MiO in wohnzeit am 09.03.2015

Entdecken & Erleben
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Zu Gast bei MIO - dem Interkulturellen Maedchentreff
im Leipziger Osten. Maedchen im Alter von sechs bis
21 Jahren koennen sich von
Montag bis Freitag unter
Anleitung und Hilfe von
erfahrenen jungen Frauen
treffen. Fotos: Volkmar Heinz
„Hand in Hand durch die Welt“
Der Treff MiO im Leipziger Osten gibt Mädchen Raum und Zeit sie selbst zu werden
Das riesige Poster (siehe Titelseite) haben die
Mädchen selbst gemalt: Herzchen, Blumen,
Sonnen, Regenbogen und in großen Lettern
steht da „Hallo“ oder „Willkomen“ und immer
wieder „BFF“ – best Friends forever. Mittendrin
in dem fröhlichen Wirrwarr prangt eine rosa
Burg, dick umrandetet, als müsse es selbst in
dieser bunten Welt etwas Schützendes geben.
Auf dem Gemäuer steht „MiO“.
Den Schlüssel zur Burg hat Irene Köcher einstecken. Sie ist die Leiterin des MiO – Mädchen im Osten. Sie kommt in der Mittagszeit,
schließt die Ladentür auf, geht in ihr kleines
Büro, telefoniert mit Eltern oder Lehrern,
checkt Mails, ordnet Papiere und Gedanken.
Weg später treffen die ersten Mädchen ein:
Ajan, Mirella , Dunja, Yasmin, Suna, Debora –
kleine und größere, mit und ohne Schultasche,
mit und ohne Kopftuch. Sie poltern herein,
begrüßen einander, werfen die Rucksäcke
beiseite – „Hallo Irene!“.
Irene Köcher ist Diplom-Sozialpädagogin und
Sozialarbeiterin, seit November 2014 beim Soziokulturellen Zentrum Frauenkultur Leipzig
angestellt und mit dessen Projekt MiO betraut.
Seine Wurzeln hat MiO in einer kleinen Aktion
2010. Im Rahmen des Projektes „Lust auf Arbeit“ hatte die Frauenkultur in der Eisenbahnstraße 95 ein Schaufenster dekoriert. „Es sollte
Mädchen einladen, darüber nachzudenken,
dass es für sie mehr Berufe gibt als Friseurin
und Floristin“, erzählt Christine Rietzke, die
Geschäftsführerin der Frauenkultur. „Und tatsächlich blieben viele Mädchen und junge
Frauen stehen und diskutierten. Da war klar:
Hier muss ein Mädchentreff her.“
Die Frauen kämpften sich durch den üblichen Wust aus Anträgen. Mit der LWB, der
das Haus Konradstraße 64 mit dem Laden im
Erdgeschoss gehört, wurde ein Mietvertrag
zum Preis von einem Euro pro Quadratmeter
abgeschlossen. Ein Spendenaufruf brachte
Möbel ins Haus, Computer, Geschirr, eine Nähmaschine und vieles mehr. Im Oktober 2013
öffnete der Mädchentreff, erst nur mittwochs,
inzwischen immer von Montag bis Freitag.
Möglich wurde dies durch die Unterstützung
durch das BAMF und die Stadt Leipzig.
Gegen drei ist es ruhig geworden im Mio.
Hausaufgabenzeit. Irene und Christine sind
nicht mehr die einzigen Frauen, die mit den
Mädchen zusammensitzen. Junge Leipzigerinnen kommen und helfen. Die Studentin Franziska und die zehnjährige Mirella
brüten über den Mathe-Hausaufgaben.
Das Mädchen aus Rumänien hat gleich
noch ihre kleine Schwester mitgebracht.
Nach den Hausaufgaben bleiben entweder
die Größeren oder die Kleineren zum Spielen, Basteln, Singen, zur Vorbereitung von
Festen – oder einfach nur zum Quatschen.
Aber selbst dieses Quatschen sollte auf
Deutsch passieren.
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wohnzeit 1. Quartal 2015
Links: (Hausaufgaben) Studentin Franziska und die zehnjährige Mirella rechnen gemeinsam. Noch immer sucht MiO nach Frauen, die auch älteren Schülerinnen bei den
Hausaufgaben in Mathe oder naturwissenschaftlichen Fächer helfen könnten. Rechts: Christine Rietzke, Leiterin der Frauenkultur in Leipzig
Die Mädchen sollen unter sich sein
Inzwischen ist auch Nasnas Sedik Rashid
gekommen, mit zweien ihrer fünf Töchter
und einem Nachbarskind. Die Juristin mit
dem Kopftuch spricht Arabisch, Türkisch,
Kurdisch, Aserbaidschanisch und Sasa, eine
persisch-türkische Sprache. Aber es sind
weniger die muslimischen Mädchen, mit
denen sie in deren Muttersprache redet. Die
sollen ja Deutsch üben. Es sind vor allem
deren Familien, denen sie als Vertrauensperson entgegentritt. „Ich begegne den Eltern
mit dem Argument, dass ihre Töchter hier
Hilfe bei den Hausaufgaben erhalten. Das
ist ihnen so viel wert, dass sie ihre Besorgnis
überwinden und sie herkommen lassen. Anfangs hatten sie Bedenken, wenn wir draußen gespielt haben. Inzwischen dürfen wir
mit den Kindern sogar Ausflüge machen.
Natürlich schauen sich Mütter erst alles an;
manchmal sogar die Väter – aber die lassen
wir nur ausnahmsweise rein und schicken
sie dann schnell wieder heim.“ Die Mädchen sollen unter sich sein können. Selbst
die Mütter werden von den MiO-Mitarbeiterinnen möglichst bald auf andere Angebote,
wie etwa das Frauencafé hingewiesen.
Auch Teenager Ajan ist froh, dass hierher, außer manchmal ihren Schwestern, niemand
mitkommen darf. „Ich bin gerne im MiO. Ich
komme nach der Schule hierher, mache Hausaufgaben. Es ist lustig hier. Manchmal versuche ich, meine Freundinnen zu überzeugen,
mitzukommen. Und ich sage ihnen, dass sie
hier auch mal ihr Kopftuch ablegen könnten.“
Ajan trägt auf der Straße keins und zeigt ihren
wohnzeit 1. Quartal 2015
langen schwarzen Zopf. Aber in einen anderen
Club, einem wo Jungs mitmachen, dürfte auch
sie nicht gehen. Das Mädchen, das perfekt
Deutsch spricht, kam mit ihrer Familie aus
dem Libanon, als sie vier war. „Im Kindergarten war es nicht schlimm, dass ich kein Wort
verstand. Wir haben ohne zu reden gespielt.
In der Schule wurde es schwer.“ Ajan ging in
eine DaZ-Klasse (Deutsch als Zweisprache),
bevor sie in eine normale deutschsprachige
Klasse wechseln konnte. Deutsch zählt nicht
zu ihren Problemfächern, in denen sie die
Hausaufgaben gerne mit Hilfe macht. Eher
Englisch und Geografie. In Mathe ist sie gut.
Einen Berufswunsch hat Ajan auch schon: „Ich
weiß, dass das nichts für Mädchen ist, aber
ich möchte trotzdem Autohändlerin werden.“
„So weit wie Ajan sind nicht alle der Mädchen“, erzählt Christine Rietzke. „Einige,
besonders die kleinen, die neu in Deutschland sind, sitzen oft erst still dabei. Beim
vierten oder fünften Mal nennen sie ihren
Namen oder greifen nach einem Buntstift.
Dann irgendwann gehören sie dazu und
erzählen von sich. Auf irgendeinem Wege.
Im Januar entstand ein kleines Schattenfigurenspiel dreier syrischen Mädchen. Da
rollten Panzer und auf eine Demonstration
wurde geschossen.“
Foto: Heinz Report
Das MiO ist keine Insel der Glückseligkeit.
Die Mädchen bringen nicht nur ihre Erlebnisse mit, sondern dieselben Vorurteile, die
das Miteinander draußen kompliziert machen. „Dagegen müssen wir immer ansteuern“, erläutert Irene Köcher ihr Herangehen.
„Wenn Aufgaben in Gruppen zu lösen sind,
versuchen wir, dass Mädchen aus verschiedenen Ländern miteinander arbeiten. Oder
ich schiebe die Zurückhaltenden in den Vordergrund.“
Die große Welt im kleinen erlebt
Ehe alle auseinandergehen, treffen sie sich
allabendlich zum MiO-Kreis. Reihum werden
noch einmal Name und Alter gesagt. Dann
wird das Thema vorgestellt. „Das können organisatorische Dinge sein, oder was wir uns
für die Ferien vornehmen wollen. Da sind aber
auch Probleme aus dem privaten Umfeld. Wir
reden über Politik, darüber, dass in Leipzig Demonstrationen stattfinden und dass keiner die
Religion eines anderen schlecht machen darf.“
Wenn Irene Köcher abends die MiO-Burg
abschließt, hat sie die große Welt im Kleinen erlebt. Und doch ist ihr die MiO-Welt
noch nicht groß genug: „Wir hoffen, dass
auch noch Mädchen aus vietnamesischen
oder afrikanischen Familien zu uns kommen.
Einige haben das MiO einfach noch nicht
entdeckt….“ Gleich neben der Tür hängt ein
zweites Riesen-Bild: Dutzende bunte Handabdrücke und der Schriftzug „Hand in Hand
durch die Welt“. Irene sagt: „Wir haben lange
gemeinsam beraten, was dort stehen sollte.“
marlis heinz
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