Vortrag - Deutsch-Russischer Wirtschaftsclub eV

Zur Krise mit Russland – Hat die Diplomatie versagt?
Vortrag von Botschafter a. D. Frank Elbe
am 16.März 2016
im Deutsch-Russischen Wirtschaftsclub
in Düsseldorf
Zur Krise mit Russland fällt mir ein Spruch von Voltaire ein:
„Die Welt ist ein einziges, großes Tollhaus, in dem Irre andere Irre an die Kette legen.“
•
Wir haben Krieg in Europa, einen Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West.
•
Wir haben einen Bürgerkrieg in der Ukraine.
•
Die USA und die EU führen einen Handelskrieg gegen Russland und umgekehrt.
•
Beide Seiten belegen sich gegenseitig mit Sanktionen.
•
Die Politik greift zu Mitteln der Ausgrenzung und Gesprächsverweigerung.
•
Die Gesellschaft wird eingedröhnt durch den Schlachtenlärm eines verwirrenden
Propagandakrieges.
•
Die Beziehungen zwischen der westlichen Staatengemeinschaft und Russland sind
erschüttert.
Eine katastrophale Entwicklung – sie war Anfang der 90er Jahre nicht vorherzusehen.
Damals wurde eine historisch einzigartige Leistung erbracht: der Kalte Krieg wurde beendet, ohne
auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern.
Es war ein Ergebnis beharrlicher, mutiger, im Wesentlichen deutscher Außenpolitik gewesen.
Wir haben in den 60er Jahren die politische Strategie der NATO mitbestimmt und haben sie wie
kaum ein anderer Bündnispartner konsequent befolgt.
Die NATO hatte 1967 als politische Strategie vorgegeben:
„Es ist das höchste Ziel der Allianz, eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in Europa zu
schaffen“.
Um dieses Ziel zu erreichen, fuhr man zweigleisig:
•
Wir brauchten einerseits eine ausreichende militärische Sicherheit und
•
andererseits eine Politik von Zusammenarbeit, Abrüstung und Entspannung.
Diese Strategie war das erfolgreichste Kapitel in der Geschichte des 20 Jahrhunderts.
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Sie führte
• zur vollständigen Vernichtung der nuklearen Mittelstreckenwaffen,
•
zur Wiedervereinigung Deutschland und
•
zu den großen Veränderungen in den Ost-West-Beziehungen und
•
zum neuen Aufbau Europas.
Die Staats- und Regierungschefs der 34 KSZE-Staaten, jetzt OSZE besiegelten im November 1990
in Paris feierlich das Ende des Kalten Krieges.
In der "Charta für ein neues Europa" erklärten sie, dass das "Zeitalter der Konfrontation und der
Teilung Europas" durch ein "neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit" abgelöst
werde.
Es gab aber auch mehr als nur Euphorie und Feierlichkeit.
Die Mitgliedsstaaten der NATO, des Warschauer Paktes und der OSZE gingen Verpflichtungen ein,
nämlich
1. sich gegenseitig nicht mehr als Gegner zu definieren, sondern als Partner, die gewillt sind
einander die Hand zur Freundschaft zu reichen,
2. nach gemeinsamen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu suchen,
3. die Sicherheitsinteressen eines jeden zu berücksichtigen, und
4. anzuerkennen, dass Sicherheit unteilbar ist, und die Sicherheit eines Partners untrennbar mit
der aller anderen verbunden ist.
Es bestand der feste Wille, mit der Sowjetunion in eine Ära kollektiver Sicherheit einzutreten.
Vielen, auch amerikanischen Politikern, schien diese Entwicklung „unumkehrbar“ und
„unvermeidbar“.
Die Administration von Präsident Bush begnügte sich, in dieser neuen Weltordnung „second to
none“ zu sein – nicht mehr.
Ich konnte mir in den frühen 90er Jahren nicht vorstellen, im Frühjahr 2014 – 25 Jahre nach dem
Fall der Mauer und im 100. Jahr des Ausbruchs des I. Weltkriegs – eine solche Fehlentwicklung
vorzufinden, wie wir sie jetzt haben.
Wir sind allen guten von allen guten Geistern verlassen worden.
Wir haben eine Lage, in der Bedrohung und absurdes, gefährliches Theater nahe bei einander
liegen.
Das heutige Drama besteht darin, dass der lange mühsame Weg, aus der Konfrontation über eine
Politik der Zusammenarbeit zu mehr Sicherheit zu gelangen, ja einen Zustand des Friedens zu
erreichen zu wollen, verlassen werden könnte oder bereits verlassen worden ist.
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Einige Partner des Westens machen schon seit geraumer Zeit klar, dass in dem von Gorbatschow
beschworenen „europäischen Haus“ kein Zimmer für Russland frei ist, dass Russland von der
„dauerhaften und gerechten Friedensordnung in Europa“ besser ausgeschlossen wäre.
Tom Friedman, einer der bedeutenden amerikanischen Journalisten, befand schon 2008 kritisch:
„Wir erwarten von Euch Russen, dass Ihr Euch wie eine westliche Demokratie verhaltet, aber wir
werden Euch behandeln als wäret Ihr weiterhin die Sowjetunion. Der Kalte Krieg ist für Euch
vorbei, aber nicht für uns“.
Europa und Deutschland wären schlecht beraten, den Weg der Zusammenarbeit mit Russland nicht
zu Ende zu gehen.
Noch schlimmer wäre es, Ideen amerikanischer Neokonservativer nachzugeben und Russland
einhegen oder ausgrenzen zu wollen.
Hat die Politik in der Russlandkrise versagt?
•
Ja! Politik, Diplomatie,- aber auch Medien und Gesellschaft - haben auf großer Breite
versagt, nicht nur erst seit Beginn der Ukrainekrise, sondern schon in den letzten 20 Jahren.
•
Es ist aber auch richtig, dass die Diplomatie wieder in die Gänge gekommen ist und
Lösungen sogar in greifbarer Nähe zu sein scheinen.
Die Kardinalfehler westlicher Politik waren und sind:
1. Sie ist ihren Prinzipien nicht treu geblieben.
2. Wie von Blindheit geschlagen fehlt ihr der Respekt für die nuklearen Gefahren des
Konflikts.
3. Das Handeln des Westens wird nicht von der in einer Krise gebotenen Empathie bestimmt.
4. Die USA agieren in ihrer Außenpolitik orientierungs- und führungslos.
Stehen sie noch zu der Schaffung einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung in
Europa? Welche Agenda haben sie überhaupt für Europa?
5. Die westliche Außenpolitik missachtet geopolitische Gesetzmäßgikeiten.
***
3
Wenn sich nun die Situation in der Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg zwischen zwei
Großmächten – nuklearen Großmächten - ausgeweitet hat, wundere ich mich als früherer Diplomat,
wie wenig befürchtet wird, ob dies nicht alles in einem nuklearen Krieg enden könnte.
Russland und die USA halten sich faktisch immer noch mit der Strategie der „gegenseitig
gesicherten Vernichtung“ - „Mutually Assured Destruction“ – abgekürzt mit „MAD“ - in Schach;
„Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.
Die möglichen Folgen einer nuklearen Auseinandersetzung liegen auf der Hand.
Der deutsche Philosoph Günther Anders folgerte, dass sich der Satz „Alle Menschen sind sterblich“
fortentwickelt hat: „Die Menschheit als Ganzes ist tötbar!“.
Ein anderer deutscher Philosoph, Peter Sloterdyk, leitete aus der Existenz der wechselseitigen
Bedrohung Handlungsmaximen für die Politik ab:
„Die Bombe ist längst kein Mittel zu einem Zweck mehr, denn sie ist das maßlose Mittel, das jeden
möglichen Zweck übersteigt. - Haben wir sie gebaut, um uns zu „verteidigen“, hat sie uns in
Wahrheit eine beispiellose Wehrlosigkeit eingebracht. - .Die einzige Frage bleibt, ob wir den
äußeren Weg wählen oder den inneren – ob die Einsicht aus der Besinnung kommen wird oder aus
den Feuerbällen über der Erde“.
Michael Stürmer, ein eher konservativer Historiker und Journalist, versteht nukleare Waffen als
Instrumente politischer Strukturbildung,
„denn sie erzwingen Selbstbeschränkung und Souveränitätsverzicht sowie ein hohes Maß an
Berechenbarkeit und Vertrauensbildung. Wer diese Grundtatsache menschlicher Existenz vergisst,
handelt bei Strafe des Untergangs.“
Die auf dem Gleichgewicht des Schreckens beruhende „Strategie der gegenseitig gesicherten
Vernichtung“ stützt sich auf eine unrealistische Annahme.
Sie geht davon aus, dass sich die Parteien im Umgang mit ihren nuklearen Kapazitäten immer
rational verhalten werden.
Aber kann ein ausschließlich vernünftiges Verhalten als gesichert angesehen werden?
Gesichert ist nur die totale Zerstörung, wenn die Parteien sich irrational verhalten.
Bisher gelang es, die Risiken des Einsatzes nuklearer Mittel zu reduzieren, wenn auch nicht völlig
auszuschalten.
Durch die Kuba-Krise haben wir gelernt, den Abstand zwischen dem Knopf, der den Nuklearschlag
auslöst, und den Daumen, der den Knopf drückt, möglichst groß zu halten.
Bildlich gesprochen legten wir durch eine jahrzehntelange Politik der Vertrauensbildung,
Abrüstung, Entspannung und Zusammenarbeit eine Matratze nach der anderen zwischen Daumen
und Knopf.
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Das war und ist der wahre Kern der Entspannungspolitik.
Es war diese Politik, die schließlich die Berliner Mauer zum Einsturz brachte.
Das nukleare Zeitalter legt uns eine große Verantwortung auf, nachfolgenden Generationen mehr zu
hinterlassen als nur die Verwaltung der Folgen einer verfehlten Politik, wie uns der deutschamerikanische Philosoph Hans Jonas riet.
Mir scheint aber, dass wir in den letzten Jahren eine Matratze nach der anderen weggeräumt und das
nukleare Risiko erhöht haben.
***
Das Management der Kuba-Krise war hohe Staatskunst, ein Lehrstück für die politische Führung.
Kennedy setzte alles daran, eine nukleare Konfrontation zu vermeiden, insbesondere von dem
Augenblick an, als die Militärs ihn aufklärten, dass mit etwa 70 Mio. Toten in den USA zu rechnen
sei, was sie billigend in Kauf zu nehmen schienen.
Er folgte danach unbeirrt den Empfehlungen des englischen Militärhistorikers Liddell Hart:
„Bleib stark, wenn möglich. Bleib auf jeden Fall „cool“. Sei unbegrenzt geduldig. Treibe niemals
einen Gegner in die Ecke und hilf ihm immer, sein Gesicht zu wahren. Stell Dich in seine Schuhe,
um die Dinge durch seine Augen sehen zu können. Vermeide Selbstgerechtigkeit wie den Teufel.
Nichts blendet Dich mehr.“
Kennedy machte gebotene Empathie, jener zum zivilisatorischen Grundbestand der Politik
gehörenden Fähigkeit, sich in den anderen, auch den Gegner, hineinversetzen zu können, zur
Grundlage seiner Verhandlungen mit Chruschtschow.
Mir scheint, das im Umgang mit Russland „Empathie“ nicht mehr zum politischen Vokabular des
Westens gehört.
Stattdessen gibt es neue Kampfbegriffe in der aktuellen Politik: „Russenlandfreund“ und
„Putinversteher“.
Ich verstehe das inzwischen als eine Art von KZ-Winkel, der all denjenigen angeheftet wird, die
versuchen, die Empfindlichkeiten der russischen Seite nachzuzeichnen oder auch eigenes
Fehlverhalten zu analysieren.
Das Wort „verstehen“ ist die sprachliche Wurzel für viele gute Begriffe: Verstand, Verständigung,
Verständnis.
Verstehen heißt nicht, alles zu übernehmen, alles nachzusehen oder alles zu verzeihen.
In sicherheitspolitischen Fragen hat das Verständnis da aufzuhören, wo der Verlust eigener
Sicherheit droht.
Es kommt nicht darauf, irgendjemanden zu verstehen, sondern die eigenen Sicherheitsinteressen
richtig einordnen zu können.
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Es geht um meine Sicherheit, die meiner Familie, meiner Stadt, meines Landes und meines
Kontinents.
Aber auch derjenige gefährdet die eigene Sicherheit, der von vornherein ausschließt, sich in die
Befindlichkeit eines anderen Menschen, einer anderen Gesellschaft oder einer anderen Nation zu
versenken.
Damit schränkt er die Möglichkeiten der politischen Analyse ein.
Ein Raunen der Erleichterung ging 2009 durch die Münchener Sicherheitskonferenz, als
Vizepräsident Biden die neue amerikanische Politik verkündete, „in den Beziehungen mit Russland
den Wiederaufnahmeknopf zu drücken“, und das Projekt eines in Polen und Tschechien zu
stationierende Raketenabwehrsystems aufzugeben.
Präsident Obama hatte ein neues, von Empathie bestimmtes Kapitel in der amerikanischer
Außenpolitik aufgeschlagen.
Sie machte ihn zum neuen Hoffnungsträger und verschaffte ihm den Friedensnobelpreis.
Aber dann verabschiedete sich Präsident Obama gegen Ende seiner ersten Amtsperiode lautlos von
seiner Politik –
•
ohne weitere Erklärung, und
•
ohne Konsultation mit Amerikas Verbündeten.
Es schien, als habe er sich innenpolitischen Zwängen unterworfen, um das aus seiner Sicht
wichtigere Projekt der Gesundheitsreform in trockene Tücher zu bringen, wozu er die
entsprechenden Mehrheiten im Kongress brauchte.
Der Neokonservativismus nahm fortan Einfluss auf die Außenpolitik der USA.
Er ist eine für Amerikaner verführerische Ideologie, weil sie unerschütterlich von der
Vormachtstellung der USA in der Welt ausgeht.
In ihr anti-russisches Weltbild boshaft verstrickt bestimmten Neokonservative die geistige
Ausrichtung der Außenpolitik Amerikas gegenüber Europa.
Sie wandelten völlig ungehemmt mit lodernden Fackeln durch Heuscheunen,
Es mangelt ihnen an Erfahrung im Management des Ernstfalls und es fehlt ihrer Kampfrhetorik der
gebotene Respekt vor den grenzenlosen Möglichkeiten der nuklearen Zerstörung und
Selbstzerstörung.
Leider fanden sie willige Nachahmer unter deutschen Politikern und Journalisten.
Es war ein großer Fehler des amerikanischen Präsidenten, Victoria Nuland im US State Department
die Verantwortung für die Beziehungen zu Europa und Eurasien zu übertragen und sie letztlich in
allem gewähren zu lassen.
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Victoria Nulands zielstrebiger Plan sah vor,
•
die ausschließliche Kontrolle über die Lage in der Ukraine zu übernehmen,
•
den von ihnen aufgebauten Kandidaten Jazeniuk durch einen Staatsstreich in das Amt des
Ministerpräsidenten zu hieven und
•
den amtierenden Staatspräsidenten Janukowitsch zu verjagen,
•
schließlich – wenn möglich - auch einen Regimewechsel in Russland zu versuchen.
Präsident Obama gestand die amerikanische Verstrickung in den Putsch im Februar 2014 selbst
gegenüber der CNN ein, dass „der von den USA „vermittelte Deal zur Regierungsumbildung in der
Ukraine“ Putin aus dem Gleichgewicht gebracht habe“.
Die Operation Ukraine geriet zum Fiasko, weil die Entschiedenheit der russischen Reaktion einfach
nicht ins Kalkül gezogen wurde.
Ein scheußlicher Betriebsunfall des State Departments, einer von vielen.
In der Krimkrise hat dann schließlich Putin dem Westen gezeigt, „wo der Hammer hängt“, indem er
die Krim kassierte
Der Westen verurteilte sein Vorgehen übereinstimmend als Annexion fremden Staatsgebietes, als
eine Vergewaltigung des Völkerrechts.
Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler stellte hierzu fest:
„Putin hat mit der Annexion der Krim im März 2014 und seinem offensiven Vorgehen in der
Ostukraine de facto die Unterschrift Gorbatschows unter die Charta von Paris annulliert.“
So etwas sagt man, wenn man den Bruch der Beziehungen zu Russland rechtfertigen will – auch um
den Preis des Bruchs eigener Prinzipien und der Missachtung eingegangener Verpflichtungen.
Das kann doch wohl so einfach nicht sein.
Richtig ist, einen Bruch des Völkerrechts als solchen zu rügen.
Es geht nicht darum, Putin von seiner Verantwortung freizustellen.
Aber jedwede andere Reaktion muss die mehrjährige Vorgeschichte der Krise und die
amerikanische Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine in Rechnung stellen.
Jedwede Reaktion sollte auch die Grundsätze berücksichtigen, die Max Weber vor nahezu 100
Jahren zur Verantwortungsethik in der Politik entwickelt hat.
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In den USA weisen schon seit Mitte 2014 Think Tanks, prominente Wissenschaftler, Journalisten,
ehemalige Diplomaten und hohe Ex-CIA-Mitarbeitern die Hauptverantwortung für die Entstehung
des Konfliktes der amerikanischen Administration zu.
Sie habe angenommen, dass „die Logik der Realpolitik im 21. Jahrhundert nicht mehr erheblich
sei“.
Putin habe schon früh und wiederholt gewarnt, dass mit der Integration der Ukraine in die westliche
Einflusssphäre eine rote Linie überschritten werden würde.
In der Tat hatte Außenminister Lawrow im Februar 2007 den US-Botschafter Burns förmlich
einbestellt und ihm die russischen Befürchtungen mitgeteilt,
„dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine “das Land möglicherweise in zwei Hälften teilen
würde, was zum Ausbruch von Gewalt oder sogar zu einem Bürgerkrieg führen könnte, der
Russland u. U. zwingen würde, eine Entscheidung über eine Intervention zu treffen.“
Die Bündnispartner sind über diese Demarche nicht unterrichtet worden.
Sie durften den Bericht des US-Botschafters Burns erst Jahre später in Wikileaks zur Kenntnis
nehmen.
„Stellen Sie sich einmal den Aufruhr in Washington vor“, regte Professor Mearsheimer in
FOREIGN Affairs an, „wenn China eine eindrucksvolle militärische Allianz aufbauen und Kanada
und Mexiko als Mitglieder gewinnen wollen würde“.
Ich habe einige Fragen in diesem Zusammenhang:
1. Wäre es schlimm gewesen, die russische Regierung mit ihren Sorgen vor einer
Umzingelungspolitik ernst zu nehmen, die Sorgen wegen des geplanten Aufbau eines
Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien und der Kündigung des ABM-Vertrages
ernst zu nehmen, ihre Kritik wegen des Zuwachses an militärischer Präsenz – überwiegend
nicht von der NATO veranlasst – ernst zu nehmen ?
2. Würde Putin die Krim übernommen haben, wenn das US-State Department Jazeniuk nicht
durch seinen Putsch auf den Schild gehoben hätte, Jazeniuk nicht sofort zwei rechtsradikale, russlandfeindliche Minister ernannt hätte, er nicht sofort die Beschränkungen der
russischen Sprache verfügt hätte und es keine Befürchtungen hinsichtlich des russischen
Flottenstützpunkt in Sewastopol hätte geben müssen?
3. Wie würden die USA in Putins Lage gehandelt haben?
Geht es überhaupt um das Völkerrecht, die Ukraine oder die Krim?
Geht es nicht vielmehr
8
•
erstens um eine machtpolitische Rangelei zwischen den USA und Russland, neue
Einflusssphären in Europa zu schaffen bzw. alte zu behaupten, und
•
zweitens um eine heftige innenpolitische Auseinandersetzung in den USA über die
grundsätzliche Ausrichtung der amerikanischen Politik gegenüber Russland und Europa, bei
der die Europäer bestenfalls die Rolle von Zaungästen haben?
Großmächte haben in Fragen der nationalen Sicherheit entschieden eigene Vorstellungen, was recht
und unrecht ist.
Für sie war und ist der Respekt vor dem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen eine Frage der
politischen Nützlichkeit.
Sie sind typische Tit-for-Tat Spieler, die ihre Beziehungen nach dem Prinzip „Wie Du mir, so ich
Dir!“ gestalten, ohne besondere Rücksicht auf die Belange Dritter zu nehmen.
Die USA und Russland stehen in einer langen Tradition des Ziehens „roter Linien“, wobei es
überwiegend um die Verteidigung von Einflusssphären ging.
Für die USA war die Stationierung sowjetischer Raketen in Kuba der Klassiker unter den „roten
Linien“.
Und die Russen zogen eine „rote Linie“, als ihnen aus ihrer Sicht die NATO zu dicht auf den Pelz
rückte, wobei sie lange Zeit große Geduld bewiesen haben.
Kissinger hat Anfang 2016 in Moskau darauf hingewiesen, dass ein Land, durch das seit
Jahrhunderten fremde Armeen marschiert sind, seine Sicherheit notwendigerweise sowohl auf
geopolitische als auch auf rechtliche Grundlagen stellt:
„Wenn seine Sicherheitsgrenze von der Elbe 1000 Meilen Richtung Moskau verlegt wird, erhält
Russlands Auffassung von einer Weltordnung eine unausweichliche strategische Komponente.“
Es geht nicht darum, Putin von einem völkerrechtlichen Fehlverhalten freizustellen, sondern sich
vor einer überzogenen gesinnungsethischen Anwendung des Rechts als Mittel der Politik zu hüten,
insbesondere, wenn – wie es scheint – die Gesinnungsethik für einen Politikwechsel herhalten soll.
***
Die Lösung der Krise ist nicht durch einen rechtlichen Disput zu erreichen.
Bei einem Wasserrohrbruch ruft man den Klempner, wenn das Haus nicht volllaufen soll, und nicht
den Rechtsgutachter.
Diplomatie ist Reparaturunternehmen und keine internationale Winkeladvokatur.
Sie hat die Aufgabe, Spannungen zu vermeiden, Konflikte zu lösen und Frieden zu stiften.
Sie muss sich fragen: „Wie wollen wir in Zukunft mit Russland umgehen?“
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Wir sollten daran arbeiten, dass Russland seinen Platz in der euroatlantischen Gemeinschaft bald
wieder einnehmen kann.
Die Aufgabe besteht darin, die gegenwärtigen Turbulenzen aufzulösen und ein neues multipolares
und globalisiertes Gleichgewicht zu schaffen.
Dabei gilt im eigenen sicherheitspolitischen Interesse des Westens zu beachten:
•
Es wird für Europa und die USA keine Sicherheit gegen Russland, sondern nur mit Russland
geben.
•
Das erfordert Respekt
Empfindlichkeiten.
•
Umgekehrt können wir erwarten, dass Russland die aus der europäischen Geschichte
stammenden Sorgen und Ängste seiner westlichen Partner ernst nimmt und mit dazu
beiträgt, sie abzubauen.
•
Niemand kann Russland, eine Großmacht mit enormen wirtschaftlichen Ressourcen, eben
nicht nur eine Regionalmacht, ohne Nachteile für sich selbst isolieren.
vor
berechtigten
russischen
Sicherheitsinteressen
und
***
„Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik. Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit von
Politik“, sagt Henry Kissinger.
Konrad Adenauer hat den Abgeordneten im Deutschen Bundestag einmal in seiner
unnachahmlichen rheinischen Art erklärt:
„Meine Damen und Herren, die Lage ist so wie sie ist. Wir haben keine andere.“
Auch Putin gehört zur Lage, wie sie ist – wir haben keinen anderen.
Wahrscheinlich ist es sogar so, dass wir keinen Besseren haben, aber durchaus einen sehr viel
Schlechteren bekommen könnten.
Entgegen dem allgemeinen Trend halte ich Putin für einen begabten, berechenbaren Politiker.
Er zählt zu den sogenannten „Sabadniki“ – den Westlern in Russland -, und wir sind gut beraten,
seine europäische Ausrichtung wieder zu erkennen und zu nutzen.
Wie seine Vorgänger Jelzin und Gorbatschow hat Putin immer auf eine Partnerschaft mit dem
Westen gesetzt, insbesondere mit der EU und der NATO.
Aber auch Präsident Putin hat innenpolitische Zwänge zu beachten.
Das ist nicht nur ein Privileg des Westens.
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Es gibt seit der Zeit des Zaren Peter der Große eine Spaltung Russlands in fortschrittliche, westlich
orientierte Reformer und orthodoxe Slawophile.
Dieser Grundkonflikt ist mit dem Fall der Berliner Mauer nicht aufgehoben worden.
Hans Dietrich hat 1987 beim Weltwirtschaftsforum in Davos aufgefordert, „Gorbatschow ernst zu
nehmen, ihn beim Wort zu nehmen“.
Auf Genscher ging ein „shitstorm“ nieder, aber die Geschichte hat ihm recht gegeben.
Was spricht dagegen, „Putin ernst zu nehmen, ihn beim Wort nehmen“ und das Bild „von einem
muskelprotzenden Despoten mit hegemonialen, den Weltfrieden gefährdenden Ambitionen“
einzufrieren?
Was spricht dagegen, mit der russischen Führung in einen substantiellen Dialog einzutreten, um
gemeinsam das Potential auszuloten, wie Sicherheit und Zusammenarbeit verbessert werden
können?
Wir brauchen die Zusammenarbeit mit Russland, und die Teilnahme Nordamerikas an einer solchen
Zusammenarbeit würde für alle Beteiligten mehr Synergien schaffen, als wenn sich die USA
verweigern würden.
Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit im Kooperationsraum von Vancouver bis Wladiwostok würde
hohes Wachstum erzeugen; sie könnte für alle Beteiligten nur vorteilhaft sein.
Die USA sollten allerdings bedenken, dass sie die Europäer nicht davon abhalten können, diesen
Weg u. U. auch allein zu gehen.
Der Umgang mit Russland hat respektvoll zu sein und muss den eigenen politischen
Wertvorstellungen entsprechen.
Es wäre schon viel erreicht, wenn man der Verpflichtung zur Friedensförderung dadurch Rechnung
trägt, dass man nachdenkt, bevor man etwas tut oder etwas sagt, auch darüber nachdenkt, ob das
eigene Verhalten nicht Fehleinschätzungen auslösen kann.
Was die durch Medien und Politik zusammengehauenen monströsen Verzerrungen des Konfliktes
angeht, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben in Deutschland das Gefühl gehabt, dass man
mich nicht „informieren“, sondern „umerziehen“ will.
***
Ich bin prinzipiell Gegner von Sanktionen.
Wenn sie nötig sind, sollten sie wirken, nicht unrechtmäßig sein und vorzugsweise vom
Sicherheitsrat der VN beschlossen werden.
Allerdings: Wer Sanktionen verhängt, muss mit Gegensanktionen rechnen.
Das schiebt den Zeitpunkt, an dem man sich ohnehin wieder an den Verhandlungstisch setzen muss,
unkontrollierbar lang hinaus.
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Wirtschaftsbeziehungen – solange sie noch intakt sind – fördern gerade in Krisensituationen die
Einsicht zu raschen Anstrengungen, Konflikte wieder zu lösen.
***
Die Krise hat in der russischen Gesellschaft Enttäuschung und Verärgerung hervorgerufen.
Russen um die 40 Jahre und jünger fühlen sich als die Verlierer der Geschichte.
Das reflektiert nicht nur seine Sorge, dass ihm die NATO zu nahe auf den Pelz rücken könnte.
Dahinter steckt auch Enttäuschung und Verärgerung, dass das Vertrauen auf eine partnerschaftliche
Zusammenarbeit mit dem Westen nicht gerechtfertigt war, dass ein Vierteljahrhundert von
Anstrengungen keine Früchte getragen haben.
So denken Russen in allen politischen Lagern, wo immer man sie trifft, als Freunde, Kollegen,
Geschäftspartner und Touristen.
So etwas muss man ernst nehmen.
Was die kriechende Russophobie angeht sollte man auch bedenken, dass wir dadurch Russland und
seine Menschen auch verlieren können.
Zu den bittersten Enttäuschungen der Russen gehört das Thema Osterweiterung der NATO.
Ich habe nur eine kurze Bemerkung zu machen.
Im Februar 1990 warb US-Außenministers Baker gegenüber Gorbatschow in Moskau für die
Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO.
Er fragte Gorbatschow wörtlich:
„Würden Sie ein wiedervereintes Deutschland außerhalb der NATO und ohne US-Streitkräfte, dafür
vielleicht mit eigenen Atomwaffen, lieber sehen oder ziehen Sie ein vereintes Deutschland vor, das
in die NATO eingebunden ist, während gleichzeitig gewährleistet ist, dass die NATO ihr Territorium
um keinen Zentimeter in Richtung Osten ausweitet?“
Gorbatschow nahm Baker ernst.
2 Tage später schon - beim Besuch von Helmut Kohl in Moskau - erteilte er seine Zustimmung zur
deutschen Einheit.
Gegen die Nato-Erweiterung spräche überhaupt nichts, wenn wir uns gemeinsam mit Russland in
ein kollektives Sicherheitssystem einbinden, uns entsprechend der Absichten der 90er Jahre nicht
als Gegner betrachten und die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten respektieren würden.
Nur unter diesen Bedingungen werden wir im nuklearen Zeitalter sicher, nur unter den
Bedingungen der Kooperation, nicht unter den Bedingungen der Konfrontation.
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***
Die gegenwärtige amerikanische Außenpolitik bereitet mir erhebliches sicherheitspolitisches
Ungemach.
Bei den USA bin ich mir seit längerem nicht mehr sicher, ob unsere außenpolitischen Ziele noch
übereinstimmen.
Wir wünschen uns ein starkes Europa, das sinnvoll mit Russland und den USA zusammenarbeitet.
Ich bin ziemlich überzeugt, dass die Amerikaner ihrerseits kein allzu großes Interesse an einem
überstarken Europa haben und somit auch nicht an einem allzu intensiven wirtschaftlichen
Schulterschluss zwischen Europa und Russland.
Vor einigen Monaten beherrschten die abstrusen Vorstellungen von George Friedmann, dem Chef
der Denkfabrik STRATFOR die neokonservative Diskussion:
Weil Deutschland und Russland die einzigen Mächte seien, die das amerikanische Imperium
bedrohen könnten, müssten die USA
„einen Korridor aus Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien schaffen, der
sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt, um Deutschland und Russland voneinander
abzuschneiden und zu verhindern, dass sich deutsches Kapital und deutsche Technologien
einerseits und russische Rohstoffe und billige russische Arbeitskräfte andererseits zu einer
einzigartigen Kombination verbinden.“
Ich halte George Friedman für einen Spinner.
Es macht mir aber Sorgen, dass es sich um einen grundsätzlichen neokonservativen Entwurf für
eine Politik der USA in Europa handelt, unabhängig davon, in welchem sicherheitspolitischen
Zustand Europa sich gerade befindet, ein Entwurf, der auf die Zerstörung der Bindungen zwischen
Russland und Deutschland, auf die Spaltung Europas abzielt, der sich mit vielem deckt, was die
USA gegenwärtig denken und tun.
Europa ist kein Vorhof der USA.
Es ist unser Kontinent.
Wir Europäer haben über unser Schicksal zu entscheiden.
***
Die Ukraine ist ein gebeuteltes Land, das kurz vor einem Bankrott steht.
Die Menschen dort verdienen, was ihnen seit ihrer Unabhängigkeit versagt blieb:
Eine Aussicht auf Entwicklung, Wohlstand, Stabilität, und Frieden.
Nur eine konsolidierte Neutralität kann die Zukunft der Ukraine sichern.
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Es geht jetzt nicht um absolute Zufriedenheit, sondern um ausbalancierte Unzufriedenheit, wie es
Henry Kissinger beschrieben hat.
Das Land ist auf die Bindung sowohl an den Westen wie an Russland angewiesen.
Es hat keine Aussicht auf eine Entwicklung ohne Russland.
Es sollten keine Illusionen aufkommen:
Der Westen wird nicht bereit sein, die wirtschaftlichen Schäden der Ukraine, die aus einem Bruch
mit Russland mit Russland entstünden, zu übernehmen.
Es ist nach dem EU Gipfel in Riga auch klar, dass die Ukraine noch lange auf einen Beitritt zur EU
warten muss.
Eine einigermaßen zufriedenstellende Lösung ist nur zu erreichen, wenn eine künftige ukrainische
Verfassung stärker als bisher einen föderalen Charakter, zumindest aber tragfähige
Autonomieregelungen erhält, so wie das im Minsk 2 Abkommen vorgesehen ist.
Je besser der Westen sich mit Russland versteht, umso mehr würde die Ukraine davon profitieren.
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Gibt es Licht am Ende des Tunnels?
Ich war nicht mit allem einverstanden, was Frau Merkel in der Russlandkrise gesagt und getan hat.
Positiv bleibt hängen:
Sie hat zu keinem Zeitpunkt den Dialog mit Putin aufgegeben.
Sie hat den Minsk II Prozess mit großem Nachdruck gefördert.
Sie hat dazu beigetragen, dass Obama die Lieferung von „tödlichen Waffen“ an die Ukraine
gestoppt hat.
Sie zeigte Mut und Klarheit in der Auseinandersetzung mit dem rüden Senator John McCaine
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Mir scheint, dass es mit dem Minsk 2 Prozess vorangeht und ich wünsche mir sehnlich, dass
Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier als diesjähriger Vorsitzender der OSZE das
Verhältnis zu Russland wieder in trockene Tücher bringen.
Es besteht Anlass zu vorsichtigem Optimismus, dass bis zum Sommer eine tragfähige Lösung
gefunden werden kann, die ein Ende der Sanktionen einschließen würde.
Ich danke Ihnen
Frank Elbe, Botschafter a. D., Rechtsanwalt, Publizist; geboren 1941 in Iserlohn; verheiratet.
Studium der Rechtswissenschaft in Innsbruck und Bonn, beide juristische Staatsprüfungen. 1971 bis
2005 im diplomatischen Dienst. Überwiegend mit Ost-West Beziehungen, Sicherheits- und
Abrüstungspolitik befasst. 1987 bis 1992 Leiter des Ministerbüros im Auswärtigen Amt. Verhandler
bei den Zwei-plus-Verhandlungen über die Einheit Deutschlands. Redenschreiber für
Außenminister Genscher. 1990 Ernennung zum Botschafter zur besonderen Verwendung und Leiter
des Leitungsstabes. 1992 Ernennung zum Ministerialdirektor und Leiter des Planungsstabes im
Auswärtigen Amt. 1993 bis 2005 Botschafter in Indien, Japan, Polen und der Schweiz. Seit 2006
Rechtsanwalt in Bonn; in Zusammenarbeit mit Kanzlei Kubicki & Schöler in Kiel. Anschrift: FritzSchröder-Ufer 38, 53111 Bonn, E-Mail: [email protected]
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