-Modera-
torin hat in einem «Tagesthemen»-Kommentar gegen
die Ausländerhetze im Internet aufgerufen. «Diese
Hassschreiber müssen kapieren, dass diese Gesellschaft das nicht toleriert», sagte sie im August am Bildschirm. Mit einer Vehemenz, wie wir sie hierzulande
kaum kennen: «Dagegenhalten, Mund aufmachen.
Haltung zeigen, öffentlich an den Pranger stellen.» Sie musste mit einem Shitstorm grösseren Ausmasses umgehen. «Die Antifa-Nigger-Muslim-Zigeunerhure» nannte sie ein Unbekannter. Auf Facebook
& Co. schreiben Rassisten Sätze wie «Dreckspack,
soll im Meer ersaufen». Nur Nippelfotos werden
sofort gelöscht, Hetzkommentare bleiben oft stehen.
Sabine Lüthi (45), Leiterin Reportagen
20 | MM53, 28.12.2015 | MENSCHEN
Transsexualität
Ich bin Steffi
Das Thema in
einem neuen
Kinofilm:
«The Danish
Girl».
Sie wusste schon als Vierjährige, dass sie im falschen Körper
steckte. Doch erst nach einem jahrzehntelangen Versteckspiel
fand Stefanie Hetjens den Mut, sie selbst zu sein.
Text: Anne-Sophie Keller
Migrosmagazin.ch
Bild: Mara Truog
D
ass es nicht so weitergehen konnte, wurde Stefanie Hetjens bewusst, als sie im Zug sass. «Es war
ein Donnerstagabend nach einer
langen Woche. Ich war sehr, sehr müde.
Zu müde, um mich weiterhin zu verstellen.»
Das war am 13. September 2012. Sie schrieb
ihrer Psychologin, dass sie über etwas reden
müsse, das wohl mehr Zeit in Anspruch
nehmen werde als üblich, in den 60-minütigen Sitzungen.
Stefanie Hetjens wurde im Körper eines
Jungen geboren – und wusste schon bald:
Ich bin ein Mädchen. Die 32-jährige Werberin wuchs in der Nähe von Düsseldorf auf;
seit sechs Jahren lebt und arbeitet sie in
Zürich. Ihre Lebensgeschichte ist geprägt
von Verdrängung: «Schon mit vier Jahren
spielte ich die Rolle eines Mädchens. Meine
Oma mütterlicherseits sagte: Das darfst du
nicht. Du musst damit aufören, sofort.»
Zehn Jahre lang sprach Stefanie nie wieder
über das Thema. Erst mit 14 vertraute sie
sich ihrer Mutter an. «Sie sagte, das sei nur
eine Phase. Das war schlimm für mich.
Heute weiss ich, dass es keine böse Absicht
war. Sie hatte wohl einfach nur Angst vor
dem Unbekannten.»
Zu sehr auf die männliche Rolle fixiert
Innerlich zerrissen, stürzte sich Stefanie
Hetjens in die Arbeit. Sie trainierte sich
«männliche» Verhaltensmuster an,
zeigte sich stark und durchsetzungsfähig.
Bis sie sich selbst nicht mehr erkannte.
Mit 29 entschied sie sich für die Transition, die äusserliche Anpassung ihres
Geschlechts. Ihr erster Schritt: Kerzen kaufen. «Das war für mich ein enormes Bekenntnis. Ich war so sehr auf die männliche
Rolle fixiert gewesen, dass ich solche kleinen, für mich weiblichen Dinge nie getan
hätte – aus Furcht, ich könnte auffliegen.»
Nach und nach folgten weitere Schritte.
Das Coming-out vor den Eltern sei am
schwierigsten gewesen, sagt sie, denn als sie
ihr gespieltes Ich hinter sich liess, verlor die
Familie einen Sohn. «Eltern müssen sich Zeit
zum Trauern nehmen. Erst dann können sie
ihre neue Tochter willkommen heissen. Ich
glaube, mein Verhältnis zu meiner Mutter ist
jetzt besser. Wohl auch, weil es gut ausgegan-
gen ist, weil ich jetzt ich selbst bin.» Ihr Vater
habe sie sofort akzeptiert. «Vielleicht hat ihn
meine Grossmutter beeinflusst. Sie rief mich
trotz Demenz kein einziges Mal beim alten
Namen – ich war einfach ihre Enkelin.»
Hetjens Geschichte ist nicht so einzigartig, wie man vermuten könnte. Hollän­
dische Forscher haben herausgefunden,
dass einer von 200 Menschen sich nicht
heimisch fühlt im Körper, in dem er
geboren wurde. In der Schweiz dürften
es demnach etwa 40 000 Betroffene sein.
«Wer in der Schweiz sein neues Geschlecht im Pass vermerkt haben will,
braucht die Bestätigung der Diagnose
Transsexualität», sagt Udo Rauchfleisch.
Der klinische Psychologe und Psychotherapeut hat sich auf das Gebiet Transsexualität spezialisiert und viele Publikationen zum Thema geschrieben. «Viele
Zivilgerichte verlangen bei Transmenschen
immer noch Gebär- und Zeugungsunfähigkeit, ehe sie die Änderung des Personenstandes erlauben.» Sofern ein medizinisches
Gutachten vorliegt, übernimmt die
Krankenkasse die Kosten der Operation;
zum Teil wird das Mindestalter 25 verlangt.
«In meinem Pass steht noch mein alter
Name. In Deutschland brauchst du für die
Änderung des Vornamens zwei Atteste von
Psychologen. Diese offizielle Bestätigung ist
totaler Schwachsinn», sagt Stefanie Hetjens.
Auch sonst müssten Transmenschen einiges
preisgeben. Eine ständige Gratwanderung,
auch für Stefanie: «Wie viele Infos muss ich
teilen, damit ich verstanden werde? Wer ist
bloss neugierig, wer interessiert sich wirklich für mich? Diese Fragen stelle ich mir
ständig.» Schwierig werde es, wenn Leute
beispielsweise ungeniert fragten, mit wem
sie schlafe. «Das geht keinen etwas an.»
Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
Laut einer Studie der University of California haben 41 Prozent der Transmenschen in
den USA einen Suizidversuch hinter sich.
Hoffnungslosigkeit kennt auch Stefanie
Hetjens. Verschwunden sei diese erst,
nachdem sie sich für die Geschlechtsangleichung entschieden hatte. «Man muss sich
darüber im Klaren sein, dass einiges auf
einen zukommt. Ich habe mir damals über-
legt, ob meine Selbstverwirklichung es
wert ist, den Job zu verlieren oder auf der
Strasse ständig angestarrt zu werden.
Ich habe mich entschieden, dieses Risiko
einzugehen.»
Seither steht Hetjens eine spezialisierte
Psychologin zur Seite. Auch die Hormontherapie läuft. «In der Regel wird Testosteron geblockt und Östrogen hinzugefügt»,
sagt Udo Rauchfleisch. Östrogen fördert das
Brustwachstum und strukturiert den Fettanteil im Körper um: Die Hüfte wird breiter,
die Gesichtszüge verlieren das Kantige.
Auch Stefanie Hetjens bemerkt gewisse
Veränderungen: «Seither rieche ich beispielsweise anders, und ich habe eine
zartere Haut.» Zudem verändern sich die
Geschlechtsorgane.
Viele sind bereits nach der Hormoneinnahme zufrieden und lassen keine
geschlechtsangleichende Operation vornehmen. Andere wünschen dennoch
einen Eingriff. «Dabei wird aus dem Penisgewebe eine künstliche Vagina erstellt.
Diese muss dann ständig gedehnt werden,
damit die Öffnung nicht zuwächst. Für die
Empfindungsfähigkeit versetzt man Nerven
der Eichel in die neue Klitoris», erklärt
Udo Rauchfleisch.
Ein verständnisvoller Chef
Eng verknüpft mit ihrer Entscheidung sei
die Angst – sie sei ihre ständige Begleiterin.
Heute ist es die Angst, dass die Haare nicht
dicht genug wachsen. Früher war es die
Angst vor dem Ende der Karriere, die
sich jedoch als unbegründet erwiesen hat:
«Mein damaliger Chef unterstützte meinen
Weg zum Glück. Und im neuen Team bin
ich einfach Steffi.»
Ihr Dating-Alltag sei nicht weniger
kompliziert und nicht weniger einfach
als bei anderen. Manchmal müsse sie
ihr Gegenüber halt ein wenig aufklären.
Dass sie trotz ihrer breiten Schultern
und der 193 Zentimeter Körpergrösse gut
als Frau durchgeht, erleichtert ihr Leben
sehr. «Gestern war ich beim Take-away.
Die Kassiererin sagte bloss: ‹Sie sind
aber eine grosse Frau!›» MM
Unterstützung und weitere Informationen:
Verein Transgender Network Switzerland; www.tgns.ch
MENSCHEN | MM53, 28.12.2015 | 21
Stefanie Hetjens (32)
hat sich für eine
Geschlechtsangleichung
entschieden: Nun ist
sie auch äusserlich
eine Frau.