Entdecken & Erleben Entdecken & Erleben Zu Gast bei MIO - dem Interkulturellen Maedchentreff im Leipziger Osten. Maedchen im Alter von sechs bis 21 Jahren koennen sich von Montag bis Freitag unter Anleitung und Hilfe von erfahrenen jungen Frauen treffen. Fotos: Volkmar Heinz „Hand in Hand durch die Welt“ Der Treff MiO im Leipziger Osten gibt Mädchen Raum und Zeit sie selbst zu werden Das riesige Poster (siehe Titelseite) haben die Mädchen selbst gemalt: Herzchen, Blumen, Sonnen, Regenbogen und in großen Lettern steht da „Hallo“ oder „Willkomen“ und immer wieder „BFF“ – best Friends forever. Mittendrin in dem fröhlichen Wirrwarr prangt eine rosa Burg, dick umrandetet, als müsse es selbst in dieser bunten Welt etwas Schützendes geben. Auf dem Gemäuer steht „MiO“. Den Schlüssel zur Burg hat Irene Köcher einstecken. Sie ist die Leiterin des MiO – Mädchen im Osten. Sie kommt in der Mittagszeit, schließt die Ladentür auf, geht in ihr kleines Büro, telefoniert mit Eltern oder Lehrern, checkt Mails, ordnet Papiere und Gedanken. Weg später treffen die ersten Mädchen ein: Ajan, Mirella , Dunja, Yasmin, Suna, Debora – kleine und größere, mit und ohne Schultasche, mit und ohne Kopftuch. Sie poltern herein, begrüßen einander, werfen die Rucksäcke beiseite – „Hallo Irene!“. Irene Köcher ist Diplom-Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin, seit November 2014 beim Soziokulturellen Zentrum Frauenkultur Leipzig angestellt und mit dessen Projekt MiO betraut. Seine Wurzeln hat MiO in einer kleinen Aktion 2010. Im Rahmen des Projektes „Lust auf Arbeit“ hatte die Frauenkultur in der Eisenbahnstraße 95 ein Schaufenster dekoriert. „Es sollte Mädchen einladen, darüber nachzudenken, dass es für sie mehr Berufe gibt als Friseurin und Floristin“, erzählt Christine Rietzke, die Geschäftsführerin der Frauenkultur. „Und tatsächlich blieben viele Mädchen und junge Frauen stehen und diskutierten. Da war klar: Hier muss ein Mädchentreff her.“ Die Frauen kämpften sich durch den üblichen Wust aus Anträgen. Mit der LWB, der das Haus Konradstraße 64 mit dem Laden im Erdgeschoss gehört, wurde ein Mietvertrag zum Preis von einem Euro pro Quadratmeter abgeschlossen. Ein Spendenaufruf brachte Möbel ins Haus, Computer, Geschirr, eine Nähmaschine und vieles mehr. Im Oktober 2013 öffnete der Mädchentreff, erst nur mittwochs, inzwischen immer von Montag bis Freitag. Möglich wurde dies durch die Unterstützung durch das BAMF und die Stadt Leipzig. Gegen drei ist es ruhig geworden im Mio. Hausaufgabenzeit. Irene und Christine sind nicht mehr die einzigen Frauen, die mit den Mädchen zusammensitzen. Junge Leipzigerinnen kommen und helfen. Die Studentin Franziska und die zehnjährige Mirella brüten über den Mathe-Hausaufgaben. Das Mädchen aus Rumänien hat gleich noch ihre kleine Schwester mitgebracht. Nach den Hausaufgaben bleiben entweder die Größeren oder die Kleineren zum Spielen, Basteln, Singen, zur Vorbereitung von Festen – oder einfach nur zum Quatschen. Aber selbst dieses Quatschen sollte auf Deutsch passieren. ANZEIGE 18 wohnzeit 1. Quartal 2015 Links: (Hausaufgaben) Studentin Franziska und die zehnjährige Mirella rechnen gemeinsam. Noch immer sucht MiO nach Frauen, die auch älteren Schülerinnen bei den Hausaufgaben in Mathe oder naturwissenschaftlichen Fächer helfen könnten. Rechts: Christine Rietzke, Leiterin der Frauenkultur in Leipzig Die Mädchen sollen unter sich sein Inzwischen ist auch Nasnas Sedik Rashid gekommen, mit zweien ihrer fünf Töchter und einem Nachbarskind. Die Juristin mit dem Kopftuch spricht Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Aserbaidschanisch und Sasa, eine persisch-türkische Sprache. Aber es sind weniger die muslimischen Mädchen, mit denen sie in deren Muttersprache redet. Die sollen ja Deutsch üben. Es sind vor allem deren Familien, denen sie als Vertrauensperson entgegentritt. „Ich begegne den Eltern mit dem Argument, dass ihre Töchter hier Hilfe bei den Hausaufgaben erhalten. Das ist ihnen so viel wert, dass sie ihre Besorgnis überwinden und sie herkommen lassen. Anfangs hatten sie Bedenken, wenn wir draußen gespielt haben. Inzwischen dürfen wir mit den Kindern sogar Ausflüge machen. Natürlich schauen sich Mütter erst alles an; manchmal sogar die Väter – aber die lassen wir nur ausnahmsweise rein und schicken sie dann schnell wieder heim.“ Die Mädchen sollen unter sich sein können. Selbst die Mütter werden von den MiO-Mitarbeiterinnen möglichst bald auf andere Angebote, wie etwa das Frauencafé hingewiesen. Auch Teenager Ajan ist froh, dass hierher, außer manchmal ihren Schwestern, niemand mitkommen darf. „Ich bin gerne im MiO. Ich komme nach der Schule hierher, mache Hausaufgaben. Es ist lustig hier. Manchmal versuche ich, meine Freundinnen zu überzeugen, mitzukommen. Und ich sage ihnen, dass sie hier auch mal ihr Kopftuch ablegen könnten.“ Ajan trägt auf der Straße keins und zeigt ihren wohnzeit 1. Quartal 2015 langen schwarzen Zopf. Aber in einen anderen Club, einem wo Jungs mitmachen, dürfte auch sie nicht gehen. Das Mädchen, das perfekt Deutsch spricht, kam mit ihrer Familie aus dem Libanon, als sie vier war. „Im Kindergarten war es nicht schlimm, dass ich kein Wort verstand. Wir haben ohne zu reden gespielt. In der Schule wurde es schwer.“ Ajan ging in eine DaZ-Klasse (Deutsch als Zweisprache), bevor sie in eine normale deutschsprachige Klasse wechseln konnte. Deutsch zählt nicht zu ihren Problemfächern, in denen sie die Hausaufgaben gerne mit Hilfe macht. Eher Englisch und Geografie. In Mathe ist sie gut. Einen Berufswunsch hat Ajan auch schon: „Ich weiß, dass das nichts für Mädchen ist, aber ich möchte trotzdem Autohändlerin werden.“ „So weit wie Ajan sind nicht alle der Mädchen“, erzählt Christine Rietzke. „Einige, besonders die kleinen, die neu in Deutschland sind, sitzen oft erst still dabei. Beim vierten oder fünften Mal nennen sie ihren Namen oder greifen nach einem Buntstift. Dann irgendwann gehören sie dazu und erzählen von sich. Auf irgendeinem Wege. Im Januar entstand ein kleines Schattenfigurenspiel dreier syrischen Mädchen. Da rollten Panzer und auf eine Demonstration wurde geschossen.“ Foto: Heinz Report Das MiO ist keine Insel der Glückseligkeit. Die Mädchen bringen nicht nur ihre Erlebnisse mit, sondern dieselben Vorurteile, die das Miteinander draußen kompliziert machen. „Dagegen müssen wir immer ansteuern“, erläutert Irene Köcher ihr Herangehen. „Wenn Aufgaben in Gruppen zu lösen sind, versuchen wir, dass Mädchen aus verschiedenen Ländern miteinander arbeiten. Oder ich schiebe die Zurückhaltenden in den Vordergrund.“ Die große Welt im kleinen erlebt Ehe alle auseinandergehen, treffen sie sich allabendlich zum MiO-Kreis. Reihum werden noch einmal Name und Alter gesagt. Dann wird das Thema vorgestellt. „Das können organisatorische Dinge sein, oder was wir uns für die Ferien vornehmen wollen. Da sind aber auch Probleme aus dem privaten Umfeld. Wir reden über Politik, darüber, dass in Leipzig Demonstrationen stattfinden und dass keiner die Religion eines anderen schlecht machen darf.“ Wenn Irene Köcher abends die MiO-Burg abschließt, hat sie die große Welt im Kleinen erlebt. Und doch ist ihr die MiO-Welt noch nicht groß genug: „Wir hoffen, dass auch noch Mädchen aus vietnamesischen oder afrikanischen Familien zu uns kommen. Einige haben das MiO einfach noch nicht entdeckt….“ Gleich neben der Tür hängt ein zweites Riesen-Bild: Dutzende bunte Handabdrücke und der Schriftzug „Hand in Hand durch die Welt“. Irene sagt: „Wir haben lange gemeinsam beraten, was dort stehen sollte.“ marlis heinz 19
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