Marianne Mispelaere You know what I don`t tell Wir befinden uns in

Marianne Mispelaere
You know what I don’t tell
Wir befinden uns in einer Ausstellung, die weniger eine Ausstellungen sein will, sondern eher
eine Studiosituation. Marianne Mispelaere will mit ihren Arbeiten nicht den Eindruck
erzeugen, dass ihre Bildwerke etwas festhalten, was doch immer nur in der Dauer des Lebens
im Fluss sein kann.
You know what I don’t tell Wir kennen, was Marianne Mispelaere nicht sagt. Ist das so?
Sprache ist das System, mit dem wir uns untereinander und in der Welt orientieren. Das ist
selbstverständlich und wird irritiert, wenn wir die Unzuverlässigkeit in der Verständigung
merken: Streit, Missverständnis, Lüge, Täuschung oder etwas kommt gar nicht erst zur
Sprache. Damit müssen wir leben und es prägt unser Zusammenleben.
Es gibt eine unausgesprochene Vorannahme der Sprache, dass sie in der Lage ist das ganze
Inventar der Wirklichkeit abzubilden. Mit jedem Wort können wir auf etwas zeigen, das das
Wort bezeichnet, und wir halten die Sprache in dieser Hinsicht für zuverlässig. Der Nachteil
dabei ist, dass jedes Wort eine Verallgemeinerung ist, die dem, was es bezeichnet, das
Einzigartige und Besondere nimmt zugunsten von Wiedererkennbarkeit. Wenn wir aber
registrieren, dass die Welt überhaupt nur aus Einzigartigkeiten besteht, dann wird das Ausmaß
der Unterschlagung deutlich, und die Frage nach den Regeln der Sprache wird zur
Machtfrage. Sie beginnt mit der Frage: Was ist das?“ Und die Antwort ist ein
Sprachterritorium mit Eigentümern und Nutznießern, die jeden ausschließen, der das nicht
akzeptiert.
Wir können aber auch anders fragen: „Was geschieht?“ Dann geht es um alle Beteiligten
eines Geschehens und ihre Beziehung zueinander, die vor allem sprachlich vermittelt wird.
Unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit, Wahrheit, Sinn, Freiheit, was auch immer, sind
Ergebnisse der sprachlichen Gemeinschaft.
Sprache als Zeichensystem der Beziehungen ist für Marianne Mispelaere der Ausgangspunkt.
So fangen wir gleich von Anfang an anders zu fragen. Es gibt nicht die Frage, ob Marianne
Mispelaere eine Künstlerin ist. Diese Frage klärt doch nur die Zugehörigkeit zur art
community. Es gibt nicht die Frage, ob wir in einer Ausstellung sind. Diese Frage macht
Kunst auch nur zu einem Separée. Ich zitiere weder Roland Barthes noch Gilles Deleuze noch
Antoine de Saint-Exupéry noch Albert Camus oder sonst jemanden, um Marianne Mispelaere
nicht zu einem Epigonen des Strukturalismus oder der Semiotik zu machen. Marianne
Mispelaere zeigt Bildwerke ihrer Auseinandersetzungen, denen wir begegnen. Wir können
uns selbst damit auseinandersetzen oder reaktionslos wieder gehen. So oder so, entscheidend
ist die Frage: Was geschieht?
Bibliothek
Wie jeder Mensch hat Marianne Mispelaere hat im Laufe der Zeit Vorstellungen, Gedanken,
Bilder angesammelt und das alles bildet so etwas wie ihre Bibliothek, ihr Gedächtnis, das sie
selbst ist. Ausdruck und Inhalt verschmelzen hier zu einer assoziativen Gesamtheit der
Zeichen. Eine solche Bibliothek ist keine Aneinanderreihung von Dokumenten, sondern eine
Evolution des Gedächtnisses, das sich aus den Beziehungen entwickelt. Wenn wir die
Wirklichkeit für den Stand der Aussagen halten, mystifizieren wir die Wirklichkeit.
Das Gemeinsame und das Ausschließen
Wir alle erinnern uns an den arabischen Frühling. Das war ein solches Medienereignis, das
schlichtweg nicht zu übersehen war. Berichte, Kommentare, Bilder brachen in unseren
Lebensalltag ein, als habe der arabische Frühling in unseren Wohnzimmern stattgefunden.
Überall machte sich ein Hochgefühl breit. Die arabischen Länder hatten die Fesseln ihrer
Unterdrückung abgeschüttelt und das nicht mit Gewalt sondern mit den Mitteln digitaler
Technik. Man möchte meinen, dass Bill Gates der Superheld des arabischen Frühlings war.
Was wir hier für die Wirklichkeit halten, beziehen wir aus den Massenmedien. Der arabische
Frühling ist vorbei und der arabische Winter ist eingezogen. Der arabische Frühling ist
aussortiert, weil über ihn in den Medien nicht mehr gesprochen wird. Es ist kalt. Marianne
Mispelaere hängt inhaltsleeres Papier wie weggeworfene und verwehte Zeitungen in die
Bäume in einer Winterlandschaft. Dort hängen sie gleichgültig, passiv und sinnlos. Die Natur
reißt, knittert, zernagt Stoffliches. Wir sind an einem anderen Ort.
Identität No return
Fingerabdrücke sind ein unverwechselbares Zeichen der Einzigartigkeit eines Menschen. Sie
dienen aber nicht der Freude an der Einzigartigkeit, sondern der Kontrolle über jeden
Einzelnen. Der bürokratische Sinn von Fingerabdrücken bedeutet: „erfasst“. Ein
Kontrollsystem erzwingt die Beziehung zur Identität der Menschen und das bedeutet: „Egal,
wo Du bist, das System weiß es und kann Deiner habhaft werden“. In Calais verbrennen
Migranten daher ihre Fingerkuppen. Damit wollen sie der Identifizierung entgehen und ihre
Identität als Mensch behalten. Marianne Mispelaere hat ihre eigenen Finger mit
Bleistiftstrichen versehen und Abdrücke auf Papier hinterlassen. Das sind keine
Fingerabdrücke oder Handlinien. Eine individuelle Handlung wird in stetiger Wiederholung
zu Nicht-Identität des Erfassbaren.
Gesten: Silent Slogan
Stellen Sie sich vor, ich stehe hier vor Ihnen und schlage das Kreuz über Sie. Oder aber ich
begrüße Sie mit dem Hitlergruß. Oder ich winke Ihnen zu wie Queen Elisabeth. So oder so,
Sie würden sofort verstehen und können sich Ihre Reaktion vorstellen. Marianne Mispelaere
hat Gesten gesammelt. Einige können wir unmittelbar verstehen andere nicht. Es kommt
darauf an, dass die jeweilige Gemeinschaft von Menschen es unmittelbar versteht. Entlang
von Bildern aus dem Internet kann man die Gesten verschiedener Menschen sehen, die
unmittelbar von ihrer Umgebung ausgeführt und verstanden werden. Z.B. die Zeichen, die
sich Menschen an der Wallstreet geben. Wenn ich nicht verstehe, was diese Zeichen sein
sollen, dann bin ich ausgeschlossen. Das Zeichen „ich ergebe mich“ versteht wohl jeder. Bei
den Protesten nach der Erschießung eines Farbigen durch einen weißen Polizisten heißt die
Geste des „ich ergebe mich“ zugleich „welche Geste kann ein Farbiger den ausführen, um
nicht erschossen zu werden?“. Gleiche oder ähnliche Gesten bedeuten in unterschiedlichen
Gemeinschaften nicht das Gleiche. Z.B. gekreuzte Fäuste zeigen an: „wir wollen kämpfen“
oder „wir verweigern die Anerkennung einer Wahl“. Marianne Mispelaere hat die Blätter
übereinander gehängt, so dass der Betrachter selbst eine Geste ausführen muss, wenn er sehen
will.
Video meeting separation
Was geschieht, wenn wir etwas von einem anderen unterscheiden? Es ist eine Handlung, die
wir verrichten, eine Ordnungstätigkeit. Was geschieht, wenn wir etwas wahrnehmen? Wir
können es gar nicht abbilden, wir machen es zu etwas anderem, das in unserer Vorstellung
einen Sinn ergibt. Marianne Mispelaere sitzt an einem Tisch zwischen zwei Papierstapeln. Ein
Blatt wird genommen und mit einem Pinselstrich versehen. Das Blatt wölbt sich und flacht
wieder ab, wie ein Ein- und Ausatmen. Dann wird das Blatt zu den Akten gelegt und ein
neues genommen. So etwa machen wir das. An jedem Phänomen verrichten wir die Tätigkeit
der Unterscheidung und sortieren es ein in der Ablage „Gedächtnis“.
Das Rauschen der Sprache
Sprache ist hörbar und im Gespräch wechselseitig hörbar. Das Gehörte kann man in
Schallwellen aufzeichnen und die Frequenzen geben Auskunft über das Gehörte. Marianne
Mispelaere hat zuvor aufgenommene Gespräche übersetzt in Linien, die einen
Gesprächsverlauf zeigen. Rede und Antwort sind durch die Linienrichtungen erkennbar. Es
gibt Unterbrechungen der Linien, die die Augenblicke des Nicht-Sprechens anzeigen.
Gesprächsverläufe erhalten so ihr eigenes Bild. Das Geschehnis des Sprechens ist damit keine
akustische Aufzeichnung von Frequenzen sondern eine Verlaufsform von Verständigung.
Dabei sind es hier nicht die Inhalte des Gesprächs, die den Verlauf bestimmen. Wenn wir uns
verständigen, dann wechseln nicht einfach Gesprächsinhalte den Besitzer. Ein Gespräch ist
der Verlauf einer Begegnung, die Marianne Mispelaere sichtbar macht.
white water
Es gibt keine Gleise, auf denen wir reibungslos fahren können und das für unser Leben halten.
Worauf unser Leben hinaus läuft, weiß niemand. Dieses Unbestimmte nennen wir gerne
Schicksal oder Zufall. Gleichzeitig merken wir immer auch etwas Lenkendes, das uns auf
einen Kurs bringt, von dem wir nicht so genau wissen, was es ist und ob wir das so überhaupt
wollen. Marianne Mispelaere erinnert das an Moby Dick. Ein Walfänger zieht aus und die
Mannschaft weiß nicht, dass sie das Schicksal von Kapitän Ahab erfüllt. Es kommt vor, dass
gerade niemand da ist und wir keinen Einfluss fühlen können. Wir leben einfach weiter und
fühlen uns selbst, unsere Vorstellungen und Gedanken.
Eine Hand ist sichtbar, eine Hand auf die Regen fällt. Irgendjemand geht durch den Regen
und gibt den Weg vor, aber sehen kann man nur die Hand, die von wer weiß wem weiter
durch den Regen geführt wird. Die Hand wird von Gedanken, Marianne Mispelaeres
Gedanken, begleitet. Geschehen und Gedanken bilden zusammen Form und Sprache als
Poesie der Absichtslosigkeit.
Die Wirklichkeit sind wir in Strömen von Vorstellungen, Sichtweisen und Gedanken, die
ineinander fließen, auseinander driften und sich verändern. Die Landkarte unserer
Wirklichkeit ist davon durchzogen und bildet Verdichtungen und leere Stellen heraus. Diese
Ströme versinken nicht einfach in einem Privatleben eines Einpersonenhaushalts, als könne es
einen beziehungslosen Ort geben. Unsere Vorstellungen nehmen Gestalt an in der Beziehung
zu anderen. Es mag sein, dass der Ansturm von Vorstellungen von außen und der Andrang
von Gefühlen von innen einem den Eindruck vermittelt den Halt im Leben zu verlieren. Es
gibt aber nur die Menschen, die da sind, wir sind die Wirklichkeit und sind es wert als
öffentliche Angelegenheit betrachtet zu werden.
Beatrice Büchsel