10 | MM53, 28.12.2015 | MENSCHEN «Ja, der Terror hat mit dem Islam und uns Muslimen zu tun», schrieb Saïda Keller-Messahli in der «SonntagsZeitung» nach den Anschlägen in Paris im November. Öffentliche Kritik am Islam – das ist ein Sakrileg für strenggläubige Muslime und für manche Linksdenkende ein Verstoss gegen die Political Correctness. Die in Tunesien geborene KellerMessahli schert sich nicht um solche Kategorien. Seit Jahren kämpft die Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, für eine moderne Auslegung des Korans und für die Emanzipation der Musliminnen. Und sie will noch mehr: weibliche Imame. Frauen könnten Gleichberechtigung in die Moscheen bringen, sich den Jungen anders nähern als Männer, meint die 58-Jährige. Mit solchen Aussagen weckt sie den Zorn mancher Muslime. Sich deswegen wegducken? Das kommt für die couragierte Frau nicht infrage. Remo Leupin (51), Produktionschef, Stv. Blattmacher MENSCHEN | MM53, 28.12.2015 | 11 Wer hat Sie beeindruckt? Erzählen Sie es uns! Migrosmagazin.ch Wie kann man behinderte Menschen integrieren? Seit Jahren diskutieren Politiker und Verbände, André Schäppi (54) tuts einfach: Seine Firma Sawi beschäftigt vier Handicapierte. Das bedeutet mehr Aufwand und manchmal weniger Gewinn. Doch der Firmeninhaber bezeichnet seine besonderen Mitarbeiter als Bereicherung. Yvette Hettinger (50), Redaktorin Reportagen Geld und Geist: Diese Dorfge schichte könnte der Feder Jere mias Gotthelfs entstammen. Nur heisst der Ort des Gesche hens nicht Liebiwyl, sondern OberwilLieli. In der reichen Aargauer Gemeinde kam es im Herbst zum Showdown zwischen SVPGemeindeammann Andreas Glarner und der smarten Sprach studentin Johanna Gündel. Der frisch gewählte Nationalrat wollte sich mit knapp 300 000 Franken von der Pflicht freikaufen, Flücht linge aufzunehmen. Doch er hatte seine kleinkrä merische Rechnung ohne Johanna von Oberwil gemacht. Sie, die sich im In und Ausland nicht weiter für ihre Herkunft schämen wollte, setzte sich in der Gemeindever sammlung durch: 176 stimmten für die Bedürftigen, nur 149 für den Kurs des Unternehmers Andreas Glarner. Dass Oberwil- Lieli seither nicht mehr als die kälteste Gemeinde der Schweiz gilt, haben die Bewohner dem Mut der 24-Jährigen zu verdanken. Jeremias Gotthelf würde froh locken: «Es ist doch schön auf der Welt – wo Liebe ist!» Peter Aeschlimann (38), Redaktor Reportagen Rückblick 2015 Menschen, die uns beeindruckt haben Bilder: Alessandro Della Bella/Keystone, zVg (3), Paolo Dutto Sie helfen Bedürftigen, fordern die Mächtigen heraus oder leisten ganz im Stillen Gutes: Menschen, die etwas bewegen. Ein persönlicher Jahresrückblick der Migros-Magazin-Redaktoren. Sennur Sümer (44) kriegte diesen Som mer die härtere Gangart der Zürcher Polizei zu spüren. Nach einer unbe willigten Flüchtlingsdemonstration wollte die Polizei einen Zug durch die Langstrasse verhindern. Die dreifache Mutter stellte sich mutig mit erho benen Händen vor die Polizei und wurde mit Pfeffer spray besprüht. Trotzdem sagte sie in einem Interview: «Die Schweiz ist und bleibt das Land, das meine Familie und mich aufgenommen hat und uns ein fried liches Leben ermöglicht.» Hans Schneeberger (56), Chefredaktor Mitte September in Athen: Für Rahel und Michael Räber aus Münsingen BE ist es der letzte Ferientag. Sie begegnen dem Elend der über die Türkei ankom menden Flüchtlinge, erfahren, dass der Bedarf an Hilfe auf Lesbos besonders gross ist. Täglich kommen Dutzende Boote mit Flüchtlingen an. Spontan entscheiden sie sich, ihre Ferien zu verlängern: Sie tragen auf Lesbos Kinder aus ankommenden Booten, versorgen Flüchtlinge mit Wasser, Nahrungs mitteln, Medizin. Räber und seine Frau sind beispielhaft für die Solidaritätswelle für Flüchtlinge, für die zahlreichen Helfer, die vor Ort anpacken, wo Hilfswerke und staatliche Stellen zu langsam sind. Daniel Schifferle (61), Verantwortlicher Ressort Leben 12 | MM53, 28.12.2015 | MENSCHEN Jean-Claude Biver ist nicht zu bremsen: Richter mit Herz: Die USA haben dieses Jahr die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Dank Richter Anthony Kennedy, der als Mitglied des Obersten Gerichts die entscheidende Stimme für das 5:4-Urteil lieferte. Dabei war es Ronald Reagan, der konservative Säulenheilige der republikanischen Partei, der Anthony Kennedy 1988 in den Supreme Court berief. Und ausgerechnet er, der übrigens mit der Präsidentenfamilie nicht verwandt ist, schliesst sich immer wieder mal seinen liberalen Richterkollegen an. So auch am 26. Juni 2015. «Keine Verbindung ist stärker als die der Ehe», schreibt er in seiner Begründung. «Sie symbolisiert die höchsten Ideale der Liebe, Treue, Hingabe, Aufopferung und Familie. Die Ehe ist ein Grundpfeiler unserer sozialen Ordnung.» Dies gelte für alle Menschen. Knapp zwei Dutzend Länder haben die Ehe für Schwule und Lesben geöffnet. Die Schweiz gehört nicht dazu und behandelt sie weiterhin als Bürger zweiter Klasse. Wie lange noch? Ralf Kaminski (46), Redaktor Reportagen Mitten in Winterthur steht ein öffentlicher Kühlschrank. Sellerie, Bohnen, Bananen, Peperoni und Mandarinen liegen drin. Wer den dreistelligen Code des Vorhängeschlosses anfragt, kann nehmen, was er oder sie braucht. Gratis. Das ist das Schöne an der Restessbar: Sie steht allen offen – unabhängig von Alter, Herkunft oder Einkommen. «Vertrauen hui, Polizei spielen pfui» lautet ihr Motto. 30 Freiwillige sammeln in Geschäften, bei Händlern oder Bäckereien Nahrungsmittel, die sonst weggeworfen würden. Mitgründerin ist die Winterthurerin Sarah Weibel (29, links). Mich beeindruckt ihr Einsatz gegen den Foodwaste. Reto Vogt (30), Online-Redaktor Der Chef der Marken TAG Heuer und Zenith ist so etwas wie das Schwungrad der Schweizer Uhrenindustrie. Das bewies er kürzlich wieder bei einem Auftritt in New York. Mit überbordendem Enthusiasmus präsentierte der 66-Jährige eine edle Smartwatch aus der Schweiz, die der Apple Watch Konkurrenz machen soll. Mich beeindruckt, dass der gebürtige Luxemburger unermüdlich Neues ausprobiert. Als Luxusuhren-Hersteller noch allenfalls Segelregatten und Golfturniere unterstützten, stieg er mit der Marke Hublot in grossem Stil ins FussballSponsoring ein. Und während andere die ewig gleichen Edelzeitmesser bauten, experimentierte er mit Gehäusen aus neuen Werkstoffen und liess sogar kratzfestes Gold entwickeln. Zugleich liebt er die traditionelle Uhrmacherei und glaubt an ihre Zukunft: «Eine bestimmte Technik mag im Augenblick modern sein, doch irgendwann ist sie überholt. Mechanische Uhrmacherei ist jedoch Kunst, und Kunst überdauert.» Ich hoffe, dass Biver der Schweizer Uhrenbranche noch lange erhalten bleibt – sie kann seine Leidenschaft und seine vielen Ideen gut brauchen. Michael West (52), Redaktor Migros-Welt Ein Samstag im November, Heimtur- nier für die Piccolos des Eishockeyclubs Illnau-Effretikon. Schiedsrichter Rico Rodi (12) hat sein Debüt. Im Herbst hat der Sechstklässler den Schirikurs absolviert. Drei Spiele à 30 Minuten, 8-, 9-,10-jährige Hockeyaner, auf einem Drittel Eisfeld. Hie und da ein verbotener Check: der Schiri pfeift. Letztes Spiel, letzte Spielminute, die Gäste sind im Hintertreffen. Ein Foul: der Schiri pfeift. Zwei Sekunden später die Sirene: Spielende. Doch der Schiri gibt den Penalty: Verschuss. Jubel bei den Siegern, lange Gesichter bei den Verlierern. Der Coach der Verlierermannschaft, ein bulliger Mittvierziger, eilt mit grossen Schritten übers Eis. Baut sich vor dem Schiri auf. Rudert mit den Armen. Brüllt. Was, geht in der Durchsage des Speakers unter. Der Schiri, trotz seiner Schlittschuhe einen Kopf kleiner, zieht den Kopf ein. Ein weiterer Coach eilt herbei, redet auf den Tobenden ein, zieht ihn vom Eis. Der Schiri verschwindet stumm in der Kabine. Kurz darauf steht Rico Rodi am Ausgang und wartet auf seine Eltern. Die Spieler ziehen an ihm vorbei: «Gut gemacht, Rico! – Supi, Schiri! – Cool, Rico!». Bald wird er sein zweites Turnier pfeifen. Er freue sich. Der Coach hat sich übrigens nachträglich entschuldigt. Almut Berger (48), Online-Redaktorin MENSCHEN | MM53, 28.12.2015 | 13 Lukas Bärfuss (43), Autor und letzter Citoyen. Man nannte Bilder: Bloomberg/Getty Images (2), Stephan Rappo, zVg, Trevor Clark/Red Bull Content Pool, SRF/Oscar Alessio, Daniel Winkler, Frédéric Meyer ihn «Extremist», «Wut schreiber», «Genug haber». Er wurde mit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt verglichen. Und er sorgte für den kontroversesten Artikel des Wahlherbsts. Am 15. Oktober veröffent lichte der Thuner Autor auf faz.de unter dem Titel «Die Schweiz ist des Wahnsinns» einen Gastbeitrag, der Wellen schlug. Auf fünf Seiten grub er eine tiefe Furche in die Gesellschaft. Auf den ersten Blick scheinen die drei Frauen Esther Schönmann (72, Mitte), Maja Neuenschwander (35, oben) und Daniela Ryf (28) keine Gemeinsamkeiten zu haben. Sie sind unterschiedlich alt, Esther Schönmann, die Randständigen in Langenthal BE hilft, ist körperlich ange schlagen. Maja Neuenschwander dagegen hat diesen Herbst in Berlin einen neuen Schweizer Rekord im Marathon aufgestellt und verbesserte ihre eigene Bestleistung um fast drei Minuten. Daniela Ryf gewann nur ein paar Wochen später den legendä ren Ironman auf Hawaii. Das ist im Triath lon mit einer Goldmedaille an Olympi schen Spielen vergleichbar. Die wirklichen Stärken der so unter schiedlichen Frauen zeigen sich aber gera de in deren Berührungspunkten: Schön mann, die «Heldin des Alltags» von Radio SRF 1, kämpfte gegen die Behörden, um ihre Ideen durchzusetzen. Sie hat wie die beiden Ausdauerathletinnen einen unbän digen Willen. Neuenschwander verzichte te auf den geliebten Kaffee und spulte Wo che für Woche bis zu über 200 Trainingski lometer ab, Ryf ist seit 2007 ProfiTriathle tin und wendet jeden Tag bis zu sieben Stunden für Schwimmen, Velofahren und Laufen auf. Alle drei hätten es mit ihren Ausnah meleistungen verdient, in der Öffentlich keit mehr wahrgenommen zu werden. Doch Marathon und Triathlon sind Rand sportarten und helfende Engel wie Esther Schönmann arbeiten gern im Hintergrund. Die drei Frauen erreichten ihre Ziele dank jahrelanger Planung, Konsequenz, Beharr lichkeit, Entbehrungen und ohne Getöse. Sie sind deshalb meine wahren Heldinnen. Reto E. Wild (47), Redaktor Reportagen Was dort zum Vorschein kam, stank Bär fuss gewaltig. Ein «Land von Zwergen» sei die Schweiz. Die Medien landschaft ohne Rück grat, die Politik mutlos, die Wirtschaft durch den Einkaufstourismus angeschlagen und die Zivilbevölkerung vor lauter populistischer Parolen verängstigt. Konkrete Verbesse rungsvorschläge lieferte Bärfuss keine, Verallge meinerungen einige. Über diese mit blinder Wut vorgetragenen Ver wünschungen liesse sich schwerlich debattieren, schrieb die NZZ am Fol getag. Doch genau das geschah. Von Roger Köppel bis hin zu Pedro Lenz war Bärfuss’ Text das Thema der Stunde. Man kann von Lukas Bärfuss halten, was man will. Doch er hat ein Land bewegt, das eine Debatte über die eigene Identität bitter nötig hat. Anne-Sophie Keller (26), Volontärin Reportagen 14 | MM53, 28.12.2015 | MENSCHEN Im vergangenen Jahr traf Fred Frohofer (52) Ich bewundere Burkhard Varnholt für sein Engagement für die Kids-of-Africa-Stiftung. Als Gründer und Betreiber eines Waisendorfes in Uganda setzt sich der Topbanker für Kinder ein. Den sportlichen Familienvater trifft man nicht an glamourösen Events, in schnellen Autos oder in einem Haus an der Goldküste, sondern am Rande eines Fussballfelds, auf dem Velo durch Zürich radelnd oder in Uganda, bei einem seiner zahlreichen Besuchen im Waisendorf. Weder Ebola noch die Eurokrise hielten ihn davon ab. Oft und gerne begleiten ihn dabei seine Ehefrau Salome Grisard und die beiden Söhne. Als Burkhard Varnholt 1999 einen Bettelbrief aus Uganda erhielt, antwortete er mit einem kleinen Scheck, um die darin beschriebene Notlage zu lindern. Aus diesem unerwarteten Kontakt entwickelte sich eine Briefbekanntschaft. Burkhard Varnholt reiste nach Uganda, um sich vor Ort ein Bild zu machen. 2004 gründete er den gemeinnützigen Verein Kids of Africa. Heidi Bacchilega (48), Projektleiterin Migros-Welt Rocco Umbescheidts (40) Motto lautet «Leben heisst handeln». Der «Aargauer des Jahres 2015» ist davon überzeugt, dass jeder mit seinem Handeln die Welt ein wenig besser machen kann. Seit 17 Jahren leistet der Lehrer ehrenamtlich humanitäre Hilfe in Nepal, baut Schulen und Häuser. Bei der Erdbebensoforthilfe im April 2015 koordinierte er Hilfsgüter für 36 000 Menschen. Anette Wolffram (50), Projektleiterin Migros-Welt eine mutige Entscheidung: Er kündigte seinen Job in der Medienbranche. Künftig setzt er seine ganze Energie für eine bessere Welt ein. Als Vorstandsmitglied des Vereins Neustart Schweiz engagiert er sich etwa für gemeinschaftliche Nachbarschaften, welche die Vision der 2000-WattGesellschaft übertreffen sollen. Als Co-Präsident der Baugenossenschaft NeNa 1 in Zürich arbeitet er an der Realisation dieser Utopie. Um über die Runden zu kommen, hat der ehemalige Redaktor seine Ausgaben massiv gekürzt. Er lebt in einer Einzimmerwohnung, trägt vorzugsweise Secondhand und ernährt sich vegan. Einkünfte erzielt er über Workshops rund um Ökologie. Andrea Freiermuth (43), Redaktorin Reportagen MENSCHEN | MM53, 28.12.2015 | 15 Wenn von «Flüchtlingen» die Rede ist, geht es vor allem um eines: Kontingente – in ihrer Abstraktheit jedoch unfassbar und damit immer auch fremd. Aber Flüchtlinge sind vor allem Menschen, die Not leiden und unfreiwillig ihre Heimat verlassen, oftmals sogar Traumatisches erlebt haben. Darauf hat uns Angela Merkel mit Vehemenz hingewiesen. Zugleich hat sie ein Statement gegen die vorherrschende Politik der Bequemlichkeit und Abschottung abgegeben. Für einmal hat sie den wirtschaftspolitischen Diskurs in einen sozialpolitischen verwandelt, der sich den Menschenrechten und der Nächstenliebe verpflichtet. Mit ihrer «Willkommenspolitik» hat sie an das Gute in uns appelliert und eine Welle der Sympathie mit den Menschen auf der Flucht ausgelöst. Denn wie wollen Flüchtende behandelt werden? Als Menschen unter Menschen. Doris Oberneder (43), Leiterin Gestaltung und Bild, Creative Director Jesús Turiño (49) blickt auf die verlassenen Häuserzeilen vor seinem Bürofenster, die nun Meter für Meter niedergerissen werden. Die Allgemeine Baugenossenschaft Luzern (ABL) realisiert an ihrer Stelle einen Neubau mit 250 Wohnungen. Im vergangenen Frühling mussten die letzten Bewohner ihr Zuhause verlassen. Als Leiter Soziales und Genossenschaftskultur bei der ABL stellte Jesús Turiño darauf Künstlern und Selbstdarstellern 60 leere Wohnungen zur Verfügung. Mehrere Wochen lang konnten sie darin ihre Werke gestalten und während eines viertägigen Abrissfests der Öffentlichkeit präsentieren. «Es war eine spon tane Idee. Ich hatte keine Ahnung, wie sich die Sache entwickeln würde.» Am Ende arbeiteten mehr als 200 Künstler in den Wohnungen. Dazu nutzten Beizer die Wohnungen als provisorisches Restaurant, Musiker spielten darin ihre Konzerte, und das Lokalradio sendete aus dem Keller. Die 80-jährige Siedlung wurde in ihren letzten Tagen zum Treffpunkt der ganzen Stadt. Anstatt – wie so viele – bloss nach mehr kulturellem Freiraum zu rufen, hat Jesús Turiño einen geschaffen. Zumindest für ein paar Tage. Thomas Tobler (36), Redaktor Migros-Welt Bilder.: PD, Dominik Butzmann/laif/Keystone, zVg (2), Renate Wernli, Sophie Stieger, NDR/Thomas Pritschet Christoph Homberger übt als Chorleiter seit Herbst Schweizer Heimatlieder ein: mit Eritreern, Syrern oder Afghanen und einigen unterstützenden Einheimischen. Er will ein Zeichen für die Integration setzen, aber auch auf die prekäre Situation der Flüchtlinge aufmerksam machen. Jeden Montagabend probt der Flüchtlingschor im Zürcher Kirchgemein desaal Aussersihl. Dirigent Homberger, bekannter Solist in grossen Opernhäusern und Spezialist für deutsches Liedgut, hilft sogar mit, das grösste praktische Hindernis aus dem Weg zu räumen: Die Flüchtlinge könnten sich die An- und Rückreise mit den ÖV nie leisten. Auf der Crowdfounding-Plattform Wemakeit wurden gut 25 000 Franken dafür gesammelt. Mit ein paar Tausend Franken mehr findet das etwas andere Chorkonzert im Frühling statt. Reto Meisser (44), Online-Redaktor Anja Reschke (43) zeigte Mut. Die ARD-Modera- torin hat in einem «Tagesthemen»-Kommentar gegen die Ausländerhetze im Internet aufgerufen. «Diese Hassschreiber müssen kapieren, dass diese Gesellschaft das nicht toleriert», sagte sie im August am Bildschirm. Mit einer Vehemenz, wie wir sie hierzulande kaum kennen: «Dagegenhalten, Mund aufmachen. Haltung zeigen, öffentlich an den Pranger stellen.» Sie musste mit einem Shitstorm grösseren Ausmasses umgehen. «Die Antifa-Nigger-Muslim-Zigeunerhure» nannte sie ein Unbekannter. Auf Facebook & Co. schreiben Rassisten Sätze wie «Dreckspack, soll im Meer ersaufen». Nur Nippelfotos werden sofort gelöscht, Hetzkommentare bleiben oft stehen. Sabine Lüthi (45), Leiterin Reportagen 20 | MM53, 28.12.2015 | MENSCHEN Transsexualität Ich bin Steffi Das Thema in einem neuen Kinofilm: «The Danish Girl». Sie wusste schon als Vierjährige, dass sie im falschen Körper steckte. Doch erst nach einem jahrzehntelangen Versteckspiel fand Stefanie Hetjens den Mut, sie selbst zu sein. Text: Anne-Sophie Keller Migrosmagazin.ch Bild: Mara Truog D ass es nicht so weitergehen konnte, wurde Stefanie Hetjens bewusst, als sie im Zug sass. «Es war ein Donnerstagabend nach einer langen Woche. Ich war sehr, sehr müde. Zu müde, um mich weiterhin zu verstellen.» Das war am 13. September 2012. Sie schrieb ihrer Psychologin, dass sie über etwas reden müsse, das wohl mehr Zeit in Anspruch nehmen werde als üblich, in den 60-minütigen Sitzungen. Stefanie Hetjens wurde im Körper eines Jungen geboren – und wusste schon bald: Ich bin ein Mädchen. Die 32-jährige Werberin wuchs in der Nähe von Düsseldorf auf; seit sechs Jahren lebt und arbeitet sie in Zürich. Ihre Lebensgeschichte ist geprägt von Verdrängung: «Schon mit vier Jahren spielte ich die Rolle eines Mädchens. Meine Oma mütterlicherseits sagte: Das darfst du nicht. Du musst damit aufören, sofort.» Zehn Jahre lang sprach Stefanie nie wieder über das Thema. Erst mit 14 vertraute sie sich ihrer Mutter an. «Sie sagte, das sei nur eine Phase. Das war schlimm für mich. Heute weiss ich, dass es keine böse Absicht war. Sie hatte wohl einfach nur Angst vor dem Unbekannten.» Zu sehr auf die männliche Rolle fixiert Innerlich zerrissen, stürzte sich Stefanie Hetjens in die Arbeit. Sie trainierte sich «männliche» Verhaltensmuster an, zeigte sich stark und durchsetzungsfähig. Bis sie sich selbst nicht mehr erkannte. Mit 29 entschied sie sich für die Transition, die äusserliche Anpassung ihres Geschlechts. Ihr erster Schritt: Kerzen kaufen. «Das war für mich ein enormes Bekenntnis. Ich war so sehr auf die männliche Rolle fixiert gewesen, dass ich solche kleinen, für mich weiblichen Dinge nie getan hätte – aus Furcht, ich könnte auffliegen.» Nach und nach folgten weitere Schritte. Das Coming-out vor den Eltern sei am schwierigsten gewesen, sagt sie, denn als sie ihr gespieltes Ich hinter sich liess, verlor die Familie einen Sohn. «Eltern müssen sich Zeit zum Trauern nehmen. Erst dann können sie ihre neue Tochter willkommen heissen. Ich glaube, mein Verhältnis zu meiner Mutter ist jetzt besser. Wohl auch, weil es gut ausgegan- gen ist, weil ich jetzt ich selbst bin.» Ihr Vater habe sie sofort akzeptiert. «Vielleicht hat ihn meine Grossmutter beeinflusst. Sie rief mich trotz Demenz kein einziges Mal beim alten Namen – ich war einfach ihre Enkelin.» Hetjens Geschichte ist nicht so einzigartig, wie man vermuten könnte. Hollän dische Forscher haben herausgefunden, dass einer von 200 Menschen sich nicht heimisch fühlt im Körper, in dem er geboren wurde. In der Schweiz dürften es demnach etwa 40 000 Betroffene sein. «Wer in der Schweiz sein neues Geschlecht im Pass vermerkt haben will, braucht die Bestätigung der Diagnose Transsexualität», sagt Udo Rauchfleisch. Der klinische Psychologe und Psychotherapeut hat sich auf das Gebiet Transsexualität spezialisiert und viele Publikationen zum Thema geschrieben. «Viele Zivilgerichte verlangen bei Transmenschen immer noch Gebär- und Zeugungsunfähigkeit, ehe sie die Änderung des Personenstandes erlauben.» Sofern ein medizinisches Gutachten vorliegt, übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Operation; zum Teil wird das Mindestalter 25 verlangt. «In meinem Pass steht noch mein alter Name. In Deutschland brauchst du für die Änderung des Vornamens zwei Atteste von Psychologen. Diese offizielle Bestätigung ist totaler Schwachsinn», sagt Stefanie Hetjens. Auch sonst müssten Transmenschen einiges preisgeben. Eine ständige Gratwanderung, auch für Stefanie: «Wie viele Infos muss ich teilen, damit ich verstanden werde? Wer ist bloss neugierig, wer interessiert sich wirklich für mich? Diese Fragen stelle ich mir ständig.» Schwierig werde es, wenn Leute beispielsweise ungeniert fragten, mit wem sie schlafe. «Das geht keinen etwas an.» Zwischen Verzweiflung und Hoffnung Laut einer Studie der University of California haben 41 Prozent der Transmenschen in den USA einen Suizidversuch hinter sich. Hoffnungslosigkeit kennt auch Stefanie Hetjens. Verschwunden sei diese erst, nachdem sie sich für die Geschlechtsangleichung entschieden hatte. «Man muss sich darüber im Klaren sein, dass einiges auf einen zukommt. Ich habe mir damals über- legt, ob meine Selbstverwirklichung es wert ist, den Job zu verlieren oder auf der Strasse ständig angestarrt zu werden. Ich habe mich entschieden, dieses Risiko einzugehen.» Seither steht Hetjens eine spezialisierte Psychologin zur Seite. Auch die Hormontherapie läuft. «In der Regel wird Testosteron geblockt und Östrogen hinzugefügt», sagt Udo Rauchfleisch. Östrogen fördert das Brustwachstum und strukturiert den Fettanteil im Körper um: Die Hüfte wird breiter, die Gesichtszüge verlieren das Kantige. Auch Stefanie Hetjens bemerkt gewisse Veränderungen: «Seither rieche ich beispielsweise anders, und ich habe eine zartere Haut.» Zudem verändern sich die Geschlechtsorgane. Viele sind bereits nach der Hormoneinnahme zufrieden und lassen keine geschlechtsangleichende Operation vornehmen. Andere wünschen dennoch einen Eingriff. «Dabei wird aus dem Penisgewebe eine künstliche Vagina erstellt. Diese muss dann ständig gedehnt werden, damit die Öffnung nicht zuwächst. Für die Empfindungsfähigkeit versetzt man Nerven der Eichel in die neue Klitoris», erklärt Udo Rauchfleisch. Ein verständnisvoller Chef Eng verknüpft mit ihrer Entscheidung sei die Angst – sie sei ihre ständige Begleiterin. Heute ist es die Angst, dass die Haare nicht dicht genug wachsen. Früher war es die Angst vor dem Ende der Karriere, die sich jedoch als unbegründet erwiesen hat: «Mein damaliger Chef unterstützte meinen Weg zum Glück. Und im neuen Team bin ich einfach Steffi.» Ihr Dating-Alltag sei nicht weniger kompliziert und nicht weniger einfach als bei anderen. Manchmal müsse sie ihr Gegenüber halt ein wenig aufklären. Dass sie trotz ihrer breiten Schultern und der 193 Zentimeter Körpergrösse gut als Frau durchgeht, erleichtert ihr Leben sehr. «Gestern war ich beim Take-away. Die Kassiererin sagte bloss: ‹Sie sind aber eine grosse Frau!›» MM Unterstützung und weitere Informationen: Verein Transgender Network Switzerland; www.tgns.ch MENSCHEN | MM53, 28.12.2015 | 21 Stefanie Hetjens (32) hat sich für eine Geschlechtsangleichung entschieden: Nun ist sie auch äusserlich eine Frau.
© Copyright 2025 ExpyDoc